Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Fünftes Kapitel.

Eine Verhaftung.

Der Mann, der einen Augenblick hinausgegangen war, kam jetzt mit einem andern breitschultrigen Manne wieder, aus dessen Gesicht Mut und Entschlossenheit leuchteten . . . »Na, Borel,« sagte er zu ihm, »das nenne ich ein feines Zusammentreffen! Nur immer herein! Trink ein Glas Wein mit!« – Schuri rückte Rudolf näher, auch die Schalldirne, dann flüsterte er, auf die beiden Eingetretenen weisend: »Vorsichtig! Es gibt was . . . es ist ein Spitzel . . . Augen und Ohren offen gehalten!«

Die beiden Banditen – der mit der griechischen Mütze, der schon einige Male nach Bakel gefragt hatte, und sein Kumpan – standen zusammen auf und machten ein paar Schritte zur Tür hin. Aber die beiden Polizisten stießen einen seltsamen Ruf aus und packten sie. Nun begann ein wildes Ringen. Im nächsten Augenblick drangen andere Polizisten in die Kaschemme, und vor der Tür blitzten Flintenläufe.

Der Kohlenträger benützte den Tumult, um auf die Schwelle zu treten und Rudolf einen Wink zu geben, indem er den rechten Zeigefinger an die Lippen führte. Rudolf winkte ihm aber ebenso schnell wie gebieterisch, sich zu entfernen, und verfolgte die weiteren Vorgänge mit aufmerksamen Blicken.

Der Mann mit der griechischen Mütze schrie und heulte vor Wut. Halb auf dem Tische liegend, schlug er so wild um sich, daß ihn drei Polizisten kaum halten konnten. Sein Genosse war wie zu Boden geschmettert. Er sah leichenblaß aus, und seine Kinnlade zitterte krampfhaft, aber er widersetzte sich nicht, sondern hielt ruhig die Hände hin, um sich die Handschellen anlegen zu lassen. Die Wirtin war an dergleichen Auftritte gewöhnt und verhielt sich ruhig hinter dem Schenktische.

»Was haben die beiden Menschen verbrochen?« fragte sie einen der Polizisten, mit dem sie bekannt war, und der als Borel angesprochen worden war. – »Gestern in der Sankt-Christoph-Straße eine alte Dame ermordet, um sie zu berauben. Die Arme hat kurz vorm Verscheiden noch ausgesagt, sie habe einen der beiden Räuber in die Hand gebissen. Wir hatten gleich Witterung, und mein Kamerad war vorhin ein paar Augenblicke allein hier, sich zu vergewissern, daß wir auf der rechten Fährte seien. Jetzt haben wir die beiden Mordgesellen.«

Den mit der griechischen Mütze mußten die Gendarmen mit Gewalt in den grünen Polizeiwagen heben, der andere, der wie Espenlaub zitterte, konnte sich auf den Füßen nicht halten. Auch er wurde von Polizisten in den Wagen geschoben.

»Mutter Ponisse,« sagte Polizist Borel, »lassen Sie sich vorm Rotarm warnen. Es ist ein boshafter Wicht, der Sie leicht bloßstellen könnte. Vor allem nehmen Sie weder ein Paket noch sonst etwas von ihm in Verwahrsam. Sie machten sich sonst der Hehlerei schuldig.« – »Keine Sorge, Herr Borel! Vorm Rotarm fürchte ich mich wie vorm Teufel. Weiß man doch nie, wohin er will und woher er kommt . . . Letztmals hieß es, er käme aus Deutschland herüber.«

Der Polizist faßte, bevor er die Kaschemme verließ, die anderen Gäste ins Auge. Als er Schuri sah, redete er ihn in fast liebevollem Tone an: »Na, auch hier, Tunichgut? Lange nichts von dir gehört! Wirst wohl, scheints, ein ganz artiges Büble?« – »Sintemalen der Schuri seinen Meister gefunden hat, lieber Herr Borel«, versetzte Schuri, Rudolf die Hand auf die Achsel legend. – »Oho, welch neues Gesicht?« rief der Polizist, »hab ich ja noch nie gesehen!« Und nun faßte er Rudolf scharf ins Auge, der aber leichthin erwiderte: »Werden auch wohl kaum Bekanntschaft miteinander machen, mein Lieber.« – »Nun, das wünsche ich in Ihrem eigensten Interesse«, versetzte der Polizist und sagte der Wirtin gute Nacht, worauf er noch scherzend sagte: »Ei, Mutter Ponisse, Ihre Kaschemme ist doch die richtige Mausefalle. Drei Mörder habe ich nun schon darin abgefaßt.« – »Hoffentlich sinds nicht die letzten«, erwiderte die Wirtin schmunzelnd, »jedenfalls bin ich durchaus zu Ihrem Befehl, Herr Borel!« Als der Polizist verschwunden war, setzte sie hinzu: »Na, Bakel kann sich gratulieren, daß er nicht da war. Der mit der griechischen Mütze hat ein paar mal nach ihm gefragt, es scheint also, daß sie Geschäfte mitsammen haben. Aber eine Frau wie ich verrät doch ihre Klienten nicht! Nanu! Wenn man den Wolf nennt, kommt er auch gerennt! Ein altes Sprichwort . . . Da ist ja der Bakel mit seiner Gesponsin!« und sie wies auf ein Paar, das eben über die Schwelle trat.

