Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Elfter Teil

Erstes Kapitel.

Im Bicêtre

Vierzehn Tage waren vergangen, seit Rudolf durch die Vermählung mit Gräfin Sarah Mac Gregor Marie, sein mit ihr gezeugtes Kind, legitimiert hatte.

Es war Mittfasten, und wir geleiten den Leser nach Bicêtre, jener großen Anstalt, wo Geisteskranke behandelt werden, die auch als Heimstätte für sieben- bis achthundert arme Invaliden gilt, wenn sie das siebzigste Jahr erreicht haben oder an schweren Gebrechen leiden; auch werden die zum Tode Verurteilten hierher gebracht.

In einem Abteil dieses Hauses sahen die beiden Weiber Martial, die Witwe und deren Tochter, dem Tage ihrer Hinrichtung entgegen. Nur einen Tag noch durften sie leben. Sie hatten weder um Begnadigung bitten, noch Berufung einlegen mögen . . . Niklas, das Skelett und andere Missetäter waren am Tage vor ihrer Abführung nach Bicêtre glücklich aus La Force entkommen.

Der Frühling war zeitig eingetreten; die Ulmen und Linden bedeckten sich bereits mit jungen grünen Blättern; die Rasenplätze und Beete schmückten sich bereits mit Schneeglöckchen und Primeln; die Sonne vergoldete den glitzernden Gartensand; die in grauen Röcken umherwandernden oder auf Bänken sitzenden Invaliden plauderten und ihre frohen Gesichter kündeten Seelenruhe und glückliche Sorglosigkeit.

Es hatte 11 Uhr geschlagen, als zwei Fiaker am äußern Gittertore anhielten; aus dem ersten stiegen Frau Georges, Germain und Lachtaube, aus dem zweiten Luise Morel mit ihrer Mutter.

Germain und Lachtaube waren seit vierzehn Tagen ein glückliches Paar. Aus dem blühenden Gesichte der jungen Frau, deren Lippen sich nur öffneten, um zu lachen, oder Frau Georges zu küssen, die sie Mutter nannte, strahlte die herrlichste Frohlaune, das reinste Glück.

Germains Züge verrieten ein ruhigeres Glück, in das sich neben selbstbewußtem Stolze ein Gefühl innigen Dankes für das gute mutige Mädchen mischte, das ihm so erquickenden Trost in das Gefängnis gebracht hatte. Lachtaube aber schien hieran längst nicht mehr zu denken. Sobald Germain das Gespräch hierauf brachte, sprach sie sogleich von etwas anderem, weil, wie sie meinte, diese Erinnerungen sie traurig stimmten. Ob sie gleich nun Madame Germain war und Rudolf sie mit einer Mitgift von 40 000 Franks ausgestattet, hatte Lachtaube doch mit Einwilligung ihres Mannes ihr Grisettenhäubchen nicht mit einem Hute vertauschen mögen, und allerdings kam die Bescheidenheit der unschuldigen Koketterie niemals besser zu statten, denn nichts konnte anmutiger und eleganter sein als ihr Häubchen mit Barben, das an jeder Seite mit zwei großen orange Schleifen ausgeputzt war, die das glänzende Schwarz ihres schönen Haares noch mehr hervorhoben, das sie in langen Locken trug, seit ihr Zeit genug blieb, sich Lockenwickel zu drehen. Ein reichgestickter Kragen umgab den reizenden Hals der jungen Frau. Ein persischer Schal von derselben Farbe wie die Häubchenbänder verhüllte halb ihre zierliche Taille: das hoch hinaufreichende Taffetkleid warf, trotzdem sie für gewöhnlich kein Korsett trug, nicht die kleinste Falte.

Frau Georges betrachtete mit glückstrahlender Miene ihren Sohn und sein Lachtäubchen: ihr Herz schwamm gleichsam in Wonne.

Luise Morel war nach einem eingehenden Untersuchungsverfahren von der wider sie erhobenen Anklage freigesprochen worden. Auf ihrem Gesicht lag freilich noch die Spur der überstandenen Haft recht deutlich ausgeprägt, aber die liebliche Milde ihres ganzen Wesens kam schon wieder zum wohltuenden Vorschein. Die Mutter, die sich in ihrer Begleitung nach Bicêtre begeben hatte, war zufolge der durch Rudolfs Freigebigkeit ihr zuteil gewordenen sorgsamen Pflege vollständig wieder gesundet.

Der Hauswart fragte Frau Georges, was sie hier suche, und als sie sagte, daß sie von einem der Irrenärzte – dem Doktor Herbin – auf halb zwölf Uhr mit den in ihrer Begleitung befindlichen Personen herbestellt worden sei, wurde ihr freigestellt, ob sie bis zu der festgesetzten Zeit auf dem Hofe verweilen oder ins Wartezimmer eintreten wolle. Sie entschied sich für das erstere und ging, auf ihres Sohnes Arm gestützt, in lebhafter Unterhaltung mit der Frau des armen Steinschneiders auf und ab. In gemessenem Abstande von ihnen schritten Luise und Lachtaube hinterher.


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