Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.

Die Zusammenkunft.

Tags darauf befand sich Rudolf, noch immer in Handwerkertracht, Punkt 12 Uhr vor der Tür des Wirtshauses »Zum Bienenkorbe«, unweit vom Tore von Bercy. Abends vorher hatte Schuri sich an dem ihm von Rudolf bezeichneten Orte eingefunden. Um Mittag herum goß es in Strömen. Rudolf sah von Zeit zu Zeit ungeduldig nach dem Tore hin. Endlich sah er in der Ferne einen Mann mit einem Weibe kommen, in denen er, trotzdem sie durch einen Schirm beschattet wurden, Bakel und die Eule erkannte. Als sie näher kamen, erkannte er weiter, daß mit beiden Personen eine völlige Umwandlung vorgegangen war: der Räuber trug jetzt nicht mehr seine ärmliche Kleidung, sondern ging in langem, grünem Rock, mit blendend weißem Halstuch über einem saubern Hemd, und hatte einen braunen runden Hut auf dem Kopfe. Das Weib hatte einen großen Schal um und eine weiße Haube auf. In der Hand hielt sie einen Strickbeutel. Wären nicht beide so schrecklich anzusehen gewesen, der Mann mit dem von Vitriol verbrannten Gesicht und das Weib mit ihrem einen Auge, so hätte man sie recht gut für ehrsame Bürgersleute halten können.

Der Regen hatte momentan ausgesetzt. Rudolf ging, seinen Abscheu überwindend, dem häßlichen Paare ein paar Schritte entgegen. Bakel sprach jetzt nicht mehr Rotwelsch, sondern ein elegantes Französisch, das sich um so befremdlicher anhörte, als es einen Mann von guter Bildung verriet und von dem Wesen eines Verbrechers, als den Rudolf den Mann gestern gesehen, grell abstach. Rudolf wurde, als er Bakel gegenübertrat, mit einem tiefen Bückling von ihm begrüßt, während das Weib heuchlerisch knickste.

»Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Bakel, »oder vielmehr aufzufrischen«, setzte er hinzu; »aber wichtige Dinge sinds, die uns jetzt zusammenführen. Gestern abend gegen elf Uhr habe ich den Schuri in der Kaschemme gesehen und herbestellt, falls er Lust haben sollte, es mit uns zu halten; es scheint ihm aber nicht sonderlich viel daran zu liegen.« – »Sie wollen die Sache also in die Hand nehmen?« – »Jawohl, falls Sie . . . aber wie heißen Sie eigentlich, Herr . . .« – »Rudolf ist mein Name.« – »Also, Herr Rudolf«, sagte Bakel, »wir wollen uns in die Kneipe setzen, denn ich habe noch nichts zum Frühstück gegessen und meine Frau ebensowenig. Während wir essen, läßt sich ja von den Geschäften reden.« – »Meinetwegen.« – »Nun, Entschädigung müßten Sie uns eigentlich geben«, begann der Mann, »denn Sie sind doch schuld, daß wir Zweitausend Franks eingebüßt haben. Meine Frau hatte mit dem Langen, der zuletzt in der Kaschemme nach Ihnen fragte, eine Zusammenkunft in Saint-Quen verabredet. Er wollte uns, wenn wir Arbeit für ihn verrichten wollten, zweitausend Franks auszahlen. Schuri hat mir einigermaßen erklärt, wie sich die Sache verhält; aber, Finette«, sagte der Räuber zu dem Weibe, »geh doch immer voraus und bestelle uns einen Imbiß. Wir kommen gleich nach.« Zu Rudolf gewandt, fuhr er fort: »Außerdem sollten uns 500 Franks für eine Brieftasche verabfolgt werden, wenn wir sie wieder aushändigen wollten. Aber das haben wir uns anders überlegt, nachdem wir gesehen haben, daß die Papiere mehr wert zu sein scheinen, und werden die Brieftasche nicht wieder herausrücken.« – Bei diesen Worten klopfte er auf die Brusttasche seines Rockes.

