Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Neuntes Kapitel.

Eine Verhaftung

»Jesus, Jesus,« rief Lachtäubchen, als sie bei sich zu Hause wieder eintraten, »es ist ja ein Polizeikommissar mit seinen Leuten da.« – Und kaum waren sie ins Haus getreten, als sich der an seiner Schärpe kenntliche Herr mit ernstem, strengem Gesicht ihnen nahte. – »Hier wohnt doch der Steinschneider Hieronymus Morel?« lautete die Frage, die er ihnen stellte. – »Jawohl, Herr Kommissar,« antwortete an ihrer Statt die aus ihrer Loge tretende Frau Pipelet. »So führen Sie mich zu ihm!« befahl der Kommissar kurz, gebot seinem Sergeanten, das Haus scharf zu bewachen, den Flur nicht zu verlassen und einen Wagen holen zu lassen.

Als er mit der Pförtnersfrau die Treppe hinaufging, wandte sich Rudolf an ihn, in der Erwartung, es mit einem humanen Beamten zu tun zu haben . . . »Ich weiß ja nicht, Herr, welch neuer Schlag dem armen Manne droht; gestern ist ihm ein Kind an Hunger und Kälte vor den Augen gestorben, und in der verwichenen Nacht ist er von einer sehr schweren Prüfung heimgesucht worden: es handelte sich um einen von ihm ausgestellten Wechsel, infolgedessen er in Schuldhaft abgeführt werden sollte; nur durch eine mildtätige Person ist er hiervon erlöst worden. Soll die arme Familie etwa schon wieder ihres Ernährers beraubt werden?«

»Nicht ihn betriffts heute,« versetzte der Kommissar kurz, »sondern seine Tochter . . . er hat doch eine Tochter, die Luise heißt?« – »Das Mädchen?« rief Rudolf erschrocken, »und wessen klagt man sie an?« – Der Kommissar maß ihn mit scharfem Blicke; dann sagte er: »Ich glaube, daß den Mann unverdientes Elend trifft; aber er wird all seine Stärke vonnöten haben, den neuen Schlag zu ertragen, der ihm droht: seine Tochter ist des Kindesmordes angeklagt.« – »Luise? Was sagen Sie? O Gott, ihr armer Vater!« rief Rudolf, tief ergriffen. – »Ich muß meiner Pflicht gehorchen,« sagte der Kommissar, die weitere Unterhaltung abschneidend, »das Mädchen ist denunziert worden, und zwar von einem in jeder Hinsicht achtbaren und vertrauenswürdigen Herrn . . .« –

»Von wem?« fragte Rudolf hastig. – »Von dem Herrn, der bisher ihr Brotgeber war,« versetzte der Kommissar, Frau Pipelet folgend, die schon ein ganzes Stück vorausgeeilt war. – »Vom Notar Ferrand?« rief Rudolf empört. – Der Kommissar nickte, Rudolf aber rief, außer sich vor Entrüstung: »Ha, dieser Schurke!« – »Ich muß Sie darauf aufmerksam machen,« versetzte der Kommissar barsch, »daß Sie von einem unserer achtbarsten Mitbürger nicht in solcher herabwürdigenden Weise sprechen dürfen. Ich kann nur annehmen, daß Sie über ihn gänzlich falsch unterrichtet sind, denn sonst müßte ich Sie auf der Stelle zur Rechenschaft ziehen.« – »Sie haben recht, Herr Kommissar,« sagte Rudolf, »und es erfüllt mich mit Bedauern, in einem vielleicht völlig begründeten Unwillen vergessen zu haben, daß hier nicht der Ort und der gegenwärtige Augenblick auch nicht dazu geeignet ist, derartige Erörterungen anzustellen. Aber um eine Gefälligkeit möchte ich Sie nichtsdestoweniger ersuchen: das Mädchen, das mit der Pförtnersfrau vorausgeht, dürfte gern bereit sein, Ihnen ihr Zimmer zur Verfügung zu stellen. Es möchte wohl angehen, Luisen dorthin rufen zu lassen und den Vater im stillen zu unterrichten, damit der auf den Tod kranken Mutter wenigstens der schwere Kummer erspart bliebe.« – »Wenn Sie mir Bürgschaft dafür leisten wollen, daß das Mädchen keinen Fluchtversuch unternimmt, will ich dieser Bitte willfahren . . .«

Beide kamen jetzt auf dem Flure des vierten Stockwerks an, vor der Tür, die zu der von dem Steinschneider Morel mit seiner Familie bewohnten Stube führte. Da ging mit einem Male diese Tür auf, und Luise trat bleich und mit verweinten Augen auf die Schwelle . . . »Vater, leb wohl,« sagte sie, »ich bin bald wieder da, aber ich muß jetzt gehen.« – »Aber, Luise, mein Kind,« rief Morel, indem er seiner Tochter nachlief und sie aufzuhalten suchte, »so höre doch nur, was ich dir noch zu sagen habe.«

Als sie nun Rudolf und den Polizeikommissar vor sich stehen sahen, blieben beide wie an den Boden gewurzelt stehen . . . »Ach, gnädiger Herr,« redete Morel Rudolf an, »Sie sind unser Retter. Helfen Sie mir, Luisen zurückzuhalten!« – Rudolf brach das Herz. Es gebrach ihm an Kraft zur Antwort. Der Kommissar wandte sich zu dem Mädchen und fragte mit strenger Stimme: »Sie sind Luise Morel? Tochter des Steinschneiders Morel?« – »Jawohl, Herr,« erwiderte Luise, am ganzen Leibe zitternd. – »Und Sie sind Hieronymus Morel, Steinschneider, und Vater des Mädchens?« fragte der Kommissar Morel?« – »Jawohl, Herr,« antwortete auch dieser; »aber . . .« – Der Kommissar zeigte auf die Stube, in der sich Rudolf bereits befand. – »Dann treten Sie beide hier herein!« sagte er streng; »ich weiß, Morel,« fuhr er hier fort, »daß Sie ein rechtschaffener Mann sind, der aber vom Unglück verfolgt wird; darum erfüllt es mich mit tiefem Schmerz, Ihnen sagen zu müssen, daß ich mit dem Auftrage hierher kommandiert worden bin, Ihre Tochter Luise zu verhaften.«

