Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Zehntes Kapitel.

Die Meierei.

Rudolf verharrte nach dieser Unterhaltung eine Weile im ernsten Nachdenken. Das Mädchen getraute sich nicht, ihn zu stören, sondern blickte tieftraurig vor sich hin. Endlich blickte Rudolf auf und sagte, freundlich lächelnd: »Wo sind Sie mit Ihren Gedanken? Es ist Ihnen gewiß nicht recht gewesen, daß Sie den Schuri hier trafen? Nicht wahr? Wir waren doch so lustig!« – »Im Gegenteil, Herr Rudolf, es ist mir recht lieb, daß wir ihn getroffen haben, kann er Ihnen doch von Nutzen sein!« – »Nun, befassen wir uns nicht weiter mit der Sache, meine Liebe! Mir sollte es schmerzlich sein, wenn ich Sie betrübt hätte, bin ich doch nur in der Absicht hierher gefahren, um Ihnen einmal einen fröhlichen Tag zu bereiten.«

Je länger das harmlose Mädchen den Blick auf das stille, lachende Landschaftsbild gerichtet hielt, das sich vor ihren Augen ausbreitete, desto heller klärte sich ihr Gesicht wieder auf . . . »Ach, Herr Rudolf«, sagte sie, »sehen Sie doch das kleine Feuer dort unten auf dem Felde. Gewiß haben dort Leute Kartoffelkräutich in Brand gesteckt. Wie der weiße Qualm aufsteigt! Und dann dort den Pflug mit den beiden Schimmeln davor! O, wenn ich ein Mann wäre, dann möchte ich nichts anderes sein als Landwirt. Es muß herrlich sein, mitten auf stillem Felde hinter dem Pfluge herzugehen, fern draußen den großen Wald zu sehen . . . bei einem Wetter wie beispielsweise heute . . .«

»Nun, Kind, da du so artig bist«, sagte Rudolf scherzend, »wollen wir bis in die Meierei hinausfahren. Zu der Frau, die mich als Kind aufgezogen hat.« »O, wird das schön werden, Herr Rudolf! Da bekommen wir doch auch Milch?« »Natürlich, auch herrlichen Rahm, wenn Sie wollen, Butter von der besten Sorte und frische Tageseier.« – »O, will ich da vergnügt sein, Herr Rudolf!«

Aber da fiel ihr ein, daß der Tag zu Ende gehen und daß sie, wenn der Abend käme, wieder zurück in die Kaschemme werde wandern müssen, und daß ihr das schreckliche Leben nach dieser Abwechslung bloß noch schrecklicher vorkommen werde. Tief aufschluchzend bedeckte sie das Gesicht mit den Händen.

»Was ist Ihnen denn, Marienblume?« fragte Rudolf verwundert, »was macht Ihnen denn so tiefen Kummer?« – »Ach nichts, Herr Rudolf, nichts!« sagte sie, sich eine Träne aus den Augen wischend und ein mattes Lächeln versuchend, »seien Sie mir bloß nicht böse, daß ich betrübt bin! Es ist wirklich nichts, gar nichts . . . es war bloß ein Einfall . . . Ich werde gleich wieder lustig sein.«

Die Wolke leichten Trübsinns, die auf der Stirn des Mädchens stand, hatte sich schnell wieder verzogen. Marienblümchen wollte die Gegenwart genießen und sich mit der Zukunft nicht befassen.

