Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Drittes Kapitel.

Wieder auf der Seine-Insel

Am andern Tage verließ Marienblümchen das Gefängnis Saint-Lazare und begab sich in Ferrands Haus, wo sie von Frau Seraphim in Empfang genommen wurde. Sie trug die ländliche Tracht, die sie in Bouqueval getragen hatte. Es war dem Notar ein Leichtes gewesen, ihre Freilassung zu erwirken, und niemand im Gefängnisse zweifelte daran, daß dieselbe durch die Marquise von Harville erwirkt worden sei, die sich bei der Aufseherin so angelegentlich erkundigt hatte: So verdorbenen Sinnes auch die Seraphim war, so fühlte sie doch jetzt Mitleid mit dem liebreizenden Mädchen, das sie als Kind im Auftrage Ferrands an das unter dem Namen Eule bekannte böse Weib überantwortet hatte und jetzt dem sichern Tode zuführen wollte.

»Wir fahren doch zur Frau Georges nach Bouqueval?« fragte Marienblümchen. – »Jawohl, mein Kind,« versetzte die Seraphim, »zu Frau Georges, doch nicht gleich; erst machen wir noch einen kleinen Abstecher, damit Sie nach allem Verdruß, den Sie gehabt haben, auch ein klein wenig Freude haben . . . Kommen Sie, kommen Sie! Der Wagen wartet schon auf uns.«

Sie standen unter dem hohen Portal, das auf die Straße Faubourg Saint-Denis führt, als sie einem Mädchen in den Weg liefen, das auf dem Wege ins Gefängnis zu sein schien, um eine Insassin desselben zu besuchen . . . Im nächsten Augenblicke hatte Marienblume in dem Mädchen ihre ehemalige Zellenkameradin, Lachtaube, erkannt . . . »Ei, Schalldirne!« rief da ihrerseits die Grisette . . . und beide sanken einander in die Arme . . . »Aber trifft sich das gut!« rief Lachtaube . . . »ist das eine Ueberraschung! Wir haben uns so lange nicht gesehen und müssen uns gerade jetzt wiedersehen, wo ich auf dem Wege ins Gefängnis bin, eine andere arme Leidensgenossin zu besuchen!« – »Ach, Lachtaube!« erwiderte Marienblume, »das hätte ich mir auch nicht träumen lassen . . . Ich will aufs Land hinaus zu einer guten lieben Frau . . . Frau Georges heißt sie . . . draußen in Bouqueval . . . Doch sprich! Wen willst du im Stockhause aufsuchen?« – »Ach, die arme Luise Morel aus der Rue du Temple . . . das Kind eines ehrlichen Steinschneiders, der über all dem Unglück, das ihn verfolgt, den Verstand verloren hat!«

Frau Seraphim fuhr zusammen, als sie den Namen Morel hörte, der auch eines der Opfer war, die Notar Ferrand auf dem Gewissen hatte. Sie kannte das Mädchen nicht, das zu den Bekannten Marienblümchens gehörte, horchte aber nichtsdestoweniger aufmerksam auf das Gespräch, das die beiden Mädchen zusammen führten.

»Ach, Kind, ich muß dir noch ganz was anderes sagen,« plauderte Lachtaube weiter, »wie du mich hier siehst, so komme ich aus dem Männergefängnisse in unserm Viertel. Sieh doch mein Körbchen an: es hat zwei Abteilungen . . . jede Hälfte hat ihre Bestimmung: die eine enthält das, was ich der armen Luise, die andre, was ich dem armen Germain bringe.« – »Germain? Germain?« fragte Marienblümchen, »wer ist denn das?« – »Ach, ein lieber Mensch, ein ehemaliger Nachbar von mir, der ehrlichste Mensch unter Gottes Sonne, dem ich von Herzen gut bin wie einem Bruder, der aber von einem schlimmen Manne verfolgt wird . . . demselben, der auch die arme Luise ins Gefängnis gebracht hat . . . Ach Gott, wie ist es bloß möglich, daß es so grundschlechte Menschen in der Welt gibt!«

Frau Seraphim hatte abermals die Ohren gespitzt, als sie den Namen Germain hörte . . . Lachtaube hatte zwar keinen unmittelbaren Grund, ihr zu mißtrauen, sie gedachte aber der Warnungen, die Rudolf ihr mit auf den Weg gegeben, und sah es deshalb, um der Möglichkeit, noch mehr auszuplaudern, entrückt zu werden, nicht ungern, daß Frau Seraphim die Freundin zum Aufbruche drängte . . .

