Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Hoffnung.

Die ersten Frühlingstage nahten sich. Die Sonne bekam neue Kraft, der Himmel war rein, die Luft lau und mild. Auf die Wölfin gestützt, versuchte Marienblume zum ersten Male ihre Kräfte auf einem kurzen Gange im Garten des Doktors Griffon. Ihrem bleichen, abgemagerten Gesichte lieh die Sonnenwärme im Verein mit der körperlichen Bewegung eine leichte Röte. Da ihr bäuerlicher Anzug bei der ungestümen Hilfe, die ihr die Wölfin geleistet, zerrissen worden war, hatte sie ein dunkelblaues Merinokleid angezogen, das durch eine wollene Gürtelschnur um ihren schlanken Leib gehalten wurde.

»Ach, die herrliche Sonne!« sagte sie zur Wölfin, neben einer Baumgruppe stehen bleibend, »hier könnten wir uns doch ein Weilchen setzen?« – »Warum fragen Sie da erst?« erwiderte Martials Geliebte, die Achseln zuckend, nahm ihr Tuch ab und breitete es auf dem feuchten Sande aus.

»Aber, Wölfin,« sagte Marienblume, die Absicht ihrer Begleiterin zu spät bemerkend, so daß sie sie nicht mehr daran hindern konnte, »Sie ruinieren sich ja Ihr Tuch!« – »Was kommts auf den Lappen an?« erwiderte die andere barsch, »der Boden ist kalt, wollen Sie sich lieber erkälten?« – »Ach, Wölfin, Sie verhätscheln mich ja,« sagte Marienblume. – »Nun, daß man es tut, ist freilich nicht am Platze, sträuben Sie sich doch immer gegen alles, was man zu Ihrem Wohle unternimmt! Sie müssen doch auch müde geworden sein, denn wir sind nun bereits eine reichliche halbe Stunde unterwegs. In Asnières hat es gerade zwölf geschlagen.«

»Die Müdigkeit macht sich allerdings bei mir geltend,« meinte Marienblümchen, »aber recht gut getan hat mir der Spaziergang doch.« – »Wenn Sie Müdigkeit fühlten, warum konnten Sie es mir nicht sagen, daß wir uns schon einmal unterwegs gesetzt hätten?« – »Ach, seien Sie mir deshalb nicht böse! Ich bin es nicht gewahr geworden, ist es doch ein herrlicher Genuß, nach so langer Bettlägerigkeit wieder einmal Sonne, Bäume und Feld zu sehen!«

»Sie armes Ding!« antwortete die Wölfin, »es stand wirklich für Sie recht schlimm, der Arzt hatte schon beinahe alle Hoffnung aufgegeben.« – »Ach, Wölfin,« sagte Marienblume, »als ich unter Wasser geriet, fiel mir eine böse Frau ein, die mich gequält hat, als ich noch kleines Kind war, und mich auch einmal hat ins Wasser werfen wollen. Da sagte ich zu mir, ich müsse doch ein rechtes Unglückskind sein, da ich in einem fort vom Schicksale so verfolgt würde.«

»So? Waren das wirklich Ihre letzten Gedanken, als Sie den Tod vor Augen hatten?« – »Nein, nein!« erwiderte Marienblume, in heller Begeisterung, »mein letzter Gedanke vorm Tode, als ich sein Nahen fühlte, galt dem höchsten Wesen, das ich für meinen Gott halte, und ihm galt auch mein erster Gedanke, als ich mich erholte.« – »Ach, liebes Kind, Ihnen wohlzutun, ist wirklich eine rechte Freude. Es wird kaum einen zweiten Menschen geben, der so dankbar wäre.« – »Ich kann mir auch nichts Häßlicheres denken als Undankbarkeit,« versetzte Marienblume, »wie schön ist es, sich sagen zu können, daß man jedem gerecht geworden ist. Mit solchem Bewußtsein schläft es sich süß ein und wacht es sich süß auf.« – »Für Menschen wie Sie, könnte man durchs Feuer gehen,« sagte die Wölfin. – »O, und warum freue ich mich so, dem Leben wiedergeschenkt worden zu sein? Weil ich noch immer hoffe, Ihnen mein Versprechen erfüllen zu können! Sie wissen ja doch, was für Luftschlösser wir in Saint-Lazare noch gebaut haben!«

