Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Drittes Kapitel.

Clemence von Harville.

Als Rudolf Frau von Harville aus drohender Gefahr befreit hatte, war er, sehr angegriffen, aus der Rue du Temple nach seiner Wohnung zurückgekehrt, den der armen Familie und dem als Lachtaube bekannten Mädchen zugedachten Besuch auf den andern Tag verschiebend. In der vierten Stunde bekam er einen Brief . . . »Ich verdanke Ihnen mein Leben und will Ihnen meinen Dank hierfür nicht schuldig bleiben. Morgen ists mir vielleicht nicht mehr möglich, Ihnen zu danken. Können Sie mir die Ehre erweisen, heute abend zu mir zu kommen, dürften Sie diesen Tag, wie Sie ihn begonnen haben, durch eine edle Tat beschließen. Clemence von Harville.«

So sehr er sich darüber freute, der Marquise einen Dienst erwiesen zu haben, bedrückte es ihn doch, auf diese Weise in einen gewissen Grad vertraulicheren Verkehrs mit ihr getreten zu sein. Die Schönheit und Anmut der Frau hatten auch auf ihn ihren Eindruck nicht verfehlt, und da er die Freundschaft ihres Gemahls nicht aufs Spiel setzen mochte, hatte er es seit einiger Zeit vermieden, sich ihr zu nähern. Auch war ihm die Unterhaltung zwischen Tom und Sarah nicht aus dem Gedächtnis gekommen, die er in dem Gesandtschaftspalais erlauscht hatte. Um ihren Haß und ihre Eifersucht auf sie zu rechtfertigen, hatte Sarah, und nicht ohne allen Grund, behauptet, Frau von Harville hege noch immer, wenn auch vielleicht ohne es sich selbst zu gestehen, ernste Zuneigung zu Rudolf. Sarah war zu klug und zu scharfsinnig, auch eine zu gute Kennerin des menschlichen Herzens, um nicht erraten zu sollen, daß Clemence, von dem Manne, der so tiefen Eindruck auf sie gemacht, sich für verschmäht haltend, nur aus Aerger hierüber sich dem Wunsche ihrer Freundin gefügt und, für Herrn Roberts vermeintliches Unglück wohl erwärmt, darüber jedoch Rudolf selbst durchaus nicht vergessen hatte.

Gleich nachdem Rudolf sie auf die Gefahr aufmerksam gemacht hatte, in der sie schwebte, war sie in das fünfte Stockwerk hinaufgeeilt. Dabei hatte sie von einer Windung aus, die die Treppe machte, Karl Robert in einem so anmaßenden Anzuge angesehen, daß sie auf der Stelle erkannt hatte, wie sehr sie sich in dem Manne getäuscht hatte. Herzensgüte hatte sie zu einem Schritte verleitet, der sie ins Verderben stürzen konnte, und nicht sowohl aus Liebe, als vielmehr aus Mitleid hatte sie ihm ein Stelldichein bewilligt, das ihn über die blöde Rolle trösten sollte, in die ihn in ihrem Beisein auf dem Balle im Gesandtschaftspalais ihr Gemahl, der Herzog, versetzt hatte.

Die Standuhr in dem Zimmer verkündete die neunte Stunde. Je näher die für Rudolf bezeichnete Zeit heranrückte, desto höher stieg die Unruhe der Marquise. Aber sie raffte sich auf, gelangte nach einigem Besinnen zu dem Entschlusse, Rudolf ein tiefes Geheimnis mitzuteilen, ein Geheimnis grausamer Natur, und war erfüllt von der Hoffnung, daß sie durch solche Offenheit vielleicht die von ihr so heißersehnte Achtung Rudolfs zurückgewinnen werde. Eine geheime Empfindung weckte auch im Gemüte der Marquise Zweifel an der Aufrichtigkeit von Sarahs Liebe.