Bald sah man nun die Kirchturmspitze von Saint-Denis. Eine Weile hatten sie still nebeneinander gesessen, Dann fragte Rudolf plötzlich das Mädchen: »Marienblume! Haben Sie schon einmal einen Mann lieb gehabt?« »Noch nie in meinem Leben, Herr Rudolf!« erwiderte das Mädchen, zur Beteuerung die Hand aufs Herz legend. »Und warum noch nie?« »Sie haben doch die Menschen gesehen, die das Haus meiner Dienstherrin besuchen? Und um jemand sein Herz zu schenken, darf noch kein Makel auf einem haften.« »Und haftet denn auf dir ein Makel?« – »Ich kenne doch meine Eltern nicht einmal, Herr Rudolf«, erwiderte sie schluchzend; »ach, Herr Rudolf, wenn ich Sie bitten darf, so sprechen Sie nicht weiter hiervon!« »Es sei, mein Kind! Laß uns von anderen Dingen sprechen . . . Aber weshalb schauen Sie mich so ernst an? Ihre hübschen Augen füllen sich schon wieder mit Tränen. Habe ich Ihnen etwa weh getan?« »Nicht doch! Nicht doch!« sagte sie, »aber Sie sind so lieb und gut zu mir, daß ich weinen muß, auch wenn ich es nicht wollte! Und dann sagen Sie auch nicht Du zu mir, wie im Wirtshause all die Menschen, die dort aus- und eingehen. Sie haben mich ja auch bloß hierher gebracht, um mir eine Freude zu machen, und wenn ich froh und lustig bin, dann zeigt auch Ihr sonst so ernstes Gesicht einen freudigen Ausdruck. Und dann haben Sie gestern für mich beinahe Ihr Leben gewagt!«

»Sie fühlen sich also heute wirklich glücklich?« fragte Rudolf. »Ich werde dies viele, viele Glück mein Leben lang nicht vergessen, Herr Rudolf! Habe ich doch nur wenig Freude gehabt auf Erden, so bescheiden ich in meinen Wünschen auch bin. Wenn ich bloß meiner Wirtin die Schuld abtragen könnte, in der ich ohne mein Verschulden bei ihr stehe, und dann soviel Geld hätte, daß ich ohne Sorgen leben könnte, bis ich Arbeit fände.«

Rudolf blickte ernst vor sich hin. Er gedachte des grausamen Schicksals, das auf dem armen Mädchen gelastet hatte; er gedachte ihrer Mutter, die vielleicht in Reichtum und Luxus lebte, vielleicht eine glänzende Rolle in der Welt spielte und geehrt, umschwärmt war . . . während ihr armes Kind, ein unglückliches Mädchen, der Schande überliefert werden sollte, die Dachkammer der Eule mit der Zelle einer Besserungsanstalt, diese wieder mit der Kaschemme einer herzlosen Zuchthäuslerin hatte vertauschen müssen! Das betrübte Mädchen sah ihrem Begleiter in das ernste Gesicht und sagte traurig zu ihm: »Seien Sie mir nicht böse, Herr Rudolf! Solche Gedanken sollte ich eigentlich gar nicht haben! Sie nehmen mich mit aufs Land hinaus, um mir ein paar heitere Stunden zu bereiten, und ich klage Ihnen die Ohren voll. Du mein Gott! Ich weiß nicht, wie es zugeht; es kommt mir ganz von selbst in den Sinn. Glücklicher als jetzt habe ich mich ja nie im Leben gefühlt. Wo kommen bloß die Tränen her, die mir die Augen füllen? Nicht wahr, Herr Rudolf, Sie sind mir nicht böse? Sehen Sie, die Traurigkeit vergeht ja wieder, so schnell wie sie gekommen ist . . .« Noch einmal blinzelte sie kräftig, um die Tränen aus den Augen zu entfernen, die sich immer wieder darin festsetzen wollten. Rudolf blickte sie mit innigem Mitleid an.

Der Fiaker hatte eben das Dorf Sarcelles passiert. Rudolf rief dem Kutscher zu, rechts abzubiegen, durch Villiers-le-Bel zu fahren und dann links immer gradeaus zu fahren . . . »Nun können wir wieder Luftschlösser bauen, Marienblümchen,« sagte er, »zumal es ja keinen von uns Geld kostet.« – »Nun, da wollen wir doch einmal sehen, ob ich raten würde, was für Luftschlösser Sie sich aussuchen möchten.« – »Nun, angenommen, dieser Pfad hier führte nach einem niedlichen, seitab von der großen Heerstraße gelegenen Dörfchen . . . das so recht hübsch hinter Bäumen versteckt und am Ufer eines Bächleins läge, neben einer Meierei, auf der einen Seite läge ein Obst-, auf der andern ein Gemüsegarten . . .«