»Jesus, Jesus!« schrie Luise auf, »alles ist entdeckt! Vater, Vater, es ist um mich geschehen! – Ich bin verloren, ich bin verloren!« – Morel wich entsetzt zurück. »Was sagst du? Was redest du?« rief er, »bist du bei Sinnen oder nicht? Warum droht dir Verhaftung? Was hast du verbrochen?« Und mit drohend erhobener Faust trat er auf den Kommissar zu . . . »Sie wollen mir mein Kind entreißen? Ich lege meine Hand ins Feuer, sie kann nichts verbrochen haben, was der Polizei ein Recht gäbe, Hand an sie zu legen.« – Rudolf trat auf ihn zu und nahm ihn am Arme . . . Ihm fiel plötzlich das Geld ein, das Luise hergebracht, den Vater vor der Schuldhaft zu bewahren . . . Der gleiche Gedanke kam auch Morel, und er rief: »Nicht wahr, das Geld, das du heute früh hattest? Du wolltest doch den Wechsel aus der Welt schaffen, und dann sahest du erst, daß es doch nicht dazu reichte?« Während er seinem Kinde einen schrecklichen Blick zuwarf, nahm Rudolf wieder das Wort . . . »Beruhigen Sie sich, Morel! Luise kann nichts getan haben, das sie in Gefahr bringen könnte; ihre Unschuld wird sich herausstellen, es wird alles zu einem guten Ende kommen.«

Luisens Wangen erröteten vor Unwillen über des Vaters Gedanken, sie könne an fremdem Eigentum sich vergriffen haben, und der Ausdruck ihres Gesichtes, der Klang ihrer Stimme gaben dem Vater seine Ruhe wieder. Der Kommissar nahm jetzt wieder das Wort . . . »Nicht des Diebstahls wird Ihre Tochter angeschuldigt, Herr Morel,« sagte er, tief ergriffen, »sondern . . .«

»Luise, Luise!« rief Morel, »sprich! Ich will alles wissen! Sage du es mir, weshalb dich die Polizei verfolgt. Laß es mich nicht hören aus fremdem Munde! Sprich sprich! – Ich kann es eher tragen, wenn ich es aus deinem Munde höre.« –

Aber Luise schwieg, und der Kommissar, um dem Auftritte ein Ende zu machen, sprach: »Des Kindesmordes ist Ihre Tochter angeklagt! Aber . . .« setzte er hinzu, als er sah, wie leichenblaß der Vater wurde, »fassen Sie sich. Mann! Sie steht ja nur unter der Anklage. Bewiesen ist ihr das Verbrechen nicht.« – Da löste sich Luisens Zunge, und sich mühsam in die Höhe richtend, sagte sie, leise zwar, aber fest und bestimmt: »Nein, nein, Vater! Es ist nicht wahr! Ich habe das Kind nicht umgebracht, es kam schon tot zur Welt, das schwöre ich dir bei allem, was mir heilig ist! Aber, Vater, ich hatte all meine Besinnung verloren, wußte nicht, was mit mir vorging, und nur das ist mein Vergehen! Nur das, und kein anderes! Wie kannst du denken, daß ich imstande gewesen wäre, das Kind, dem ich das Leben gegeben, das Leben wieder zu nehmen!«

Beide Hände gegen Luisen erhebend, wie wenn er sie durch Wort und Gebärde vernichten wollte, rief Morel mit schrecklicher Stimme: »Hinweg von mir, Elende! Solchen Schimpf auf deines Vaters Haupt zu laden!« – Luise brach zusammen . . . »Gnade, Gnade, Vater!« stammelte sie, »Gnade, Gnade!« –

Eine Pause gräßlichen Schweigens trat ein. Dann wandte Morel sich mit Eiseskälte zu dem Kommissar und sprach: »Führen Sie das Geschöpf hinweg! Sie ist mein Kind nicht länger!« Er wollte gehen, aber Luise fiel vor ihm nieder, umklammerte seine Knie und rief, bitterlich weinend und flehentlich zu ihm aufschauend: »Vater, Vater! Fluche mir nicht! Ich will dir ja alles, alles sagen, wie es gekommen, wie es zugegangen ist! So schlecht wie du meinst, ist dein Kind nicht!« – »Gott, mein Gott! Mein Kind!« rief Morel, voll Verzweiflung dem Umsinken nahe. – Da trat Rudolf zu ihm und sagte leise: »Fassen Sie sich. Mann! Wie, wenn sie sich geopfert hätte, um Sie zu retten?«

Rudolfs Worte machten einen niederschmetternden Eindruck auf den unglücklichen Vater. Die Zähne zusammenpressend, maß er sein Kind mit einem Blicke voll unsäglichen Schmerzes und stammelte: »Ferrand? Ferrand?« – Luise wandte sich, ihre Fassung einigermaßen wiedergewinnend, zu dem Kommissar: »Herr,« rief sie, »vergönnen Sie mir ein paar Worte mit meinem Vater und mit diesem Herrn da! Vielleicht sehe ich keinen von beiden wieder. Ich möchte mich vor ihnen rechtfertigen.« – Stumm nickend, trat der Kommissar in den Hintergrund. – Luise, totenbleich, einer Ohnmacht nahe vor Schmerz über die Enthüllung, die sie geben sollte, nahm zitternd die magere, arbeitsharte Hand des Vaters. Und als er sie ihr nicht entzog, brach sie in klägliches Schluchzen aus und bedeckte sie mit Küssen . . . Sein Zorn war verraucht; die lange zurückgehaltenen Tränen rannen ihm über die Wangen . . .