Nach Verlauf einiger Minuten trat ein Diener herein, um Frau Ashton mit dem gnädigen Fräulein Tochter zu melden. Die Marquise nickte, und ihr Kind, ein Mädchen von etwa 4 Jahren, kam herein, geführt von der englischen Kinderfrau. Klärchen, ein schwächliches Kind, eilte mit ausgebreiteten Armen auf ihre Mama zu, die sich bei Madame Ashton erkundigte, wie es um die Gesundheit ihres Kindes bestellt sei. – »Es ist ja recht gut gegangen,« antwortete sie, »aber gestern fürchtete ich, der Anfall möchte wiederkehren . . .« »Wirklich?« rief die Herzogin ängstlich, ihr Kind ans Herz ziehend, »es ist aber günstig verlaufen?« – »Nun, Klärchen hat heut nachmittag ein bißchen geruht, mochte aber, ohne die Frau Marquise gesehen zu haben, sich nicht schlafen legen.«

In diesem Augenblicke öffnete der Kammerdiener beide Flügeltüren und meldete: »Seine königliche Hoheit der Großherzog von Gerolstein!«

Die Marquise wollte ihr Kind seiner Wartefrau übergeben und dieser sagen, sich aus dem Zimmer zu entfernen, aber Rudolf bückte sich lächelnd zu dem Kinde nieder und ersuchte die Marquise, ihm doch die Gelegenheit zur Erneuerung seiner Bekanntschaft mit der kleinen Freundin seines Herzens nicht zu rauben, die ihn, wie er fürchten müsse, wohl schon vergessen habe. Das Kind sah ihn ein paar Augenblicke mit seinem großen schwarzen Augenpaare neugierig an; dann erkannte sie ihn, nickte ihm freundlich zu und küßte ihm die Hand. Die Marquise wie auch Rudolf waren über die Unterredung, die ihnen bevorstand, beide in gewisser Verlegenheit, sahen sie deshalb nicht ungern auf ein paar Minuten durch die Gegenwart des Kindes verschoben. Bald aber führte Madame Ashton, die nicht neugierig erscheinen mochte, Klara hinweg, und Rudolf war mit Clemence allein.

Er fühlte, wie peinlich es der Frau sein müsse, das Gespräch zu beginnen, und brach deshalb das Schweigen . . . »Sie sind einem gemeinen Verrate zum Opfer gefallen, Frau Marquise, und wenig fehlte, so wären Sie durch eine abscheuliche Anklage der Gräfin Mac Gregor in Verderben und Unglück gestürzt worden.« – »Meine Ahnung hat mich also nicht getäuscht?« rief Clemence, »aber wie erhielten Eure Hoheit davon Kenntnis?« – »Auf dem Gesandtschaftsballe hat mir ein Zufall Kenntnis von dem Bubenstück gebracht, das der Bruder dieses Weibes im Komplott mit ihr wider Sie plant. Erlassen Sie es mir, Ihnen zu sagen, wie ich dahinter gekommen bin. Um den Verrat dieser Schottin zu vereiteln, erwartete ich Sie in der Rue du Temple.«

Nach einer kurzen Pause erwiderte die Marquise: »Ich kann Ihnen meine Dankbarkeit nur dadurch beweisen, daß ich Sie zum Mitwisser eines Geheimnisses mache, das ich bislang vor jedermann gehütet habe, das mich zwar in Ihren Augen nicht rechtfertigen kann, Ihnen mein Benehmen aber in günstigerem Lichte erscheinen lassen wird.« – Sie schöpfte tief Atem, dann fuhr sie fort: »Was ich Ihnen zu sagen habe, ist tiefernster Natur und steht mit den Ereignissen von heute früh in engster Verbindung. Ihr Rat könnte mir von außerordentlichem Nutzen werden; ehe ich Sie jedoch darum bitte, lassen Sie mich Ihnen ein paar Worte über die Zeit vor meiner Verheiratung mit Herrn von Harville sagen.«

Rudolf verneigte sich, und Clemence fuhr fort: »In meinem 16. Jahre verlor ich meine Mutter, an der ich mit innigster Liebe hing, war sie doch die Herzensgüte selbst, hat sie mich doch ganz allein erzogen. Denken Sie sich nun unser beider Erstaunen, als eines Tages, kurz, nachdem ich mein 16. Lebensjahr vollendet hatte, mein Vater mit der Mitteilung vor uns trat, eine junge Witwe, deren Geist aber durch herbes Unglück gestählt worden sei, werde an Stelle meiner Mutter meine weitere Erziehung in die Hand nehmen. Meine Mutter sei ja schon lange kränklich und könne der immer schwieriger werdenden Aufgabe nicht mehr genügen. Meine Mutter widersetzte sich diesem Ansinnen, und auch ich bat den Vater, keine fremde Person zwischen sie und mich zu stellen, aber all unsre Einreden, all unsre Tränen konnten ihn von seinem Vorhaben nicht abbringen. Madame Roland, die sich für die Witwe eines in Indien verstorbenen Obersten ausgab, zog in unser Haus ein.« –