»Du bist und bleibst eben die gute, liebe Seele, die all und jedem helfen möchte, der in Not und Trübsal gerät . . . Du bist wohl dem Germain so recht von Herzen gut? Wie?« – »O, warum sollte ich nicht?« erwiderte Lachtaube, »es ist doch schrecklich, wenn jemand nichts Böses getan hat und von solch bösem Menschen ins Gefängnis gebracht wird! Der alte Wicht ist hinter den beiden armen Menschen her wie der Teufel, trotzdem ihm keins von beiden das geringste zu leide getan hat. Aber nur Geduld! An ihn wird schon auch noch die Reihe kommen.«

»Wie heißt denn der schlimme Mann, von dem Sie das erzählen?« fragte Frau Seraphim, nachdem sie abermals zum Aufbruche gedrängt hatte. – »Ferrand heißt er, liebe Frau,« antwortete Lachtaube, »und ist Notar, um so schlechter also ist's von ihm, die Menschen in Jammer und Not zu bringen, da es doch seine Pflicht wäre, sie daraus zu erlösen!« – Da traf sie ein böser Blick der Frau, so daß Lachtaube unwillkürlich zusammenschreckt und einen ängstlichen Blick auf die Freundin heftete.

»Länger warten wir nun aber nicht, Kind,« sagte die Seraphim zu Marienblümchen, »ihr habt schon über eine Viertelstunde zusammen geschwatzt. Wir laufen ja Gefahr, den ganzen Tag zu versäumen. Und wer soll den Wagen für die müßig verlorene Zeit bezahlen?« – Lachtaube trat zu der Freundin, während die Seraphim sich zu dem Kutscher wandte, und flüsterte ihr zu: »Du, weißt du, gegen die Frau habe ich eine seltsame Abneigung . . . ich sage dir, nimm dich vor ihr in acht!« Und laut fuhr sie fort, als die Seraphim sich wieder zu ihnen wandte: »Kommst du wieder nach Paris, meine Liebe, dann vergiß nicht, bei mir vorzusprechen; ich werde mich immer freuen, dir guten Tag zu sagen.«

Die beiden Mädchen küßten einander; Lachtaube ging in das Gefängnis mit dem ihr von Rudolf verschafften Erlaubnisscheine Luisen zu besuchen, während Marienblume mit Frau Seraphim in den Wagen stieg, der sie nach der Seine-Insel führen sollte.

Dort lagen drei Kähne am Aussteigeplatze angebunden. In einem kauerte Niklas, die Klappe probierend, die er darin angebracht hatte, während die ältere Schwester, Kürbis benannt, auf einer Bank vor der grün angestrichenen Laube stand, die Hand wie einen Schirm über die Augen deckend und in der Richtung Ausblick haltend, von woher Frau Seraphim mit Marienblümchen erwartet wurde.

»Niklas,« sagte die Schwester, »Martial scheint zu schlafen, wenigstens hat er sich heute früh nicht wieder gerührt, und auch sein Hund verhält sich still.« – »Vielleicht hat er ihm den Hals umgedreht, um sich an ihm satt zu fressen. Zwei Tage haben sie schon nichts zu brechen und zu beißen, und müssen ja schon halb verhungert sein.« – »Das wird ihn schon kirre machen,« sagte Niklas, »aber aushalten kann ers weit länger, sage ich dir. Wenn er verhungert, so heißt's dann eben, man hat nicht gewußt, wo er steckt; dann wird kein Hahn nach ihm krähen. Mir wäre eine schnellere Weise lieber gewesen.« – »Ein anderes Mittel, zum Ziele zu kommen, gab es eben nicht. Wenn Martial wild wird, dann ist er schlimmer als ein Teufel, zudem stark wie ein Bulle. Ohne Gefahr hätten wir ihm nicht auf den Leib rücken können. Nachdem wir aber seine Tür von außen verrammelt und das Fenster mit dem von Micou gekauften Eisenblech vernagelt hatten, konnte er uns nicht mehr schädlich werden.« – »Ein Glück, daß es in seiner Kammer an einem Kamine fehlt.« – »Jawohl, und daß die Tür fest ist, und daß wir ihm die Hand mit dem Beile zerschlugen . . . sonst wäre er imstande, sich durch die Dielen ein Loch zu graben!« – »Daß bloß die Wölfin nicht aus dem Gefängnisse bricht und ihren Liebsten bei uns sucht! Dann . . .« – »Na, was denn dann? Soll sie ihn sich doch suchen!«