»Ach, Vater,« stammelte sie, »wenn du wüßtest, wie tief, wie tief ich zu beklagen bin!« – »Mein Kind, diesen Gram werde ich nimmer vergessen, solange mir der gütige Gott noch das Leben läßt! Jesus, Jesus! Du im Gefängnisse! Du auf der Anklagebank! Wer kann es ausdenken? Und ich außerstande, dir zu helfen! Doch nun rede, Kind! Aber im Namen Gottes keine Unwahrheit! Ich beschwöre dich, Luise! Keine Unwahrheit! und mag es noch so gräßlich sein, was du mir sagen mußt!«

»Vater,« antwortete Luise, »ich will dir alles, alles sagen, nur versprich mir, niemand ein Wort davon zu sagen! Hörst du niemand! Wüßte er, daß ich gesprochen,« fuhr sie fort, am ganzen Leibe zitternd, »dann wärest auch du verloren, verloren wie ich, denn du kennst die Bosheit und die Macht dieses Menschen nicht!« – »Ferrands?« fragte Morel. – »Ja,« antwortete Luise, sich umschauend, wie wenn sie fürchtete, von jemand gehört zu werden . . . Nach einigem Besinnen fuhr sie fort: »In meiner Erzählung wird von jemand die Rede sein, der mir einen großen Dienst getan, und der sich gegen dich und meine Angehörigen sehr gütig gezeigt hat; ihm habe ich versprechen müssen, ihn ungenannt zu lassen.« – Rudolf dachte auf der Stelle an Germain und sagte: »Sollten Sie den jungen Mann meinen, der bei diesem Notar in Stellung ist und meines Wissens Franz Germain heißt, so dürfen Sie völlig beruhigt sein: ich werde über ihn nicht das geringste sprechen, sondern seinen Namen gegen jedermann verschweigen.« – Luise sah Rudolf verwundert an . . . »O, Sie kennen Franz Germain?« – Und auch Morel rief: »Sie kennen den jungen braven Menschen, der ein Vierteljahr im Hause hier gewohnt hat? Aber auch du, Luise, hast doch immer getan, als kenntest du ihn nicht!«

»Vater, es war so abgemacht zwischen uns,« antwortete Luise, »Germain hatte triftigen Grund, niemand wissen zu lassen, daß er bei Ferrand in Stellung sei. Die Stube bei uns im vierten Stock zu mieten, habe ich ihm seinerzeit geraten, weil ich recht gut wußte, daß er einen guten Nachbar abgeben werde.«

»Eine Frage, Morel!« sagte Rudolf; »durch wen ist Ihre Tochter zu dem Notar gekommen?« – »Als meine Frau so schwer erkrankte, habe ich die Frau Burette, die Pfandleiherin in unserm Hause, die mit der Haushälterin des Notars bekannt war, gebeten, sich bei dem Manne für sie zu verwenden, falls ein Mädchen für den Dienst im Hause gebraucht würde.« – Rudolf wandte sich zu Luisen: »Ich bin zwar über einige Umstände, die Ferrands Haß wider Ihren Vater zugrunde liegen, unterrichtet, möchte Sie aber bitten, mir kurz zu sagen, was zwischen Ferrand und Ihnen vorgegangen ist, seit Sie bei ihm in Dienst getreten sind. Für Ihre Verteidigung in dem Prozesse, der doch wider Sie ohne Frage eingeleitet werden wird, kann das nur von Nutzen sein.«

»In der ersten Zeit habe ich keine Ursache gefunden,« erwiderte Luise, »zu irgendwelcher Klage. Arbeiten mußte ich freilich sehr viel, die Haushälterin war sehr streng, Zerstreuung wurde mir gar keine gegönnt, aber ich habe alles mit Geduld ertragen. Der Herr zeigte immer ein strenges, finsteres Gesicht, besuchte regelmäßig die Kirche und bekam sehr oft Besuch von geistlichen Herren. Ich hätte ihm in keiner Weise gemißtraut. Außer dem Hausverwalter und der Frau Seraphim – so heißt die Haushälterin – war niemand weiter in dem Hause, einem großen, einzeln stehenden Gebäude zwischen Hof und Garten. Im obersten Stock, fast unterm Dache, lag meine Kammer. Saß ich dort allein, beschlich mich öfter Furcht. Nachts war es mir zuweilen, als ob sich unter mir zu ebener Erde dumpfe Geräusche hören ließen. Ich wagte nicht, mich zu rühren, dann hörte ich, daß unten tagsüber Herr Germain arbeite, und daß sich seine Kasse dort befände. Eine der Türen unten war mit Eisen beschlagen, die beiden Fenster waren hoch hinauf zugemauert. Eines Abends hatte ich sehr lange zu tun; und als ich mich endlich zu Bette legen wollte, hörte ich auf dem Flure leise Schritte. Zuerst dachte ich, die Haushälterin sei es; vor meiner Tür machten die Schritte Halt; ich fragte, wer da sei, bekam aber keine Antwort; ich ängstigte mich und rückte meine Kommode vor die Tür; die Nacht verging aber ohne weitere Störung. Am andern Morgen bat ich die Haushälterin, ein Schloß vor meine Tür zu legen; Herr Ferrand aber meinte, indem er mit den Achseln zuckte, ich müsse wohl eine recht große Närrin sein, mich so zu fürchten, und ich getraute mich nicht, meine Bitte zu wiederholen. Kurz darauf ereignete sich die unglückliche Geschichte mit Vaters Diamantenverlust. Wir waren in Verzweiflung, wußten wir doch nicht, wie wir uns aus dieser schwierigen Sache herauswinden sollten. Ich erzählte es der Haushälterin des Notars. Sie sagte mir: ›Sprechen Sie doch mal mit dem Herrn. Vielleicht tut er was für Ihren Vater.‹ –