»Nun, auf den Beinen sind Sie ja wieder,« versetzte die Wölfin, »und wie mein Mann mir sagte, hätte ich ja getan, was in meinen Kräften stand.« – »O, das ist freilich wahr! Ach, wenn mir nur der Herr Graf nun bald sagen könnte, daß mir an meine liebe Frau Georges zu schreiben erlaubt sei! Sie wird gewiß um mich recht besorgt sein . . . Herr Rudolf vielleicht auch!« setzte sie hinzu, bei dem Gedanken an »ihren Gott«, an »ihr höchstes Wesen« unter tiefem Erröten die Augen niederschlagend, »vielleicht meinen beide, ich sei tot.«

»Gleich den bösen Menschen, die Sie ins Wasser stürzten?« meinte die Wölfin, »o, es ist doch wirklich haarsträubend, wieviel Schlechtigkeit in der Welt herrscht!« – »Sie meinen wirklich, ich sei keinem zufälligen Unglück . . .« – »Ach, reden Sie bloß nicht so etwas, Kind! Es sollte ein Zufall sein, daß der Kahn, in dem Sie übergesetzt werden sollten, ein Loch bekam, so groß, daß man hätte hindurchspringen können? Freilich wollen sich die Martials drauf hinausreden; aber gelingen wirds ihnen nicht! Aber wenn ich von den Martials rede, so meine ich nicht meinen Mann, denn er paßt nicht zu dieser Familie, er ist richtig, wie man sagt, aus der Art geschlagen, und auch Franz und Amandine gehören nicht zu den Bösewichtern – der Mutter, der ältesten Tochter und dem zweitältesten Sohne, dem Niklas.«

»Welches Interesse konnten sie aber an meinem Tode haben?« fragte Marienblume; »ich habe doch niemand im Leben Böses zugefügt!«

»Wie können Sie wissen, weshalb man Ihnen derart nachstellt? Wenn diese Martialschen beiden Bösewichten schlecht genug sind, jemand ins Wasser zu stürzen, so sind sie doch ganz gewiß nicht dumm genug, das zu tun, ohne dabei ein ordentliches Stück Geld zu verdienen! Beweis dafür, daß ich mich in dieser Hinsicht nicht auf falscher Fährte befinde, sind mir ein paar Worte, die die Witwe zu meinem Geliebten im Gefängnisse gesprochen hat.«

»So hat er wirklich die schreckliche Frau besucht?«

»Ja, und es besteht weder für sie, noch für ihre Tochter und ihren Sohn Niklas, irgend welche Hoffnung mehr. Es ist gar vieles entdeckt worden, und der Schuft von Niklas hat sogar, um sich frei zu machen, Mutter und Schwester noch eines anderen schweren Verbrechens denunziert! Aber ihn hats nicht frei machen können, sie werden vielmehr alle zusammen aufs Schafott steigen müssen. Der Advokat hat kein Tüttelchen Hoffnung mehr, sie durchzubringen. Es müsse einmal ein strenges Exempel statuiert werden, heißts bei der hohen Justiz diesmal.«

»Das ist ja schrecklich!« rief Marienblume, die Hände ringend, »fast eine ganze Familie!« – »Ja, falls Niklas nicht noch sich durch Flucht retten kann! Er ist im gleichen Gefängnisabteil wie ein anderer Bösewicht, der den Spitznamen Skelett führt und ein Komplott angezettelt hat, sich und seine Komplizen zu retten. Mein Mann ist nämlich so schwach gewesen, den Bruder im Stockhause zu besuchen. Dadurch hat der Niklas den Mut bekommen, meinem Manne bestellen zu lassen, er könne ausreißen, sobald es ihm gefiele, und ist sogar so frech gewesen, hinzuzusetzen, der alte Micou möge Geld und Kleider, die ihn unkenntlich machen sollen, bereit halten,«

»Ihr Mann hat eben auch ein gutes Herz!« sagte Marienblume.

