Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Drittes Kapitel.

Ein Testament.

Frau von Orbigny war eine kleine, schmächtige Blondine mit fast weißen Lidern und mattblauen Augen. Ihr Blick war heuchlerisch, ihr Benehmen einschmeichelnd und hinterlistig; sie trat behutsam dem Notar näher . . . »Ihr Schreiben aus der Normandie,« wandte Ferrand sich an seine Klientin, »habe ich erhalten; was ist das für eine wichtige Sache, in der Sie mich zu sprechen wünschen?« – »Seit mich der brave Doktor Polidori an Sie gewiesen, sind Sie mir doch immer ein guter Berater gewesen,« sagte Frau von Orbigny leichthin. – »Seit er Paris verlassen,« versetzte der Notar, ebenso leichthin, »habe ich noch keine Nachricht von ihm, warte aber tagtäglich darauf.« Ferrand belog die Frau, denn er hatte Polidori erst den Tag vorher gesehen, um ihn unter dem Namen eines Dr. Vincent zu Martials nach Asnières zu schicken mit dem Auftrage, dort Luise Morel auf die Seite zu bringen. Eine ähnliche Absicht, diesen Bösewicht für sich zu gewinnen, der jetzt den Namen Bradamanti trug, führte Frau von Orbigny nach Paris.

»Um Polidori handelt es sich aber jetzt nicht,« nahm Frau von Orbigny wieder das Wort, »sondern um meinen Mann, dessen Gesundheit von Tag zu Tag schlechter wird, und der von früh bis spät von seinem Testamente faselt, mir aber nicht geben will, was mir dem Gesetze nach zusteht.« – »Und wie soll es mit seiner Tochter werden?« fragte Ferrand streng; »Herr von Harville hat mich seit etwa Jahresfrist mit der Führung seiner Geschäfte betraut; sollte also Ihr Mann etwas gegen sein Kind im Schilde führen, so hätten Sie meinerseits keine Unterstützung zu erwarten.« – »Nun, ich sage ja meinem Manne auch immer,« erwiderte Frau von Orbigny, »daß er kein Recht habe, sie zu enterben. Er meint aber, sie besäße von ihrer Mutter eine reichliche Million, und ihr Mann wäre ja auch Millionär; warum solle er also nicht mir hinterlassen, was nach dem Erbe von 25 000 Franks Rente, die er mir vermachen wolle, noch verbleibt?« – »Und warum weist er Sie an mich?« fragte Ferrand. – »Er will all meinen Skrupeln den Boden abschneiden: so sagte er; und darum sprichst du am besten mit einem Manne von so strenger Rechtlichkeit wie Notar Ferrand. Meint er, daß du nicht annehmen sollest, was ich dir anbiete, so wollen wir nicht weiter über die Ungelegenheit reden. Ich habe mich diesem seinem Wunsche gefügt, und demnach sind Sie unser Sachwalter und – Schiedsrichter.«

»Es geschieht nun wohl schon zum dutzendsten Male, daß man mich zum Schiedsrichter wählt, immer mit Bezug auf meine Rechtlichkeit. Es ist wirklich zum Verdrießlichwerden! Was habe ich von solchem Renommee? Doch immer nur Arbeit, Sorge, Verdruß!« – »Lieber Ferrand,« erwiderte Frau von Orbigny, »seien Sie mir gegenüber etwas nachsichtiger und schreiben Sie an meinen Mann ein paar Zeilen, daß er Ihnen Vollmacht übermittelt . . . zum Verkaufe . . .« – »Um welche Summe handelt es sich wohl?« – »Um 4–500 000 Franks.« – »Ich hatte mehr gerechnet. Nun, Sie haben sich für Ihren Mann geopfert. Ihre Tochter ist schon sehr reich, Ihnen kann Geld nur recht kommen. Also meine ich, unter solchen Umständen können Sie ohne Bedenken annehmen, was Ihnen Ihr Mann aussetzen will.« – »So? Meinen Sie?« erwiderte Frau von Orbigny, die sich wie alle Welt durch die sprichwörtliche Rechtlichkeit Ferrands täuschen ließ, war sie doch über diesen Punkt von Polidori noch nicht aufgeklärt worden; »nun gut,« schloß sie, »so will ich annehmen.«

Wieder pochte der Bureauvorsteher . . . »Wer ist denn schon wieder da?« rief Ferrand verdrießlich. – »Gräfin Mac Gregor.« – »Ich lasse bitten, einen Moment zu warten,« sagte der Notar. – »Leben Sie wohl, lieber Herr Ferrand,« sagte Frau von Orbigny, »und schreiben Sie meinem Manne wegen der Vollmacht, da er es nun doch einmal nicht anders haben will.« – »Sehr wohl,« erwiderte Ferrand. –

Frau von Orbigny ging, und Gräfin Mac Gregor trat ein.


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