Luise machte eine Pause, um tief Atem zu schöpfen; dann griff sie sich mit beiden Händen an die Stirn und ließ einen tiefen Seufzer hören . . . »Am nämlichen Abend,« fuhr sie dann fort, »trat Herr Ferrand selbst auf mich zu, als ich in die Stube trat, um das Geschirr aufzuräumen, und sagte: ›Wie ich höre, fehlen deinem Vater 1300 Franks. Geh gleich zu ihm und sage ihm, er könne sich das Geld morgen in der Kanzlei von mir holen; ich weiß ja, daß er ein rechtschaffener Mann ist, und will ihm gern beistehen.‹ Sie können denken, daß mir Freudentränen in die Augen traten, und daß ich kaum wußte, wie ich dem Manne danken sollte, der mit seinem gewohnten barschen Wesen mich abwies . . . ›Schon gut, schon gut,‹ sagte er zu, mir, ›ich tue ja bloß, was Christenpflicht ist!‹ – Ich rannte abends, als ich mit meinen Arbeiten im Haushalte fertig war, zum Vater und meldete ihm die frohe Kunde. Um mich Herrn Ferrand dankbar zu erweisen, verdoppelte ich meinen Fleiß. Nun aber fing die Haushälterin an, mich zu hassen und zu peinigen, wo sie irgend konnte. Herr Ferrand hatte das Geld auf ein Vierteljahr vorgestreckt. Wenn die Haushälterin zugegen war, verhielt er sich nach wie vor barsch und unfreundlich gegen mich; wenn wir zusammen allein waren, guckte er mich immer häufiger von der Seite an auf eine Weise, die mich in Verlegenheit setzte; wenn ich dann rot wurde, fing er an zu lachen. Einmal nachmittags ging die Haushälterin ganz wider ihre Gewohnheit aus. Die Schreiber waren auch außerhalb beschäftigt. Ich war mit Herrn Ferrand ganz allein und hatte im Vorzimmer zu tun. Da klingelte er mir. Ich traf ihn in seinem Schlafzimmer, wo er vor dem Kamine stand; er winkte mich zu sich heran, und mit einem Male umschlang er mich mit beiden Armen. Ich sah, daß er ganz rot im Gesicht war, daß seine Augen funkelten; ich war so erschrocken, daß ich mich nicht rühren konnte; aber dann überkam mich plötzlich eine solche Angst vor dem Manne, daß ich all meine Kraft zusammennahm und ihn von mir stieß. Es gelang mir, wieder ins Vorzimmer zu flüchten. Dort hielt ich mit beiden Händen die Tür zu; aber mit vor Zorn zitternder Stimme rief er mir durch den Türspalt zu: ›Du bringst bloß deinen Vater ins Unglück, wenn du dich gegen mich sperrst; er ist mir 1300 Franks schuldig, und bekomme ich mein Geld nicht, so lasse ich ihn in das Schuldgefängnis stecken. Bloß du kannst ihn vor diesem Schicksal bewahren, wenn du mir zu Willen bist.‹«

»Ich flehte ihn um Gnade an, erklärte, mich in jeder Hinsicht dankbar zu erweisen, die nicht wider meine Ehre verstieße; da hörte ich, daß er die Vorzimmertür abschloß, die er, trotzdem es finster war, gefunden hatte, und nun wußte ich, daß ich in seiner Gewalt war. Er kam bald mit einer Lampe in der Hand wieder. Wieder suchte ich mich mit aller Kraft zu wehren; ich ließ mich schlagen, kratzen, bis mir das Blut von den Wangen lief . . .«

»Jesus!« rief Morel, »und für solche Verbrechen soll es keine Strafe geben?« – »Vielleicht doch,« versetzte Rudolf, nachdenklich werdend; dann sagte er zu Luisen: »Erzählen Sie weiter – erzählen Sie alles!«

»Es dauerte lange, bis mich die Kräfte verließen; im letzten Augenblicke jedoch trat der Hausverwalter mit einem Briefe in das Vorzimmer; Ferrand drohte mir, als er Schritte hörte, nicht bloß mich, sondern auch meinen Vater ins Verderben zu stürzen, sobald ich ein Wort darüber verlauten ließe, was zwischen uns vorgegangen sei; den Vater ließe er wegen seiner Schuld, mich aber wegen Diebstahls einstecken. Tags darauf ging ich nach Hause, um meinem Vater alles zu bekennen. Aber ich fand die Mutter schwerkrank, die Meinigen brauchten das bißchen Geld, das ich bei dem Notar verdiente, und so sagte der Vater, ich solle deshalb nicht aus dem guten Dienste gehen . . . Was sollte denn werden, wenn ich nicht bloß keinen Dienst hätte, sondern vielleicht gar ins Stockhaus käme!« –

»Ja,« nahm nun Morel das Wort, »Luise redet die Wahrheit; wir waren so tief in unser Elend gesunken, daß wir uns nicht aufraffen konnten, das Mädchen zu uns zu nehmen, sondern daß wir sie wieder zurück zu dem alten Sünder schickten! Gott! Ach, Gott! Und ich will dem armen Mädchen jetzt zürnen, daß sie zuletzt doch dem Wüstlinge unterlag?«