»Aber, Herr Rudolf, dieses kleine Dörfchen liegt ja doch vor mir, dort drüben! Sehen Sie es denn nicht?« – »Und in dem Dörfchen steht ein schmuckes Landhäuschen, unten mit einer großen Küche für die Leute, oben mit einem saubern, nett eingerichteten Eßstübchen für die Pächterin, mit grünen Jalousien vor den Fenstern, und hübschem Mobiliar . . . Und die Pächterin, Kind, wäre Ihre Tante?«

»Ach, und die hätte mich lieb, so recht von Herzen lieb, Herr Rudolf«, rief das Mädchen in schwärmerischem Entzücken; »ach! wie schön muß es doch sein, von solcher Frau aufrichtig geliebt zu werden!« Sie faltete die Hände und wandte mit einem unbeschreiblichen Ausdruck inniger Freude die Augen zum Himmel empor . . .

»Und oben im ersten Stock«, fuhr Rudolf fort, »läge Ihr eignes Stübchen, Marienblümchen, mit zwei Fenstern, die auf Blumengarten und Wiese hinausgingen, und von wo aus Sie das kleine, muntere Bächlein sehen könnten. Und hübsch tapeziert müßte es sein und schöne Gardinen haben, ein großer Rosenstock und ein Jelängerjelieber sollten drin stehen, so daß Sie bloß die Hand auszustrecken brauchten, wenn Sie einen Blumenstrauß flechten wollten . . .« – »Ach, Herr Rudolf, wie schön Sie das alles auszumalen wissen! Da möchte man gern hundert Jahre alt werden, damit die Freude nie ein Ende hätte!«

Rudolfs Worte hatten sie der Wirklichkeit entrückt, aber nur auf Augenblicke, denn bald trat ihr die rauhe Wirklichkeit wieder vor die Seele . . . »Ach, Herr Rudolf«, sagte sie, »Sie haben mir doch eben recht weh getan. Einen Augenblick habe ich gemeint, im Paradiese zu sein, und nun . . .« – »O, das Paradies ist kein Traum, armes Kind, sondern eitel Wirklichkeit! Da, sehen Sie!« und er zeigte auf ein schmuckes, kleines Landhäuschen . . . »Kutscher, halt!«

Der Fiaker hielt. Marienblümchen blickte unwillkürlich auf. Wie staunte sie! Eine Weile lang kam ihr alles wie Zauberei vor . . . »Aber, Herr Rudolf«, sagte sie, »wie soll ich mir das alles deuten? Es ist doch nur ein Traum? Gott! Wie mich das alles unruhig und ängstlich macht!« – »Aber, Kind, du brauchst gar keine Angst zu haben, die Pächtersfrau ist meine Amme, und in dem Häuschen bin ich auferzogen worden. Heute morgen in aller Frühe habe ich an sie geschrieben, daß ich ihr einen hübschen Besuch bringen werde, und nun bist du da, und meine gute Amme wird mir recht geben, daß ich ihr so geschrieben habe.«

Der kleine Pachthof, wohin Rudolf das Mädchen brachte, lag dicht vor dem zwei Stunden von Ecouen entfernten, unbekannten, versteckt in einem Wäldchen liegenden Dorfe Bouqueval. Kaum hielt der Wagen, als eine Frau von etwa fünfzig Jahren, in der gewöhnlichen Tracht der reichen Pächterinnen in der Pariser Umgegend, mit ernstem, fast kummervollem Gesicht auf die Schwelle trat und Rudolf mit ehrerbietiger Eilfertigkeit entgegentrat. Marienblümchen errötete tief und stieg zaudernd aus . . .