»Was? Also die Person, die Ihr Herr Vater nach dem Ableben Ihrer Mutter zur Frau nahm?« – »Ganz recht! Sie war nicht hübsch, auch nicht interessant, aber klug und verstand vortrefflich zu heucheln. Sie mochte 25 Jahre alt sein, war aschblond, hatte fast weiße Brauen und große, hellblaue Augen. Von Charakter war sie treulos bis zur Grausamkeit, aber von kriechender Freundlichkeit. Wie mein Vater sich für diese Frau hat begeistern können, der doch sonst so viel auf Bildung und Anstand hielt, ist mir noch heute ein Rätsel. Meine Mutter aber durchschaute auf der Stelle den ganzen Zusammenhang, es ging ihr schrecklich nahe, wenn sie vielleicht auch weniger meines Vaters eheliche Untreue beklagte als die Störung des bislang in unserm Hause waltenden Friedens und das böse Beispiel.«

»In welchem Lebensjahre stand Ihr Vater damals?« – »In seinem 60., und trotz des hohen Verstandes, den jedermann an ihm schätzte, ließ er sich von dieser Frau umgarnen und zwar dermaßen, daß er sich in den Illusionen, in die meine Stiefmutter ihn wiegt, dem Anscheine nach glücklich fühlt. Meine Mutter hatte eine heftige Auseinandersetzung mit meinem Vater und erklärte, daß sie sich so lange von seinem Tische trenne, wie diese Person in unserm Hause weile. Mein Vater blieb unbeugsam, und meine Mutter nicht minder. Hinfort spielte sich unser beider Leben im Zimmer meiner Mutter ab, während Madame Roland, ohne sich irgend welchen Zwang aufzuerlegen, an die Stelle meiner Mutter im Hause und in der Gesellschaft trat, bis meine Mutter schwer erkrankte. Leider starb der Arzt, der sie bislang behandelt hatte. Durch die Roland bekam ein Italiener Zutritt zu unserm Hause, mein Vater betraute ihn mit der weiteren Behandlung meiner Mutter, und Polidori . . .« Rudolf schreckte zusammen . . . »Welchen Namen nannten Sie?« rief er, heftig erregt. – »Aber was ist Ihnen denn?« fragte Clemence, erschreckt über das Staunen, das sich in Rudolfs Gesicht malte. – »Nein, nein!« sprach Rudolf bei sich, »ich muß mich irren! Es sind doch seitdem annähernd sechs Jahre verstrichen, und Polidori lebt doch erst seit zwei Jahren unter anderm Namen in Paris. Gestern habe ich ihn noch gesehen, diesen Scharlatan Bradamanti . . . Ein seltsames Zusammentreffen wäre es ja freilich, wenn es zwei Aerzte dieses Namens gäbe. Wie alt war dieser italienische Arzt, Frau Marquise?« – »Im fünfzigsten Jahre konnte er stehen.« – »Und wie sah er aus?« – »Er hatte ein finstres Gesicht, graue Augen, Adlernase . . .«

»Er ist's, er ist's!« rief Rudolf unwillkürlich. »Sagen Sie mir, Frau Marquise, wohnt dieser Mensch jetzt in Paris?«

»Ich kann es nicht sagen, Hoheit,« antwortete die Marquise: »etwa ein Jahr nach meines Vaters Verheiratung verließ er Paris. Eine mir bekannte Dame, Frau Herzogin von Lucenay, hatte ihn damals auch zum Arzt.« – »Frau von Lucenay?« fragte Rudolf erschrocken. – »Ja doch, Hoheit! Was wundert Sie dabei? Vor etwa vier Wochen erkundigte ich mich bei ihr nach dem Manne. Sie wich einer Antwort ziemlich verlegen aus und sagte, es sei ziemlich lange Zeit nichts mehr von ihm zu hören gewesen, von manchem werde er sogar für tot gehalten . . .«