Er schaute stier vor sich hin. Solches Unglück war zu schwer für ihn . . . »Und was hat er dir ferner angetan, der Böse?« lallte er. – »Vater, Vater! Das Böseste kommt noch. Fasse dich, fasse dich! O Gott! Ich kann den Blick nicht ertragen, mit dem du mich anstierst!« Und nach einer Pause, in der sie, Hilfe suchend, den Blick zu Rudolf gewandt hatte, fuhr sie fort: »Als ich mich Mutter fühlte, leugnete er, mich nachts durch Opium eingeschläfert und gemißbraucht zu haben, und wollte mich aus dem Hause werfen. Ich flehte ihn um Erbarmen an, sagte ihm, daß die Meinigen in größter Not seien, daß sie auf den geringen Verdienst, den ich bei ihm hätte, angewiesen seien, und gelobte ihm, gegen keinen Menschen etwas über meinen Zustand verlauten zu lassen. Darauf behielt er mich in seinem Dienste. Fünf Monate verflossen unter schrecklichen Qualen und Aengsten; noch immer war es mir geglückt, die Leute im Hause zu täuschen; im letzten Vierteljahr meiner Schwangerschaft war das aber nicht mehr möglich, und nun drohte mir Ferrand wieder mit Entlassung. Es folgte eine schreckliche Nacht. Wohin sollte ich mich flüchten? Da kam mir ein schlimmer Gedanke. Die Pförtnersfrau hatte mir gesagt, es wohne ein Mann im Hause, der allerhand Wunderkuren verrichte. Ich schrieb an diesen Mann . . .«

»Vorvorgestern, nicht wahr?« fragte Rudolf, »und beim Schreiben hatten Sie unglückliches Kind geweint? Und Tränen waren auf das Papier gefallen und hatten die Schrift verlöscht?« – Luise heftete einen Blick des Entsetzens auf Rudolf. – »Woher wissen Sie das?« stotterte sie. – »Aengstigen Sie sich nicht!« antwortete Rudolf; »ich war in der Pförtnerstube, als der Brief dort abgegeben wurde, und konnte ihn zufällig sehen.« – »Nun denn, Herr, ja! Ich habe dem Manne, der mir als ein Herr Bradamanti genannt worden war, geschrieben, ohne mich zu nennen, und ihn, da ich mich nicht zu ihm hingetraute, gebeten, ins Chateau d'Eau zu kommen. Ich hatte den Kopf verloren. In der Absicht, ihn um Rat zu fragen, ging ich nun aus Ferrands Hause, sah aber bald ein, daß ich auf gar schlimmen Wegen wandelte, und kehrte wieder um. Ferrand wußte darum, daß ich den Gang machen wollte. Er glaubte, ich könne erst in zwei Stunden wieder da sein. Als ich an die kleine Gartenpforte kam, stand sie halb offen, was mich nicht wenig verwunderte, denn in der Regel wurde sie fest verschlossen gehalten. Ich ging hinein und trug den Schlüssel in Ferrands Zimmer, wo er gewöhnlich seinen Platz hatte. Es lag gerade vor der Schlafstube und im hintersten Teile des Hauses. Die laufenden Geschäfte wurden immer vorn in der Kanzlei besorgt; hier hinten gab er solchen Leuten Gehör, die intimere Aufschlüsse von ihm haben wollten. Gerade als ich den Schlüssel auf den Tisch legte, ging die Schlafstubentür auf. Ich sah, daß in der andern Stube Licht brannte, und daß ein Mann bei Ferrand war. Kaum hatte mich dieser gesehen, als er mich an der Gurgel packte und mich schüttelte. Und dann hörte ich ihn rasend vor Wut schreien: »He? Du spionierst? Warte, das will ich dir austreiben. Steh mir Rede, was du hier wolltest! Oder ich erwürge dich!« Er besann sich aber bald eines andern, jagte mich, ohne weiter etwas zu sagen, in die Eßstube zurück und schloß hinter mir die Tür ab.«

»Von einem Gespräche zwischen den beiden Männern hatten Sie nichts gehört?« fragte Rudolf. – »Nicht das geringste. Hätte ich eine Ahnung davon gehabt, daß er jemand bei sich in dem Kabinett habe, wäre es mir sicher nicht eingefallen, den Fuß über die Schwelle zu setzen. Das durfte ja nicht einmal die Haushälterin. Am andern Tage verrichtete ich meine Arbeiten wie sonst, trotzdem ich recht krank und schwach war und beim Aufräumen ein paarmal mich einer Ohnmacht nahe fühlte. Beim letzten Anfall wäre ich schier umgefallen, wenn ich mich nicht an einem Mantel hätte festhalten können, der an einer Wand hing: es passierte mir dabei, daß ich ihn vom Nagel riß und so unter ihn zu liegen kam, daß er mich fast verdeckte. Im selben Augenblick wurde die Glastür des Alkovens eingeklinkt, und ich hörte Ferrands Stimme. Er sprach sehr laut: mir kam der Auftritt vom vorigen Abend in die Erinnerung; mich beschlich Angst vorm Tode, und ich getraute mich nicht zu rühren. Er hatte mich wahrscheinlich darum nicht gesehen, weil der Mantel mich verdeckte. Aber wenn er mich gesehen hätte, dann hätte er doch sicher nicht geglaubt, daß hier ein Zufall obwalte. So hielt ich den Atem an und wurde wider Willen Ohrenzeuge des Schlusses einer Unterredung, die sicher schon geraume Zeit gedauert hatte.«

