Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Fünftes Kapitel.

Die letzten Stunden der Delinquenten: Mutter und Tochter.

Ein dunkler Gang, nur von wenigen Fenstern spärlich erleuchtet, führt in Bicêtre zu dem Kerker hinunter, in welchem die zum Tode verurteilten Verbrecher ihre letzten Stunden verleben.

Sein Licht erhielt die Zelle durch eine einzige Oeffnung im obern Teile der Tür, die auf den eben erwähnten, ebenfalls ziemlich dunklen Gang hinunter führte. In diesem Kerker mit niedriger Decke, mit feuchten und grünlichen Wänden und kalten steinernen Fliesen liegt Frau Martial mit ihrer Tochter in Ketten. Ihr Gesicht erscheint hart, starr und bleich wie ein Marmorbild in dem hier herrschenden Halbdunkel.

Ueber das schwarze Kleid, das sie an hat, hat man ihr die Zwangsjacke gezogen: eine Art Kutte aus grobem grauen Zeuge, die auf dem Rücken zusammengeschnürt wird und deren Aermel wie Säcke vorn zugebunden werden. Da sie infolgedessen die Hände nicht gebrauchen kann, hat sie sich die Haube, die ihr bei der drückenden Wärme lästig wurde, abnehmen lassen. Graues Haar fällt ihr auf die Achseln nieder. So sitzt sie auf ihrem Bett, hält die Füße auf den steinernen Boden gestützt und starrt unverwandt ihre Tochter an, die am entgegengesetzten Ende des Kerkers kauert.

Auch ihr ist die Zwangsjacke übergeschnallt worden. Sie lehnt sich in halb liegender Stellung gegen die Wand. Der Kopf ist ihr auf die Brust gesunken, ihr Atem geht kurz und schwer, ihre Augen blicken starr vor sich hin. Von Zeit zu Zeit werden ihre Kinnladen von heftigem Zittern befallen: ihr Gesicht hat aber, trotz der bleichen Farbe, die es überzieht, einen ziemlich ruhigen Ausdruck.

Neben der Tür, am andern Ende des Kerkers, sitzt ein mit dem Kreuze der Ehrenlegion geschmückter Invalide auf einem Holzschemel. Sein Gesicht ist rauh und verbrannt von der Sonne; ein langer grauer Schnurrbart ziert es. Sein Scheitel ist kahl. Er ist den beiden Delinquenten als Wächter gesetzt.

»Hundekalt ist's hier,« sagte die Tochter nach einer Weile, »und doch brennen mir die Augen, doch quält mich ein maßloser Durst.« – Sie wendet sich zu dem Invaliden und bittet ihn um Wasser.

Der greise Invalide erhebt sich, nimmt von der Bank einen Zinnkrug, gießt ein Glas daraus voll, tritt zu dem Mädchen und läßt sie langsam trinken. Da die Zwangsjacke sie am Gebrauch der Hände hindert, muß er ihr den Krug an den Mund halten. Als sie ihren Durst gelöscht hat, dankt sie dem Soldaten, der sich mit der Frage, ob auch sie trinken wolle, an die Mutter wendet.

Die Alte aber macht ein verneinendes Zeichen.

Darauf setzt sich der Invalide wieder.

Eine lange Pause tritt ein. Dann fragt die Tochter, wieviel die Uhr sei.

»Bald halb fünf,« antwortet der Invalide.

»Also noch drei Stunden!« ruft das Mädchen. Um ihre Lippen spielt ein gräßliches Lachen . . . »In drei Stunden also!« wiederholt sie. Dann schweigt sie. Es ist ihr nicht möglich, ein weiteres Wort zu sagen.

Die Mutter zuckt die Achseln . . . »Mutter,« sagt die Tochter, ihre Gedanken erratend, »du bist mutiger als ich. Ich glaube, dich wandelt nie Schwäche an?«

»Schwäche?« wiederholt die Mutter; »daß ich nicht wüßte . . . Hab das Ding nie gekannt, so alt ich bin.«

»Das seh' ich dir auch jetzt an, Mutter,« spricht die Tochter, »dein Gesicht ist so ruhig, wie wenn du meintest, am Küchenherde zu hocken oder bei deiner Flickarbeit . . . O, die gute Zeit, da wir auf der Insel zusammen saßen, ist vorbei – vorbei für immer!«

»Schwatz doch kein Blech!« rief knurrend die Alte.