»Sonderbar,« sagte Rudolf, an den Besuch der Herzogin bei Bradamanti denkend. – »Also kennen Sie diesen Arzt?« fragte die Marquise. – »Sagen Sie lieber: diesen Verbrecher, denn die schwärzesten Missetaten lasten auf seiner Seele.« – »Es kann Ihr Ernst nicht sein,« rief Clemence entsetzt, »ein Mann, der mit jener Madame Roland befreundet gewesen, der meine Mutter als Arzt behandelt hat, sollte ein Verbrecher sein? Aber – Sie haben doch vielleicht recht! Denn unter seinen Händen starb meine Mutter binnen wenigen Tagen . . .« – »Nun, danken Sie wenigstens Gott, daß Ihr Vater, nachdem er sich mit Madame Roland verheiratet, keines Arztes mehr bedurfte!« – »Hoheit, Hoheit!« rief Frau von Harville, »sollten meine Ahnungen mich also doch nicht getäuscht haben?« – »Was wollen Sie damit sagen?« rief Rudolf. – »Die Krankheit meiner Mutter hatte fünf Tage gedauert, ich war nicht von ihrem Bett gewichen; eines Abends trat ich auf die Terrasse hinaus, frische Luft zu schöpfen; da sah ich den Arzt mit Madame Roland aus ihrem Zimmer treten. Ich stand im Schatten und konnte von ihnen nicht gesehen werden; sie sprachen leise zusammen; ich verstand von dem Arzte nur das Wort: Uebermorgen; und als die Frau abermals in ihn hinein sprach, wiederholte er das Wort ein paarmal hintereinander. Das war am Mittwoch gewesen, und am Freitag war meine Mutter tot. Das Wort fiel mir immer und immer wieder ein. Mir war es, als hätte es den Tod verkündet, doch meinte ich immer, er habe nur als Arzt auf die kurze Zeit aufmerksam machen wollen, die meiner Mutter noch vergönnt sei zu leben; aber wie sehr ich die beiden Personen auch jetzt noch verabscheue, an ein eigentliches Verbrechen hätte ich nie glauben mögen. Bald nachher fuhr mein Vater mit mir nach der Normandie, wo wir die erste Trauerzeit verleben sollten. Es dauerte aber nicht lange, so erklärte er, mich allein lassen zu müssen; aber Madame Roland werde sich meiner annehmen, da sie das Hauswesen hinfort führe. Es half mir nichts, daß ich mich weigerte, mit ihr unter einem Dache zu leben; mein Vater beharrte auf seinem Willen, und ich mußte mich fügen, so abscheulich mir diese Person war. Ich spreche deshalb so ausführlich über diese Zeit, weil ich über die Situation, in der ich mich damals befand, keinerlei Unklarheit bestehen lassen möchte, denn sie zwang mich, trotz einer Andeutung, die mich hätte aufklären sollen, Harville meine Hand zu geben. Noch ein anderer Schmerz blieb mir vorbehalten, denn diese Madame Roland war taktlos genug, die Räume zu beziehen, in denen meine Mutter gewohnt hatte. Mein Vater sagte aber auf meine Beschwerde, daß ich mich darüber nicht wundern, sondern mich daran gewöhnen solle, in der Frau meine zweite Mutter zu erblicken. Aber ich ließ keine Gelegenheit, die sich mir bot, unbenutzt, meinen Widerwillen gegen die Frau laut werden zu lassen. Darüber wurde er zornig und zankte mich in ihrem Beisein aus. Seine Gleichgiltigkeit gegen mich nahm so überhand, daß er sich um mich gar nicht mehr kümmerte, sondern mich tun ließ, was mir paßte, bis er mir eines Morgens erklärte, diesem unerquicklichen Zustande nach Ablauf unsrer Trauerzeit durch die Verheiratung mit Frau Roland ein Ende machen zu wollen. ›Unsre finanziellen Verhältnisse erfordern es,‹ sagte er, ›daß du dich vor mir verheiratest; dein mütterliches Erbe beziffert sich auf eine Million, die du zur Mitgift bekommen mußt. Ich werde mich von jetzt ab um eine passende Verbindung für dich umsehen. Verschiedene Anträge dazu liegen mir schon vor.‹ – Eines Tags kam Herr Dorval, der Notar meiner Mutter, mit geheimnisvoller Miene im Parke zu mir, wo ich in der Regel spazieren ging.