»Und wer führte die Unterredung mit Ferrand?« fragte Rudolf. – »Ich kann es nicht sagen. Kannte ich doch nicht einmal die Stimme des Menschen, der bei Ferrand war. Ich habe nur das Folgende gehört: ›Nichts kann einfacher sein,‹ sagte die unbekannte Stimme, ›durch einen Schmuggler oder doch Steuerhinterzieher namens Rotarm bin ich der eben besprochenen Affäre halber mit Leuten zusammengebracht worden, die auf einer kleinen Insel unfern von Asnières hausen und Flußräuberei treiben. Vater und Großvater sind hingerichtet worden; die Mutter lebt aber noch mit drei Jungen und zwei Mädchen im Lande, und von ihnen sticht eins das andere an Schlechtigkeit aus, die für Geld zu allen Schandtaten zu haben sind. Um was handelt es sich aber denn? Den kleinen Irrwisch von Frauenzimmer – der Ihnen den Kopf so dick macht – werden die Martials – so heißen die braven Leute – bald um die Ecke gebracht haben, und schwemmt die Kröte am Ufer an, nun, dann ist sie eben selbst ins Wasser gegangen. Dafür sorgen schon ein paar Tränkchen, die ihr rechtzeitig beigebracht werden. Draußen auf dem Dorfe macht man sich mit einer Leiche nicht viel Schererei. In Paris ists ja was anderes. Da sieht man schärfer hin . . . Aber wann gedenken Sie Ihre kleine Kröte nach Asnières hinaus zu spedieren? Ich muß doch Martials von der Rolle in Kenntnis setzen, die sie bei der Affäre spielen sollen.‹

›Die Mamsell kann schon morgen dort sein,‹ versetzte Ferrand, ›ich werde ihr weismachen, daß Dr. Vincent sie besuchen soll.‹ – ›Der Name verrichtets ebensogut wie jeder andere,‹ erwiderte der Unbekannte, ›ich habe also nichts dagegen einzuwenden.‹ – Darauf hörte ich, wie Stühle gerückt wurden; Ferrand sagte noch zu dem Menschen, er verlange von ihm, daß er reinen Mund halte; worauf der Unbekannte sagte, Ferrand hätte ihn, und er Ferrand in den Händen; sie könnten einander also immer von Nutzen, aber wohl kaum von Nachteil oder gar zum Schaden sein . . . Zwei Stunden später holte mich Frau Seraphim – die Haushälterin – aus meiner Kammer, in die ich mich kränker als vordem zurückgezogen hatte . . . ›Der Herr will mit Ihnen sprechen‹ sagte sie. – ›Gleich?‹ fragte ich erschrocken, denn mir war es zumute, als sei die Unterhaltung der beiden Männer um meinetwillen geführt worden. – ›Jawohl,‹ versetzte Frau Seraphim, ›und was Sie von ihm hören werden, wird Ihnen geschwind wieder die Farbe ins Gesicht bringen.‹«

Ferrand war wieder in seinem Kabinett . . . ›Es scheint nicht zu best mit Ihnen zu stehen,‹ sagte er. Ich war verwundert, daß er mich nicht, wie bisher, du nannte. – ›Das ist aber weiter nicht zu verwundern,‹ nahm er wieder das Wort, ›das hängt mit Ihrem Zustande zusammen und rührt wesentlich von dem Bestreben her, Ihren Zustand zu verheimlichen . . . Aber,‹ setzte er hinzu in freundlicherem Tone, ›Sie tun mir leid, denn nach ein paar Tagen werden Sie Ihren Zustand vor niemand mehr verbergen können. Ueber mein Haus müßte so etwas natürlich Schande bringen, und über Ihre Familie herbes Unglück. Es ist also für Sie und alle übrigen das beste, wenn Sie auf einige Zeit verschwinden. Darum habe ich mir vorgenommen, Sie auf ein Vierteljahr aufs Land hinaus zu bringen. Ich kenne unfern von Asnières Leute mit Namen Martial. Dort werden Sie aufgehoben sein wie ein Kind vom Hause. Aerztlichen Beistand kann Ihnen ein mir befreundeter Arzt leisten, der Doktor Vincent . . . Sie sehen also, daß ich es nur gut mit Ihnen meine.‹«

»Ein ganz schändliches Komplott!« rief Rudolf empört aus; »jetzt wird mir alles verständlich; Ferrand dachte, Sie hätten am Abend vorher ein für ihn bedeutsames Geheimnis erlauscht und wollte Sie aus dem Wege schaffen.« –

»Mir war es entsetzlich zumute; ich konnte nicht antworten, sah aber den Mann, der wie ein Teufel vor mir stand, eine Weile lang an, bis er mich fragte: ›Nun, verstehen Sie mich nicht?‹ – ›O ja,‹ erwiderte ich, am ganzen Leibe zitternd, ›aber ich ginge lieber nicht aufs Land.‹ – ›Was?‹ rief Ferrand, noch immer sich den Zorn verhaltend, ›du schlägst meine Güte in den Wind?‹ – Ich konnte weiter nichts sagen, sondern sah ihn nach wie vor stumm und starr an. – ›Aber deiner Familie Schande zu machen, scheust du dich nicht?‹ schrie er; ›ich sage dir kurz und bündig: entweder gehst du morgen zu den Leuten, die ich dir nannte, oder du sagst deinem Vater, ich hätte dich aus dem Hause gewiesen und er müsse ins Gefängnis wandern.‹ –

»Frau Seraphim war, als sie die laute Stimme ihres Herrn hörte, herbeigerannt, und mit ihrer Hilfe gelangte ich in meine Kammer, wo ich unter großen Schmerzen bis gegen ein Uhr früh auf meinem Bette lag. Da stellten sich die ersten Wehen ein, und ich wußte, daß ich das Kind, das ich unter meinem Herzen trug, vor der Zeit zur Welt bringen würde.«