»Gut Herz hin, gut Herz her, Schalldirne!« rief die Wölfin unwillig, »der Schinder soll mich holen, wenn ich es leide, daß mein Mann sich für einen, der wegen Mordes angeklagt ist, auch nur den Finger naß macht, mag es gleich sein Bruder sein! Wenn Martial nicht anzeigt, daß sich die beiden, Skelett und Niklas, mit Gedanken auszubrechen tragen, so ist's schon viel mehr als sich eigentlich verantworten läßt . . . Aber das kann im Grunde niemand erwarten, daß ein vernünftiger Mensch solche Gedanken für etwas anderes als Wind nimmt . . . Zudem ziehen wir in den nächsten Tagen von hier weg, sobald Sie nur erst wieder ganz gesund sind, so daß Sie meiner Hilfe nicht länger bedürfen. Und ich will dann schon Sorge tragen, daß weder mein Mann noch die Kinder in den nächsten Jahren den Fuß wieder in diesen Sündenpfuhl von Paris setzen! Für Martial war es immer ein schreckliches Bewußtsein, als Sohn eines Mannes angesehen zu werden, der geköpft worden ist! Wie soll es aber erst mit ihm werden, wenn es heißen wird, daß auch Mutter, Bruder und Schwester geköpft worden!«

»Ach, so lange bleiben Sie doch bei mir, liebe Wölfin, bis ich mit Herrn Rudolf Ihretwegen gesprochen habe?« fragte Marienblume, »ich will ihm sagen, daß Sie sich wieder zum Guten gewandt haben, daß ich Ihnen mein Leben zu verdanken, und daß ich Ihnen versprochen habe, dafür zu sorgen, daß Sie hierfür auch einen entsprechenden Lohn bekommen! Wie könnte ich allein all das vergelten, was Sie an mir getan haben? Wenn ich davon spreche, daß Sie mir das Leben gerettet haben, so werde ich der Wahrheit ja nur zur Hälfte gerecht, denn was Sie weiter für mich getan haben durch die aufopfernde Pflege während meiner Krankheit . . .«

»Was habe ich mehr getan als meine Pflicht!« antwortete die Wölfin, »wie soll ich es leiden können, daß Sie von Personen, die Ihnen ihre Gunst zuwenden, Gutes für mich erbitten? Das müßte mich ja in ein recht eigennütziges Licht setzen!« – »Aber, liebe Freundin, lassen Sie mich doch nur machen!« erwiderte Marienblume, »von Eigennutz Ihrerseits kann keine Rede sein – sondern nur davon, daß ich meine Dankesschuld abtrage.«

»Hören Sie doch!« rief da die Wölfin, »ist das nicht Wagengerassel? Gewiß!« und sie sprang auf – »es kommt ein Wagen! Er kommt näher und näher heran . . . Da, jetzt fährt er am Gitter vorbei. Eine Dame sitzt drin.« – »Ach Gott!« sagte Marienblümchen ergriffen, »mir ist's doch ganz so, als hätte ich sie schon einmal gesehen! In Saint-Lazare . . . ach ja, sie ist es, und sie war damals so gütig zu mir!« – »Aber wie sollte sie wissen, daß Sie hier seien?« fragte die Wölfin. – »Darüber kann ich allerdings nichts sagen; aber die Person, von der ich so oft gesprochen habe, kennt die Dame, und wenn diese Person will, Wölfin, und Gott gebe, es sei an dem, dann dürfen wir mit Zuversicht rechnen, daß die Luftschlösser, die wir zusammen in Saint-Lazare gebaut, Wirklichkeit werden!«

»Ach, schön wäre es nun freilich,« sagte die Wölfin, tief seufzend, »wenn sich für meinen Mann irgendwo im Walde ein Platz als Förster ober Jagdhüter fände! Aber das sind Träume, und bis Träume sich verwirklichen . . .«

Schnelle Schritte wurden vernehmlich. Franz und Amandine, denen der gütige Graf von Saint-Remy bei der Wölfin zu bleiben erlaubt hatte, kamen herbeigerannt mit der Meldung, es käme eine schöne Dame mit Herrn von Saint-Remy, und beide verlangten auf der Stelle, Marienblümchen zu sehen!