Rudolf war sehr froh, daß der Mann die Papiere noch bei sich hatte, die ihm erst zwei Tage vorher von Tom geraubt worden waren und die für ihn von sehr hohem Werte waren. Der Auftrag, den er Schuri gegeben, hatte keinen andern Zweck gehabt, als ihn dem Weibe fern zu halten. Auf diese Weise hatte er darauf gerechnet, die Brieftasche sich wieder anzueignen. – »Wir können zusammen ein Geschäft machen,« sagte er, »wenn es Ihnen recht ist. Ich kaufe Ihnen, wenn uns der Anschlag glückt, die Brieftasche ab. Die Papiere, die darin liegen, werden mir, da ich dem Eigentümer nicht fremd bin, mehr nützen als Ihnen. Ich hatte Schuri eine ganz nette Sache vorgeschlagen. Zuerst schien es ihm nicht recht zu sein. Nachher hat er sich aber anders besonnen, indem er mir riet, mich an Sie zu wenden.« – »Ich möchte nicht neugierig erscheinen, anderseits doch aber gern wissen, warum Sie gestern früh mit Schuri eine Begegnung hatten, und was ihn veranlaßt hat, mit der Eule zu reden. Er war verlegen und nicht im stande, mir eine klare, bestimmte Auskunft zu geben.«

Rudolf fand nach einigem Besinnen zum Glück eine halbwegs wahrscheinliche Mär, die Schuris Ungeschick erklären konnte . . . »Die Sache verhält sich so«, sagte er; »mir gefiel die Sache, die ich im Sinne hatte, deshalb, weil sich der fragliche Hausherr zurzeit in Paris befindet, und vorderhand nicht zu befürchten stand, daß er aufs Land zurückkehren werde. Es wäre draußen in Pierrefitte. Meine Cousine dient bei dem Herrn; sie sagte mir, es lägen etwa 60 000 Franks in Gold draußen in Pierrefitte.« – »Und Sie wissen dort Bescheid?« – »Wie bei mir selber. Der Portier ist wohl ein kräftiger Mann. Ich redete mit Schuri, wie gesagt; zuerst war er ganz dabei, dann wollte er nicht mehr; aber einer von denen, die ihre Kameraden verraten, ist er keinesfalls.« – »Nein. Schuri ist ein ehrlicher Kerl. Er hält unbedingt seinen Mund. Aber – da sind wir an Ort und Stelle.«

Rudolf wollte den Räuber vorausgehen lassen, hatte wohl auch gute Gründe dazu. Bakel wehrte sich aber so sehr dagegen, daß Rudolf schließlich in die Schenke vorausgehen mußte. Bakel klopfte, ehe er sich setzte, die Wände ab, um sich von ihrer Dicke zu überzeugen . . . »Es wird notwendig sein, leise miteinander zu sprechen,« sagte er, »es ist keine dicke Wand vorhanden.«

Eine Aufwärterin brachte das bestellte Frühstück. Der Räuber setzte sich, als sie gegangen war, so neben Rudolf, daß es ihm nicht möglich war, anders als an dem Räuber vorbei die Tür zu gewinnen . . . »Ich merke, Sie wollen mich am Hinausgehen verhindern?« sagte Rudolf kaltblütig. – Bakel nickte. Dann zog er aus der Rocktasche einen langen Dolch, der in einen Holzgriff gefaßt war . . . »Bloß vorsichtshalber,« sagte er, die Brauen zusammenkneifend. – Rudolf seinerseits griff kaltblütig unter seine Bluse und zog einen Revolver hervor, den er Bakel unter die Augen hielt und dann wieder unter der Bluse verschwinden ließ. – »Ich sehe«, sagte der Räuber, »wir passen zueinander, aber so recht verstehen Sie mich noch immer nicht. Sollte mir die Polizei an den Kragen kommen wollen, so würde ich, ob ich Ihnen den Besuch zu verdanken hätte oder nicht, Ihnen ohne Besinnen dies Eisen zwischen die Rippen jagen.« – »Und ich würde dir gewiß nicht bloß zusehen«, sagte die Eule. – Rudolf zuckte die Achseln, goß sich ein Glas voll Wein und trank es auf einen Schluck aus . . . »Stecken Sie nur Ihr Käsemesser wieder zu sich«, sagte er lachend, »hier gibts kein Huhn zu spicken, auch keinen Hasen. Sie finden an mir schon Ihren Mann. Darüber ohne Sorge! Apropos«, wandte er sich an die Eule, »kennen Sie wirklich die Eltern des Mädchens, das unter dem Namen Schalldirne hier bekannt ist?« – »Mein Mann hat in die Brieftasche des Langen zwei Schriftstücke gesteckt, die darüber Aufklärung geben. Aber die Dirne soll nichts davon erfahren. Kommt sie mir wieder zwischen die Finger, solls ihr schlecht bekommen!«