›Fräulein,‹ sagte er zu mir, ›ich möchte nicht von dem Herrn Grafen ertappt werden, aber lesen Sie den Brief da und verbrennen Sie ihn dann gleich; es handelt sich für Sie um etwas Wichtiges.‹ – Gleich darauf ging er. – In dem Briefe stand, daß ich mit dem Marquis von Harville verheiratet werden solle; es sähe ja so aus, wie wenn die Partie vortrefflich für mich stände; aber ich solle doch nicht vergessen, daß die Familien von zwei Mädchen, mit denen er schon verlobt gewesen sei, mit ihm kurz nach dem Verlöbnis gebrochen hätten. Weshalb, konnte mir der Notar nicht sagen; aber seine Pflicht sei es, mich hiervon zu unterrichten.«

Rudolf sagte nach kurzem Besinnen: »Ja, mir fällt ein, daß mir Ihr Mann in knapp einem Jahre von zweierlei Heiratsplänen erzählt hat, die sich, und zwar wegen Geldangelegenheiten, schrieb er, plötzlich zerschlagen hätten.« – Frau von Harville lächelte bitter und antwortete: »Sie sollen sogleich die Wahrheit erfahren. Natürlich wurde ich durch den Brief des Notars nicht bloß neugierig, sondern auch ängstlich. Wer war Herr von Harville? Mein Vater hatte nie mit einem Worte seiner erwähnt. Da fuhr auf einmal ganz unverhofft Madame Roland nach Paris. Sie sollte höchstens acht Tage abwesend sein, und doch wollte mein Vater sich gar nicht in die kurze Abwesenheit schicken. Den Tag nach ihrer Rückkehr beschied mich mein Vater zu sich. Er war allein mit meiner Stiefmutter . . . ›Morgen kommt Marquis von Harville,‹ sagte er zu mir, ›ein junger, sehr reicher und sehr talentvoller Herr. Er hat dich in Gesellschaft gesehen, ist entzückt von dir und bewirbt sich um deine Hand. Alles ist bereits geordnet, und du kannst in sechs Wochen eine glückliche Frau sein. Schlägst du aber – was ich nicht wünschen möchte – aus irgendwelcher Marotte die Partie aus, so wirst du dich doch verheiraten, und zwar nach meinem Willen, verstehst du? sobald meine Trauerzeit vorbei ist. Bis dahin wirst du dich in allen Hinsichten nach den Wünschen meiner Frau richten, sofern du länger in meinem Hause verweilen willst.‹«

›Ich hörte, lieber Vater, Herr von Harville sei bereits zweimal verlobt gewesen?‹ – ›Das weiß ich; aber,‹ antwortete mein Vater, ›es hat gar nichts auf sich; man ist in beiden Fällen nicht in der Geldfrage einig geworden. Hast du mir keinen andern Einwand zu nennen, so können wir dich schon als verheiratet ansehen, und zwar für glücklich verheiratet, denn ich wünsche weiter nichts als dein Glück!‹«

»Und Madame Roland?« fragte Rudolf. – »O, die Heirat war ihr eigenstes Werk. Sie wußte recht gut, warum sich die beiden Partien zerschlagen hatten, und eben darum lag ihr soviel daran, mich mit dem Marquis zu verheiraten. Sie wollte sich für den Haß, den ich ihr immer gezeigt, rächen dadurch, daß sie mir ein mehr als schreckliches Schicksal bereitete.« – »Das wäre ja geradezu bestialisch,« rief Rudolf, »doch wie verhielt es sich um den Marquis?« – »Er kam. Ich fand keinen häßlichen Mann in ihm, auf seinem Gesicht lag sogar ein gewisser Zug von Gutmütigkeit, nur seine Stimmung war etwas trübsinnig. Es berührte mich angenehm, daß er sich gegen einen greisen Diener sehr gütig zeigte, der ihn erzogen hatte. Kurz nach seiner Ankunft blieb Herr von Harville zwei volle Tage in seinem Zimmer. Mein Vater wollte ihn aufsuchen, um sich zu erkundigen, wie es ihm ginge. Aber der alte Diener erklärte, sein Herr leide an heftigem Kopfweh, so daß er niemand sehen könne. Als ich ihn am dritten Tage wiedersah, war er sehr blaß, sehr verändert. Aber je länger ich mit ihm zusammen war, desto liebenswürdigere Eigenschaften erkannte ich an ihm. Er erriet die Verhältnisse, die zwischen Madame Roland und mir bestanden. Mit vielem Takt gab er mir zu verstehen, daß er mich um deswillen nur um so mehr liebe und schätze. Ich sagte ihm, daß sich durch meines Vaters Wiederverheiratung die Vermögensverhältnisse zu meinen Ungunsten verschieben würden. Er ließ mich nicht ausreden, sondern bewies mir die vornehmste Uneigennützigkeit, so daß ich meinte, die Familien, mit denen er vor der meinigen in Beziehungen gestanden, müßten sehr eigen – wenn nicht gar habsüchtiger Natur gewesen sein. Je näher der Tag unserer Vermählung rückte, desto glücklicher pries sich Harville. Und doch sah ich ihn wiederholt recht traurig. Es schien ihm etwas schwer das Herz zu bedrücken, als wolle er mir ein tiefes Geheimnis anvertrauen, fände aber den Mut nicht dazu. Mir fielen seine beiden ersten Verlöbnisse ein, und wieder beschlich Angst und Bangen mein Herz. Mich überkam es wie eine Ahnung, daß ich in mein Unglück renne; das Leben im Vaterhause war mir aber so zur Qual, daß ich meine Besorgnis verscheuchte.«