»Aber warum haben Sie nicht um Hilfe gerufen?« fragte Rudolf. – »Ich wagte es nicht,« antwortete Luise, »und das sollte mir zum Unglück werden, denn statt dessen erstickte ich mein Geschrei, indem ich weinend vor Schmerz in das Bett biß. Nun folgten qualvolle Augenblicke, bis ich endlich der Bürde ledig war, die ich unter dem Herzen getragen hatte. Aber das Kind, dem ich das Leben geschenkt hatte, lebte nicht, sondern war tot; ohne Zweifel infolge seiner vorzeitigen Geburt.«

Luisens Stimme erstickte in Schluchzen. Morel hatte die Erzählung seines Kindes mit dumpfer Gleichgültigkeit angehört. Erst Luisens Tränen lösten ihm die Stimme . . . »Sie weint, sie weint,« lallte er, »warum? warum?« Und nach kurzer Pause sprach er weiter: »Ach ja, ich weiß, ich weiß – Ferrand, der Notar, sprich nur weiter, nur weiter . . . Du bist ja meine Tochter, meine arme Luise . . . ich habe dich nach wie vor lieb . . . aber ich habe dich ja gar nicht mehr erkannt, mein Kind! Wie wird mir denn? Ach, mein Kopf! mein Kopf!«

»Ich drückte mein Kind an mich,« fuhr Luise fort, »freilich verwunderte es mich, daß ich es nicht atmen hörte, aber ich dachte, kleine Kinder atmen wohl nicht laut. Dann aber fiel mir auf, daß es eiskalt war. Es war finster in der Stube. Licht konnte ich nicht machen. Ich suchte es zu erwärmen, ohne daß es mir gelang; ich dachte, die Kälte in meiner Kammer sei daran schuld; ich wartete, bis es hell geworden war, dann hielt ich mein Kind zum Lichte hin, und sah, daß es sich nicht rührte, fühlte, daß es kalt und steif blieb . . . ich legte ihm die Hand aufs Herz . . . es schlug nicht, sondern stand still, ganz still . . .«

Luise konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie weinte bitterlich, und sie war lange Zeit nicht imstande, ein Wort zu sagen . . . »In diesem Augenblicke,« sagte sie dann, »ging etwas Unbeschreibliches in mir vor. Verzweiflung, Schreck, Zorn übermannten mich; ich fürchtete, wenn man mein Kind tot neben mir fände, so würde man mich beschuldigen, es umgebracht zu haben; und da überkam mich der Gedanke, es zu verstecken; ich hoffte, meine Schande würde der Welt dann verborgen bleiben, mein Vater würde mir nicht mehr zürnen, und ich würde auch Ferrands Rache entgehen, weil ich, meiner Bürde ledig, mich ja nach einem andern Dienste umsehen könnte, der mir die Möglichkeit schüfe, nach wie vor für meine Eltern und Geschwister mitzusorgen. Diese Gedanken, Herr, waren es, die mich bestimmten, über meine Niederkunft zu schweigen und den Leichnam meines Kindes zu verstecken. Als es Tag zu werden anfing, bin ich aufgewacht. Nun zögerte ich nicht länger, sondern nahm die Leiche, wickelte sie in ein Tuch und ging leise die Treppe zum Garten hinunter. Dort wollte ich ein Loch in die Erde graben und die Leiche verscharren. Aber es hatte in der Nacht gefroren, die Erde war hart und steif; ich konnte, da es mir an Werkzeug gebrach, mit der Arbeit nicht vom Flecke kommen und versteckte die Leiche im Keller, wohin ja im Winter kein Mensch zu gehen pflegte, deckte einen Blumenkasten über sie und schlich wieder in meine Stube hinauf, ohne von jemand gesehen worden zu sein. Wie ich bei meiner Schwäche den Mut und die Kraft fand, das alles zu verrichten, kann ich mir noch jetzt nicht erklären; aber in der neunten Stunde kam Frau Seraphim, um zu sehen, warum ich noch nicht aufgestanden sei; ich sagte ihr, daß ich mich zu krank fühlte, um aufzustehen, und zu Bett bleiben möchte, aber am andern Tage aus dem Hause gehen werde, da Herr Ferrand mir den Dienst aufgekündigt habe.

»Nach einer Stunde etwa kam er selbst . . . ›Sie sind wieder kränker,‹ sagte er, ›das kommt von Ihrem Eigensinne her. Hätten Sie meinem Rate gefolgt, dann konnten Sie heute schon bei den braven Leuten sein, die Ihnen Unterstand geben wollten. Heute abend wird der Doktor Vincent kommen.‹ – Mich schüttelte die Furcht; ich erklärte, es sei unrecht von mir gewesen, Herrn Ferrands freundliches Anerbieten auszuschlagen, ich wolle es jetzt aber annehmen, es sei also unnötig, den Arzt herkommen zu lassen. Ich sagte das aber nur, um Zeit zu gewinnen, denn mein Wille war, aus dem Hause und zu meinem Vater zu gehen, noch immer in der Hoffnung, daß alles verschwiegen bleiben werde.