Bei diesen Worten legte sie ihr Umschlagetuch ab. Trotzdem er sich sehr in der Gewalt hatte, konnte Rudolf nicht hindern, daß er zusammenfuhr, als er an einer dicken, vergoldeten Halskette, die das Weib trug, einen kleinen heiligen Geist aus Lapis Lazuli an silbernem Ringe hängen sah, der ganz dem von Frau Georges geschilderten glich. – Da schoß Rudolf ein Gedanke durch den Sinn. Von Schuri hatte er gehört, daß der vor einem halben Jahre aus dem Bagno entwichene Verbrecher sich vor der Polizei durch Verunstaltung seines Gesichts gesichert habe, und von Frau Georges hatte er gehört, daß ihr Mann vor einem halben Jahre aus dem Bagno entwichen sei, ohne daß irgend jemand wußte, wohin er sich geflüchtet habe, oder was aus ihm geworden sei. Sollte dieser Bakel der Mann seiner armen Frau Georges sein? Daß dieser Verbrecher zur wohlhabenden Gesellschaftsklasse gehört hatte, stand nach der gewählten Ausdrucksweise, deren er fähig war, nicht wohl zu bezweifeln. Ein Gedanke schloß sich nun an den andern. Rudolf besann sich, daß ihm Frau Georges von dem verzweifelten Widerstande erzählt hatte, den dieser rasende Verbrecher den Polizisten entgegensetzte, als er abgeführt werden sollte, und daß er, dank seiner ungeheuren Körperkraft, fast noch entkommen wäre. Wenn nun Bakel – wie er jetzt unter seinesgleichen genannt wurde – wirklich der Mann von Frau Georges war, dann mußte er doch wissen, was aus seinem und ihrem Kinde geworden! Glücklicherweise fiel es dem Räuber nicht auf, daß Rudolf in sich gekehrt eine lange Weile sitzen blieb, seine Aufmerksamkeit wurde durch das Essen in Anspruch genommen, von dem er die besten Bissen seiner Kameradin auf den Teller legte.

Nach einer Weile sagte Rudolf zu dieser: »Sie haben da eine wirklich sehr schöne Kette . . .« – »Ja, aber unecht, ich behelfe mich mit ihr nur so lange, bis mir mein Mann mal eine echte kaufen kann.« – »Und was ist das für ein kleines blaues Ding dran?« fragte Rudolf weiter. – »Auch, ein Präsent von meinem Manne . . .«

Rudolf war nun überzeugt, daß er sich auf der rechten Fährte befand, und wartete ängstlich gespannt auf die Antwort des Verbrechers. Der saß aber und ließ sich das Essen schmecken. Erst nach einer Weile sagte er zur Eule: »Das Ding darfst du nicht weggeben, Finette, auch wenn du eine bessere Kette bekommst, ist es doch ein Talisman!« – »Was? Ein Talisman?« fragte Rudolf, scheinbar gleichgültig, »wer glaubt wohl noch an so etwas? Wo, zum Teufel! haben Sie ihn denn aufgestöbert? So etwas bekommt man doch heute kaum noch!« – »Talismane werden freilich nicht mehr gemacht, Herr«, erwiderte der Verbrecher, »aber der, den Sie am Halse meiner Frau sehen, ist von sehr hohem Alter. Um aber auf das Geschäft zu kommen, von dem Sie sprechen, und das also in der Allée des Veuves liegen soll?« – »Ganz recht!« erwiderte Rudolf, »Nr. 17, und bewohnt von einem steinreichen Manne, namens . . .« – »O, ich brauche seinen Namen nicht zu wissen«', erwiderte der Räuber, »aber in einer Stube des Landhauses, sagen Sie, liegen 60 000 Franks in Gold?« – Rudolf nickte. – »Und Sie sind im Haus bekannt?« – Rudolf nickte wieder. – »Das Haus ist schwer zu erreichen?« – »Nach der Allée des Veuves schließt es eine sieben Fuß hohe Mauer ab, davor liegt ein Garten, und im Erdgeschoße hat es Fenster.« – »Sie sagen, der Schatz werde nur von einem Portier bewacht?« – Rudolf nickte. – »Und wie haben Sie sich den Plan gedacht?« – »Einfach genug. Es wird über die Mauer gestiegen und entweder die Tür gesprengt oder ein Fensterladen aufgebrochen.« – »Und wenn der Pförtner munter wird?« – »Das möchte zu seinem Besten nicht eben sein«, erwiderte Rudolf, »hat der Plan Ihren Beifall?« – »Ehe ich die Gelegenheit nicht mit meiner Alten ausbaldowert habe, kann ich Ihnen, wie Sie wohl einsehen werden, Bescheid nicht geben. Verhält sich aber alles so, wie Sie sagen, nun, dann halte ich es fürs beste, ohne Säumnis an die Arbeit zu gehen, am besten schon heut abend.«