Keiner von den Anwesenden konnte sich eines Schauders erwehren; selbst Rudolf konnte sich bei all seiner Unerschrockenheit eines heimlichen Bangens nicht erwehren, als er das gräßliche Gesicht dieses Hünen von Räuber erblickte. Es war von bläulichen Narben der Kreuz und Quere zersetzt; durch das Vitriol waren die Lippen dick aufgetrieben, die Nase war quer durchschnitten so daß an ihrer Stelle bloß zwei häßliche Löcher sichtbar waren. Ueber ihnen funkelten zwei hellgraue, kleine, runde Augen wie ein Paar Luchsaugen. Eine flache, tigerartige Stirn war über die Hälfte verdeckt von einer fuchsroten, langhaarigen Pelzmütze.

Bakel war nur weniges über fünf Fuß hoch. Sein übermäßig dicker Kopf steckte zwischen breiten, mächtigen Schultern. Lange, muskulöse Arme, kurze, bis an die Fingerspitzen behaarte Hände und auswärts gebogene Beine vollendeten die Häßlichkeit dieses Menschen. – Das Weib, das an seiner Seite die Kaschemme betrat, war schon alt, ziemlich reinlich gekleidet, hatte ein grünes, rundes Auge, eine Hakennase, schmale Lippen, vorspringendes Kinn und ein Gesicht von maßloser Bosheit und Pfiffigkeit. Es weckte unwillkürlich die Erinnerung an das einer Eule. Rudolf sah sie scharf von der Seite an. Mit stummem Entsetzen hatte die Schalldirne dies Weib gesehen. Zitternd vor Angst rückte sie zu Rudolf und flüsterte: »Die Eule! – Mein Jesus! die Eule! Die Einäugige!«

Bakel trat an den Tisch, an dem Rudolf mit der Schalldirne und Schüri im Gespräch saßen, und mit rauher, hohler Stimme, die wie ein Tigergeheul sich anhörte, sagte er zu dem Mädchen: »Heda, Blondchen, laß die beiden allein mit sich fertig werden und rück zu mir heran!« –

Das Mädchen gab keine Antwort, sondern rückte noch näher an Rudolf heran. Die Zähne schlugen ihr vor Angst aufeinander . . . »Ich – ich werde nicht eifersüchtig werden«, sagte die Eule, indem sie das Gesicht zu einer schrecklichen Fratze verzog. Noch hatte sie ihr einstiges Opfer, »den Balg«, nicht wiedererkannt. – »Na, Dirndl«, rief der schreckliche Mensch, »hast keine Ohren? He?« Und er trat ihr um einen Schritt näher . . . »Kommst Du nicht gutwillig, so schlag ich dir ein Auge aus dem Kopfe, daß du aussehen sollst wie meine Eule hier. Und du, Schlankerl mit dem schneidigen Schnauzer, langst du mir die Dirne nicht auf der Stelle über den Tisch herüber, so kriegst du es mit mir zu tun!«

Die Hände vor das Gesicht schlagend, rief das Mädchen: »Ach Gott, Herr Rudolf, schützen Sie mich! Schützen Sie mich!« – »Nur ruhig, Kind, nur ruhig!« versetzte Rudolf, dem häßlichen Kerl unerschrocken in die Augen starrend; »wenn dir der Mensch da so zuwider ist, werde ich ihn zum Tempel hinausschmeißen.«

Bakel maß Rudolf mit einem Blicke maßloser Verachtung . . . »Du?« fragte er, den Ton langziehend. – »Ja, ich«, versetzte Rudolf und stand, der Bemühungen des Mädchens, ihn zurückzuhalten, nicht achtend, vom Tische auf.

Bei dem schrecklichen Ausdruck, den Rudolfs Gesicht annahm, wich Bakel unwillkürlich einen Schritt zurück; auch dem Mädchen und dem Schuri fiel der maßlose Ausdruck von Wut und Bosheit auf der Stelle auf, der die edeln Züge ihres jungen Gefährten plötzlich entstellte, und ihn ganz unkenntlich machte. Beim Kampfe mit Schuri hatte er nur Spott und Hohn gezeigt; Bakel gegenüber schien ihn jedoch ein so wilder Haß zu packen, daß ihm die Pupillen schier aus den Höhlen traten. Rudolf besaß jenen magnetischen, durchdringenden Blick, der Entsetzen erregt und jeden, auf den er sich richtet, fasziniert, so daß er den Blick nicht abwenden kann. Bakel zitterte, wich einen weiteren Schritt zurück und fuhr mit der Hand unter die Bluse. Er hatte das Vertrauen zu seiner Stärke verloren und suchte Hilfe bei seinem Dolche . . . Wahrscheinlich hätte ein Mord die Kaschemme mit Blut getränkt, wäre die Eule nicht Bakel in den Arm gefallen . . .