»Ich verließ nun den ganzen Tag das Bett nicht. In der Nacht, als alles im Hause schlief, fand ich Kraft, mich auf den Boden hinauf zu schleichen, um ein Beil zu holen. Damit grub ich ein Loch in die Erde, holte mein totes Kind, bettete es in den kleinen Blumenkasten und verscharrte es . . . Ach! Wie schwer ist es mir geworden! Bittere Tränen habe ich vergossen. Endlich aber bin ich in meine Kammer zurückgeschlichen und habe mich wieder in mein Bett gelegt. Heftiges Fieber befiel mich. Früh am Morgen ließ Ferrand fragen, wie es mir gehe. Ich ließ ihm sagen, daß ich mich wohler befände und wohl am andern Tage die Fahrt aufs Land hinaus würde machen können. Ich mußte aber noch einen Tag länger im Bette bleiben, denn ich war noch immer sehr schwach, daß ich nicht gehen konnte. Am dritten Tage ging ich aber in die Küche hinunter, blieb bis zum späten Abend dort und ging dann in den Garten hinunter, um zu beten. Als ich wieder nach meinem Dachstübchen hinaufstieg, trat Herr Germain aus der Kanzlei, in der er bis dahin gearbeitet hatte; er sah sehr bleich aus, steckte mir aber schnell eine Geldrolle in die Hand und flüsterte mir zu: ›Da, nehmen Sie! Ihr Vater soll morgen in aller Frühe wegen einer Wechselschuld von 1300 Franks verhaftet werden. Bringen Sie ihm das Geld morgen so zeitig wie möglich. Ich weiß erst seit heute, was ich von meinem Prinzipal zu halten habe; aber ich werde ihm die Maske vom Gesicht reißen. Sie dürfen jedoch niemand sagen, daß ich Ihnen das Geld gegeben habe.‹«

»Er ließ mir keine Zeit, ihm zu danken, sondern war sogleich wieder in der Kanzlei verschwunden . . . Und nun,« schloß Luise, erschöpft und kaum noch imstande zu sprechen, aber in die Tasche greifend, aus der sie eine Rolle Goldstücke hervorlangte, »nun habe ich noch eine, wohl meine letzte Bitte: das Geld hier Herrn Franz Germain zurückzugeben. Freilich hatte ich ihm versprochen, niemand zu sagen, daß er es mir gegeben, und daß er bei Ferrand angestellt sei: Sie haben es ja aber schon gewußt, ehe ich es Ihnen sagte; ich begehe also keinen Vertrauensbruch, wenn ich Sie mit diesem Auftrage betraue – vor Gott, der mich hört, wiederhole ich feierlich, daß ich in allem die reine Wahrheit gesprochen habe, weder etwas hinzugetan, noch etwas davon genommen habe.« – Mit einem Male aber verfärbte sie sich, zeigte auf ihren Vater und schrie: »Jesus, Herr! Was geht mit meinem Vater vor?«

Der Steinschneider hatte den letzten Teil der Erzählung seiner Tochter mit düsterer Gleichgültigkeit angehört; sein Verstand war schon längere Zeit erschüttert, jetzt schwankte er eine Zeitlang hin und her, flackerte noch ein paarmal auf, verdunkelte dann aber plötzlich . . . Jetzt wußte er nicht mehr, was um ihn her vorging, was neben ihm gesprochen wurde . . . Luise trat zu ihm, von unsäglicher Angst erfüllt, und rief ihn an . . . Morel sah sich scheu und unstet um . . . dann blickte er die Tochter an . . . dann antwortete er mit sanfter, trauriger Stimme: »Ja doch, ja doch, der Notar . . . Ferrand . . . muß 1300 Franks von mir bekommen . . . ich bin sie ihm schuldig . . . es ist der Blutpreis Luisens . . . ich muß arbeiten, arbeiten . . . um ihn zu bezahlen . . . um ihn zu bezahlen . . .«

»Jesus, Jesus!« schrie Luise, »ist das ein Unglück! Ist das ein Unglück! Und wer ist daran schuld? Wer außer mir!« – »Fassen Sie sich, Luise!« rief Rudolf, tief ergriffen, und wandte sich zu dem unglücklichen Vater: »Morel, Freund! Wir sind ja da . . . Ihre Tochter ist ja doch bei Ihnen; sie ist unschuldig, und ich will mit dafür sorgen, daß ihre Unschuld auch vor Gericht anerkannt wird!« Und wieder zu Luisen gewandt, wiederholte er: »Fassen Sie sich, Ihr Vater hat zuviel Schmerz gelitten, soviel Gram und Kummer kann kein Mensch ertragen; aber er wird wieder zu sich kommen, sein Verstand wird nicht für immer umnachtet sein. Seien Sie überzeugt, daß Ihr Schicksal entscheidend sein wird für die Entlarvung und Bestrafung eines großen Verbrechers!« Er hob die Hand zum Schwure . . . »Das schwöre ich vor Gott,« sprach er feierlich, »daß ich nicht eher ruhen will, als bis den Mann, dessen Verbrechen so klar zu Tage liegen, die Nemesis ereilt hat!«

Die Tür ging auf, und der Polizeikommissar trat ein . . . »Es tut mir leid,« erklärte er, »Ihnen sagen zu müssen, daß die Zeit, die ich Ihnen für die Unterredung bewilligen konnte, abgelaufen ist.« – »Wir sind zu Ende,« versetzte Rudolf, »Luise hat ihrem Vater« – dabei zeigte er mit tiefem Schmerze auf Morel – »nichts weiter zu sagen, denn er kann nicht mehr fassen, was sie ihm sagt; sein Verstand ist umnachtet.«

Zwei Stunden nach Luisens Verhaftung wurde der geisteskranke Steinschneider mit seiner geisteskranken Mutter auf Rudolfs Veranlassung nach dem Irrenhause Charenton gebracht. Seiner kranken Frau teilte Lachtaube mit aller erdenklichen Schonung die beiden schrecklichen Nachrichten von der Verhaftung ihrer Tochter wegen Kindesmordes und von dem Wahnsinn ihres Mannes mit. Zuerst weinte die Frau die bittersten Tränen; allmählich fand sie aber Trost in der Wandlung, die ihre Verhältnisse zufolge der Fürsorge Rudolfs genommen hatten, und das wirkte so außerordentlich wohltätig auf sie, daß sich ihr Krankheitszustand langsam bessern zu wollen schien.



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