»Nun, liebe Wölfin,« sagte das Mädchen, »ich habe mich also doch nicht geirrt!« – Und fast im nämlichen Augenblicke erschien Graf Saint-Remy mit der Marquise von Harville. Kaum hatte die letztere das Mädchen erblickt, als sie auf sie zueilte und sie liebevoll in die Arme schloß . . . »Liebes, liebes Mädchen! liebes armes Mädchen!« rief sie, »sind Sie wirklich durch Gottes gütige Fügung vor einem so jähen Tode bewahrt geblieben! Ach, wie freue ich mich, Sie wiederzusehen, wieder in meine Arme zu schließen! Wir haben Sie ja alle für tot gehalten und so tief, so tief betrauert!«

»Auch ich freue mich innig, daß Sie mich nicht vergessen haben, liebe gute Dame, denn ich habe nicht vergessen und werde es mein Lebtag nicht vergessen, wie gütig Sie gegen mich gewesen sind,« sagte Marienblümchen, die Umarmung der Marquise mit Anmut und Bescheidenheit erwidernd.

»O, Sie wissen wirklich nicht, liebes Kind, wie erfreut alle Ihre Freunde gewesen, als sie vernahmen, daß Sie gerettet seien! Und wie werden sich erst diejenigen freuen, die bis zur Stunde noch um Sie trauern!«

Marienblümchen nahm die Wölfin, die schüchtern beiseite getreten war, an der Hand und sagte zu der Marquise: »Wenn sich die gütigen Herrschaften, die mir ihre Huld zuwenden, tatsächlich darüber freuen, daß ich dem Leben erhalten geblieben, dann wird es mir wohl erlaubt sein zu bitten, einen Teil des mir zugedachten Wohlwollens auf die Freundin hier zu übertragen, deren Aufopferung ich das Leben allein zu verdanken habe.«

»Seien Sie ohne Sorge, mein liebes Kind,« erwiderte die Marquise, »Ihre Gönner und Gönnerinnen werden der braven Person, die Ihnen das Leben gerettet, den Dank dafür nicht schuldig bleiben.«

Die Wölfin wurde rot und wußte vor Verlegenheit nicht, wie sie darauf antworten sollte; ja sie wagte es nicht einmal, die Augen zu der vornehmen Dame zu erheben, die einen geradezu überwältigenden Eindruck auf sie gemacht hatte, besonders seitdem sie gehört hatte, daß es eine Marquise sei.

»Aber es ist kein Augenblick zu verlieren,« sagte die Marquise weiter, »denn ich brenne vor Ungeduld, Sie mit mir in meinem Wagen von dannen zu führen! Da, hüllen Sie sich hier in diesen Mantel, mein liebes Mädchen. Es wird Sie gewiß nicht darin frieren. Aber kommen Sie, kommen Sie schnell!«

Dann drehte sie sich zu dem Grafen herum und sagte zu ihm: »Sie sagen wohl der tapferen Person dort, der wir soviel verdanken, meine Wohnung und fordern sie auf, morgen zu mir zu kommen? In meinem Hause soll sie sich von ihrer Freundin verabschieden . . . denn sie müssen sich nun beide trennen, das geht nicht anders; auf diese Weise werden wir aber die Frau dazu nötigen, den Fuß zu uns zu setzen, was sie andernfalls nicht täte.«

Durch diese freundlichen Worte fühlte sich die Wölfin so ermutigt, daß sie sich ein Herz faßte und antwortete: »O, ich werde ganz bestimmt kommen, gnädige Frau, denn wenn ich wirklich von Marienblume Abschied nehmen soll, so bleibt mir doch gar nichts anderes übrig . . . Wie könnte ich es über mein Herz bringen, sie von hier ziehen zu lassen, ohne sie noch einmal an mein Herz zu schließen?«


Wenige Minuten später waren Frau von Harville und die Schalldirne unterwegs nach Paris.


 << zurück weiter >>