Nach kurzer Pause begann sie wieder: »Ein paar Tage vor der Hochzeit kamen Harvilles Trauzeugen: Herzog von Lucenay und Herr von Saint-Remy. Eingeladen von meiner Seite waren nur die allernächsten Verwandten. Nach der Trauung umarmte mich mein Vater, auch Frau Roland. Mit heuchlerischer Freundlichkeit sagte sie zu mir, indem sie mir einen Kuß auf die Wange drückte: »Vergessen Sie mich nicht, wenn Sie sich in Ihrer Ehe recht glücklich fühlen, denn ich habe Sie verheiratet.« – Um elf Uhr war die Trauung vorüber, und eine Stunde später waren wir in Paris, wo wir in der zehnten Abendstunde eintreffen mußten. – Hätte ich von Herrn von Harville nicht gewußt, daß er im Glücke immer traurig sei, so hätte ich mich gewiß über sein Schweigen gewundert. Mich selbst hatte eine sehr große Trübnis befallen, als ich den Fuß in den Wagen gesetzt hatte, und sie verließ mich auch nicht, als ich vor Harvilles Hause ausstieg. Aber – zu Ende! Zu Ende!« rief sie heftig. »Wenn Sie nicht alles erführen, müßten Sie mich ja verachten! Wir gingen in die für uns bestimmten Gemächer. Die Dienerschaft ging. Wir waren allein. Mich beschlich eine schreckliche Angst. Vor Schluchzen konnte ich nicht sprechen. Aber – mein Gemahl hatte ein Recht an mir, und ich mußte mich fügen. Er trat auf mich zu, und da sah ich plötzlich, wie seine Augen sich mit Blut füllten . . . jäh packte er mich am Arme, wie wenn er ihn mir zerbrechen wollte . . . Vergebens suchte ich mich seiner eisernen Umklammerung zu entziehen. Er hörte mein Betteln nicht. Er hielt mich wie in einem Schraubstock. Sein Gesicht wurde durch gräßliche Zuckungen verzerrt. Die Augen rollten in ihren Höhlen. Vor dem Munde stand ihm blutiger Schaum. Und noch immer hielt er mich fest . . . bis endlich seine Finger sich lösten und er in einem Anfalle schrecklicher Epilepsie zu meinen Füßen niederschlug und wie eine tote Masse dalag . . . Das war meine Brautnacht! Das war die Rache, die meine böse Stiefmutter an mir nahm für den Trotz und den Haß, den ich ihr entgegengebracht!«

»Unglückliches Weib!« sagte Rudolf, tief ergriffen: »es ist entsetzlich!« – »O, was aber noch schrecklicher ist,« sagte Clemence, »o! daß diese Nacht ewig verflucht sei! – Mein Kind, mein Töchterchen, hat die schreckliche Krankheit von ihrem Vater geerbt!«

Die Marquise bedeckte das Gesicht mit den Händen und vermochte kein Wort mehr zu sprechen . . . Auch Rudolf schwieg.


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