»Soll man dasitzen und stieren?« fragte die Tochter, »da ist schwatzen doch noch besser!«

»Weils dich betäubt, feige Memme!«

»O, wenns bloß das wäre, Mutter!« erwiderte die Tochter, »aber wer ist denn so couragiert wie du, Mutter? Ich habe ja mein möglichstes getan, um dir nicht nachzustehen, habe, weil du es nicht leiden mochtest, nicht auf den Geistlichen gehört . . . vielleicht war es aber doch nicht recht von mir, denn« – die Delinquentin überrieselte es kalt – »was wird nachher kommen? Was – wird – nachher – kommen?« wiederholte sie mit schauerlicher Betonung.

»In drei Stunden – wirst du es – wissen!« antwortete die Mutter, den schauerlichen Tonfall der Tochter nachahmend.

»Wie kaltblütig du das aussprichst!« erwiderte die Tochter. »Mutter, Mutter! Du bist nicht krank, ich auch nicht – und doch sollen wir beide – in drei Stunden – zu leben – aufhören!«

»Ja doch,« versetzte die Mutter, »in drei Stunden wirds aus sein, wirst du vom Leben zum Tode gebracht worden sein wie eine echte Martial! Schwarz wird's dir vor den Augen werden, das ist das einzige! Sonst wirst du weiter nichts erleben – sonst weiter nichts!«

Mit langsamer, tiefer Stimme mahnte der Invalide zur Stille . . . »Daß Sie so zu Ihrem Kinde sprechen, alte Frau,« sagte er, »ist eine Sünde – eine schwere Sünde! Besser, weit besser hätten Sie getan, wenn Sie dem Geistlichen erlaubt hätten, mit ihr zu reden!«

Von neuem zuckte die Witwe die Achseln, und ohne dem greisen Soldaten einen Blick zuzuwenden, nur die Achseln verächtlich zuckend, sagte sie:

»Zeige dem Volke, das sich zu dem letzten Akte einfinden wird, Tochter,« – und sie versuchte die Hände wie mahnend aufzuheben – »zeige dem Volke, mein Kind, daß wir Weiber mehr Herz im Leibe haben als all dies Männerpack mitsamt ihren Pfaffen und ihren Soldaten! Memmen sind's, Memmen!«

Der Invalide faßte sie zornig ins Auge . . . »Kommandant Lebleu war der tapferste Offizier des dritten Jägerbataillons. In der Bresche zu Saragossa sank er, von Wunden bedeckt, nieder. Ich habe gesehen, wie er sich bekreuzte, bevor er die Augen auf ewig schloß.«

»Sie waren doch nicht etwa sein – Sakristan?« fragte höhnisch die Witwe. –

»Ich war sein Korporal,« erwiderte stolz der Invalide, »und wenn ich Ihnen von seinem Tode erzählte, geschah es nur zu dem Zwecke, um Ihnen zu zeigen, daß man im Sterben auch den Weg zum Gebet finden kann, ohne feige zu erscheinen.«

Die Tochter musterte den Invaliden, einen echten Soldatentypus aus der großen Zeit des Kaiserreiches, mit gespanntem Blicke. Ueber das sonnenverbrannte Gesicht zog sich eine tiefe Narbe, die sich an der linken Wange in dem grauen Schnurrbarte verlor. Seine schlichten Worte machten auf die Tochter einen tiefen Eindruck. Er war sicher einer der Tapfersten unter dem großen Kaiser gewesen: außer der Wunde im Gesicht verkündete es das rote Band im Knopfloche.

Das Mädchen hatte die Tröstungen des Geistlichen weniger aus Verstocktheit als aus falscher Scham und aus Furcht vor dem Hohne ihrer Mutter zurückgewiesen. Jetzt wirkten die Worte des greisen Soldaten im entgegengesetzten Sinne auf sie. Jetzt meinte sie, frei von der Furcht, feige zu erscheinen, ihrer religiösen Empfindung nachgeben zu dürfen, sagte sie sich doch, daß ihr als einem Weibe es schlecht anstehen möchte, hinter Männern zurückstehen zu wollen . . .

»Und wenn es nur eins genützt hätte,« schloß sie ihren Gedankengang, »wenn es mich bloß betäubt hätte – denn – was wird – nachher sein?« fragte sie wieder, von kaltem Schauder geschüttelt . . . »Nachher – wer weiß?«

»Nachher?« wiederholte die Witwe mit schneidendem Hohne . . . »es ist keine Zeit mehr! Aber wäre noch dazu Zeit, dann – hätte ich dir geraten, Nonne zu werden! Warte wenigstens mit deinem Gejammer, bis dein Bruder Martial da sein wird! Er wird dich sicher vollends bekehren . . . aber ich glaube kaum, daß er kommen wird, der überehrliche Mensch! und der überbrave Sohn!«

Kaum hatte die Witwe diese Worte gesprochen, als das ungeheure Schloß in der Tür knarrte und die Tür selbst geöffnet wurde.


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