Jetzt erblickte Kürbis die beiden Personen, auf die so sehnlich wartete; im selben Augenblicke trat aber auch die Mutter zu ihnen, die unwillkürlich einen Blick zu dem Fenster hinaufwarf, hinter dem ihr ältester Sohn eingesperrt war . . . »Es ist doch bloß seine Schuld!« murmelte sie, die Brauen zusammenkneifend, konnte sich aber eines Schauders nicht erwehren.

Kürbis zeigte auf die den Fußweg entlang kommenden beiden Frauen, auf Seraphim und die Schalldirne, alias Marienblume, und rief Niklas zu: »He! Siehst du sie? Eine Städtische und eine vom Lande, Niklas!« – »Ach, die Dicke kenne ich ja,« erwiderte Niklas, »wir müssen uns nun darüber verständigen, wie wir uns verhalten wollen. Ich werde die Alte und die Junge ins Boot mit der Klappe hinein nehmen; im andern folgst du mir und hältst dich so dicht neben dem andern, daß ich im rechten Moment hinüberspringen kann, ohne mich und dich dabei in Gefahr zu setzen . . . hörst du?« – »Habe keine Bange,« sagte Kürbis, »sieh! jetzt winkt die Alte mit dem Tuche!« – »Komm, Mutter, komm!« antwortete Niklas, das Boot losmachend, »setz dich mit in mein Boot! Dann werden die beiden drüben nicht Gefahr wittern . . . Kürbis mag ins andere springen und tüchtig ausgreifen mit den Rudern . . . Da, nimm den Haken und lege ihn neben dich, falls wir staken müssen . . . So, und nun vorwärts!«

Nach wenigen Augenblicken hatten die beiden Kähne das Ufer gewonnen, wo Madame Seraphim mit Marienblümchen wartete. Niklas band sein Boot fest. Die Seraphim trat zu ihm und sagte leise: »Sagen Sie, daß Frau Georges uns schon lange erwarte.« Dann sagte sie laut: »Wir haben uns leider etwas versäumt.« – Und Niklas erwiderte: »Ja, das haben wir gemerkt, denn Frau Georges hat schon ein paarmal hergeschickt und fragen lassen, wo wir bleiben . . .«

»Nun, Sie hören also,« wandte Frau Seraphim sich an das Mädchen, »daß wir uns beeilen müssen, wenn wir die liebe Frau nicht ärgerlich machen wollen!« – Marienblümchen war es bei dem Anblick der beiden Geschwister Niklas und Kürbis nicht recht geheuer gewesen, die Worte der Frau beruhigten sie aber wieder. Sie lehnte sich leicht auf die Hand, die Niklas ihr bot, und stieg in das Boot . . . »So! Und nun steigen Sie ein,« sagte Niklas zur Frau Seraphim, die aber, ob nun von einer Ahnung bestimmt, oder von Mißtrauen erfüllt, meinte, es möchte doch wohl geratener sein, sich in das andere Boot zu setzen . . .

Niklas antwortete, ihm könnte das gleichgiltig sein, warf seiner Schwester einen vielsagenden Blick zu und stieß ab. Als die Seraphim sich neben sie gesetzt hatte, stieß auch die Kürbis ab, und langsam entfernten sich beide Kähne vom Ufer . . .


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