»Eine Sekunde, Mörderchen! Eine Sekunde! Die bei ihm sitzt, ist, weiß der Teufel! mein Balg, meine Jöhre, die mir Gerstenzucker mauste, statt ihn zu verkaufen! . . . Luderchen! Wo hast du denn gesteckt die lange Zeit über? Na, siehst, du kommst mir doch immer unter die Finger, Kröte! Aber ängstige dich weiter nicht. Einen Zahn werde ich dir ja nicht wieder ausreißen, aber Tränen will ich dir aus deinen schönen Augen locken, daß sie grün und blau werden sollen. Und schwarz ärgern sollst du dich über mich! Denk dir, Jöhre, jetzt weiß ich, wer dich in die Welt gesetzt hat. Im Bagno hat Bakel den Kerl getroffen, der dich zu mir brachte, als du noch ein ganz klein Püppchen warst. Denk dir nur, Jöhre, Vater und Mutter von Dir sind reiche Leute.« – »Was? Ihr kennt meine Eltern?« rief das Mädchen. – »Ja, mein Mann weiß, wer deine Mutter ist. Aber ehe ich leide, daß ers dir sagt, reiß ich ihm die Zunge aus. Er ist erst gestern noch mit dem zusammen gewesen, der dich zu mir brachte. Erst warst du bei seiner Frau, aber sie bekam kein Geld mehr für dich. Deine Mama hat sich nämlich nicht viel aus dir gemacht. Die hätts am liebsten gesehen, du wärest schnell gestorben. Aber der Mann, der dich zu mir gebracht hat, hat alle Ausweise über dich, sogar Briefe von deiner Mutter, und wenn er davon keinen Gebrauch macht, na, so hat er seine guten Gründe dazu. Aber flenne, soviel du willst, wer deine Mutter ist, erfährst du ganz sicher nicht.«

»Besser auch«, sagte das Mädchen, eine Träne aus den Augen wischend, »meine Mutter hält mich für tot.«

Rudolf hatte Bakel ganz vergessen über den Reden der Frau, und Bakel, als er sich nicht mehr unter der faszinierenden Gewalt von Rudolfs Blicken befand, war der Schwäche, die ihn befallen hatte, wieder Herr geworden. Daß der schmächtige Mensch daran denken könnte, sich mit ihm im Kampfe zu messen, wollte ihm nicht in den Sinn kommen, und im Vertrauen auf seine Riesenkraft trat er wieder zu dem Mädchen und rief der Eule grob zu: »Genug nun mit den Reden! Wenn du nicht herkommst, Mädel, dann zerfetze ich deinem jungen Laffen seine Fratze, damit ich dir noch schöner vorkomme, als er.«

Mit einem einzigen Satze war Rudolf über den Tisch hinüber. Bakel stellte sich in Fechtpositur, den Oberkörper zurückgeneigt und die beiden Arme vor sich hinstreckend, während er sich auf das eine seiner wuchtigen Beine wie auf einen Pfeiler stützte. Eben als Rudolf sich über ihn herstürzen wollte, ging die Tür der Kaschemme auf, und der Kohlenträger, ein Mann von fast sechs Fuß Höhe, trat rasch herein, schob den Meister Bakel beiseite, trat zu Rudolf heran und sagte diesem auf englisch ins Ohr: »Gnädiger Herr! Tom und Sarah warten am Ende der Straße.« – Rudolf machte, als er die Worte hörte, eine zornige Bewegung und warf einen Louisdor auf den Tisch. Dann rannte er zur Tür hin. Bakel wollte sich Rudolf in den Weg stellen. Rudolf aber versetzte ihm ein paar Faustschläge ins Gesicht, daß ihm Hören und Sehen verging. Wie betäubt wankte er zurück und stürzte mit halbem Leibe über den Tisch hin. Minuten vergingen, bis er sich wieder fassen konnte. Als er aber Rudolf hinter her rannte, war derselbe mit dem Kohlenträger schon im Straßengewirr verschwunden. Von der anderen Straßenseite her traten zwei Männer in die Kaschemme, fast außer Atem, wie von langem und schnellem Laufe. Als Bakel zurückkehrte, sah er noch, wie sich die beiden Männer in der Kaschemme verblüfft umsahen. Dann sagte der eine: »Gräßlich! Gräßlich! Abermals ist er uns entgangen« – »Geduld, Geduld!« sagte der andere, »jeder Tag ist vierundzwanzig Stunden lang, und ein Menschenleben währet, wenn auch nicht ewiglich, doch lange genug, um eine gestellte Aufgabe zu erfüllen.«

Die beiden Männer redeten in englischer Zunge.


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