Der Räuber faßte Rudolf dabei scharf ins Auge . . . »Heut abend schon?« wiederholte Rudolf, »nein, das ginge nicht. Heut abend bin ich behindert.« – »Wirklich? Nun, und morgen kann ich nicht.« – »Warum?« – »Aus demselben Grunde nicht wie Sie,« sagte der Räuber lachend. –

Nach einigem Nachdenken versetzte Rudolf: »Nun, mag' es sein, wie Sie wollen, heut abend also! Wir treffen uns, bestimmen Sie nur, wo?« – »Wo?« wiederholte Bakel, »besser schon, wir gehen überhaupt nicht auseinander.« – »Wie meinen Sie das?« – »Was ist da weiter zu meinen? Die Allée des Veuves wird bald öde und verlassen sein. Wir können uns also ganz bequem in der zehnten Stunde dorthin auf den Weg machen.« – »Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich Mißtrauen bei Ihnen in meine Absichten voraussetze.« – »Lassen wir alle Sentimentalität beiseite. Ich will annehmen, daß an Ihrer Mitteilung etwas Wahres ist, und da es ja lohnt, sich um die Hälfte von 60 000 Franks ein bißchen anzustrengen, will ich den Versuch machen. Aber sogleich heute abend oder überhaupt nicht. Wird es nichts, weiß ich, wie ich mit Ihnen daran bin; und Sie dürfen, wenn ich damit schlecht abschneide, sicher drauf rechnen, daß ich mich früher oder später bei Ihnen einfinden werde.« – »Nun, und daß ich Ihnen nichts schuldig bleiben werde, darauf dürfen Sie ebenfalls rechnen.« – »Aber wozu denn all die Reden?« mischte sich die Eule ein; »es ist ja weder gehauen, noch gestochen. Mein Mann hat doch ganz recht. Entweder gleich heut abend oder überhaupt nicht.«

Rudolf sah sich in die ärgste Verlegenheit gesetzt. Ließ er sich diesen Anlaß, den Mann in seine Gewalt zu bringen, entgehen, so fand sich jedenfalls in absehbarer Zeit kein anderer. Er verließ sich auf den Zufall, auf seine Gewandtheit, Kraft und Unerschrockenheit und sagte zu Bakel: »Gut also, wir bleiben bis zum Abend beisammen. Eine Zigarre gibts doch bei Ihnen?« – »Selbstverständlich,« erwiderte Bakel, »meiner Frau macht ein bißchen Tabaksqualm gar nichts aus.« – »Werden Sie auch genug Zigarren haben?« fragte Rudolf aufstehend; »ich könnte ja welche holen.« – »Nichts da! Bleiben Sie nur. Das kann meine Frau besorgen.«

Der Räuber hatte seine Absicht durchschaut, die Frau ging und Rudolf setzte sich wieder. Beide Hände unter der Bluse versteckend, unterhielt er sich wieder mit dem Räuber und nahm, als er sich unbeobachtet wähnte, einen Bleistift aus der Westentasche und brachte flink ein paar Worte auf einen Zettel. Alles verrichtete er aber unter seiner Bluse. Um den Worten einen gewissen Grad von Deutlichkeit zu wahren, setzte er sie weit auseinander, und nachdem es ihm geglückt war, damit zu stande zu kommen, ohne die Aufmerksamkeit seines Kameraden zu wecken, stand er auf und trat ans Fenster, denn nun galt es, den Zettel seiner Bestimmung zuzuführen. Er begann ein Liedchen zu trällern und an die Scheibe zu trommeln. Bakel trat zu ihm und fragte: »Nun, Kamerad, was ist denn das für eine Melodie?« – »Meine Rose kriegst du nicht!« – »Sehr nette Melodie! Möchte bloß wissen, ob sie anderen auch gefällt. Man siehts ja sofort, wenn sich die Leute umdrehen.«


 << zurück weiter >>