»Grüß Gott, meine liebe Frau Georges«, sagte Rudolf zu der Frau, »wie Sie sehen, halte ich pünktlich Wort.« – Zu dem Kutscher sich wendend, sagte er: »Du kannst nun nach Paris zurückfahren. Da hast du dein Geld für die Fahrt!« – Der Kutscher, ein kleiner, untersetzter Mensch, der den Hut tief in die Augen hineingedrückt hatte, während der hohe Pelzkragen seines Mantels fast sein ganzes Gesicht verhüllte, steckte das Geld in die Tasche, ohne mit einem Worte zu antworten, setzte sich wieder auf den Bock, gab seinem Pferde die Peitsche und war mit Pferd und Wagen bald in der Allee verschwunden. Rudolf dachte: »Der Mann hats ja recht eilig, nach einer so langen Fahrt gleich wieder heimzukommen, kaum Zeit, sich umzusehen, und gesprochen hat er überhaupt nichts? Na, es geht ihm gewiß darum, den andern Tagesteil noch recht auszunützen.«

Da trat das Mädchen ängstlich auf ihn zu . . . »Aber, Herr Rudolf«, sagte sie, »Sie schicken ja den Wagen fort? Ich muß doch heute abend wieder bei meiner Dienstherrin sein! Sie müßte mich ja sonst für eine gemeine Diebin halten! Was ich auf dem Leibe trage, gehört doch ihr, und Geld für Wohnung und Kost bin ich ihr außerdem schuldig.« »Seien Sie ganz ohne Sorge, Kind«, erwiderte Rudolf, »und lassen Sie sich sagen, daß Sie der garstigen Frau in dem Wirtshause keinen Sou mehr schuldig sind, denn ich habe – seien Sie mir aber deshalb ja nicht etwa böse – alles für Sie bezahlt, was die Frau als Ihre Schuld von mir gefordert hat. Meine liebe Frau Georges wird Ihnen andere Kleider geben, solche, wie sie sich für Sie schicken, und die Ihnen auch passen werden . . . Sie sehen, als Tante entpuppt sie sich ja schon!«

Noch immer war es dem Mädchen, als ob sie träumte. Bald sah sie die Pächterin, bald Rudolf an und konnte gar nicht glauben, was sie hörte . . . »Herr Rudolf,« bat sie, »seien Sie nicht unbarmherzig! Sie täuschen mich doch nicht?« »Aber, Kind«, versetzte Rudolf mit einer Stimme noch immer liebevoll, aber doch auch wieder so ernst und würdevoll, wie sie ihn noch nie gehört hatte . . . »wenn es nach Ihrem Herzen ist, so können Sie hinfort hier bei Frau Georges das ruhige Stillleben führen, dessen Schilderung Sie noch eben in so hohem Maße entzückte. Wenn die gute Frau Georges auch nicht wirklich Ihre Tante ist, so wird sie doch, wenn sie mit Ihnen bekannter ist, innigen Anteil an Ihrem Schicksal nehmen, und in den Augen der Leute hier sollen Sie nicht anders angesehen werden als die Nichte der Frau. Wenn es auch eine kleine Unwahrheit ist, die wir da begehen, so wird sie doch beitragen, Ihnen Ihre Stellung hier nicht eben unangenehmer zu machen.«

Marienblume preßte die Hände über die Brust. Dankbarkeit, Freude, Staunen, Hochachtung kamen auf ihrem schönen Antlitz zum Ausdruck, wieder traten ihr Tränen in die Augen, und voll innigen Gefühls sagte sie: »Herr Rudolf, Sie müssen vom Himmel gesandt sein, einem armen, unglücklichen Wesen, das Sie gar nicht kennen, das Sie aus Not und Schande befreien, des Guten soviel zu erweisen.« – Rudolf erwiderte mit tief melancholischem Lächeln und einem Ausdruck unsäglicher Güte auf dem Gesicht: »Du armes Kind! Auch ich habe, trotzdem ich noch jung bin, des Unglücks viel erlitten. Das mag Ihnen mein Mitgefühl mit Unglücklichen erklären. Marienblümchen, oder wie ich Sie hinfort genannt wissen möchte, Marie, gehen Sie nun mit Frau Georges ins Haus hinein! Ehe ich zurück nach Paris reise, werde ich noch einmal mit Ihnen sprechen. Ich werde mein schönstes Glück mit mir nehmen, wenn ich höre, daß Sie sich hier wohl und glücklich fühlen.«

Marie gab keine Antwort, aber sie neigte das Haupt zu ihm herab, preßte einen dankbaren Kuß auf seine Hände und ging mit Frau Georges ins Haus hinein. Frau Georges betrachtete sie mit herzlicher Teilnahme.


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