Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Achtes Kapitel.

Eine Spazierfahrt.

Am andern Tage strahlte die hellste Herbstsonne an dem reinen blauen Himmel. Der Sturm hatte sich gelegt. Gegen elf Uhr vormittags trat Rudolf, der entweder ein neues Zusammentreffen mit dem Paare, das ihn gesucht hatte, nicht mehr scheute oder gar nicht mehr erwartete, an die Rue des Poix und schritt auf die Kaschemme zu. Er war noch immer in seiner Arbeitertracht, aber eine gewisse Eleganz in seinem Wesen, wie allem was er auf dem Leibe trug, ließ sich nicht verkennen. Unter einer neuen, vorn offnen Bluse trug er ein rotes Wollhemd mit blanken Knöpfen. Ueber dem schwarzseidnen Tuche, das er um den Hals geschlungen hatte, guckte ein weißer Hemdkragen freundlich hervor.

Auf der Schwelle saß die Wirtin. Im Nu war sie auf den Beinen . . . »Ah, junger Herr, gehorsamste Dienerin! Sie wollen doch gewiß das Geld haben, was Ihnen von den zwanzig Franks gehört, die Sie gestern mir auf den Tisch warfen? Es sind 17 Livres 10 Sous, die Sie herausbekommen. Aber ich kann vom Preise nichts herunterlassen, denn Sie haben ja vom Besten verlangt, und ich habe wirklich nichts Besseres in meinem Keller, als was ich Ihnen aufgetischt. Und nun noch eins! Es ist gestern stark nach Ihnen gefragt worden, gerade als Sie weg waren, von einem langen Herrn in sehr vornehmer Tracht und einer kleinen Dame, die aber in Männertracht ging.« »So? Die beiden Leutchen haben sich wohl zum Schuri gesetzt und sich mit ihm unterhalten?« »Jawohl, über dies und das mögen sie gesprochen haben, ich hörte den Rotarm nennen.« »Einerlei. Deswegen komme ich nicht wieder.« »Sondern wegen Ihres Geldes – nicht wahr?« »Ja, und mit dem Mädel, das hier die Schalldirne heißt, möchte ich einen Gang in die Umgegend machen.« »Das kann nicht sein, Herr, denn sie möchte vielleicht der Weg nicht wieder zu mir herführen.« »Und warum nicht?« »Nun, was sie auf dem Leibe trägt, gehört mir, und für Essen, Trinken und Wohnen ist sie mir außerdem 220 Franks schuldig.«

Rudolf zählte 11 Louisdor auf den Schenktisch . . . »Da haben Sie, was Ihnen das Mädel schuldet . . . Und was bekommen Sie für die Kleider, die Ihnen gehören?« Die alte Zuchthäuslerin war so verblüfft, daß sie sich im ersten Augenblick nicht rühren konnte. »Denkst doch nicht etwa«, sagte Rudolf, als sie endlich ein Goldstück nach dem andern vom Tische aufnahm und scharf musterte, »daß ich dir falsches Geld aufhängen will? Sprich, was bekommst du für die Lumpen, die das Mädel auf dem Leibe trägt?« – Noch immer außer stande, sich zu fassen angesichts einer solchen Summe Geldes, die von einem simplen Arbeiter ihr auf den Tisch geworfen wurde, und zwischen der Bange, übervorteilt zu werden, wie der Sucht, recht viel Vorteil noch aus der günstigen Gelegenheit für sich herauszuschlagen, hin- und herschwankend, überlegte sie einen Augenblick. Dann endlich fand sie Worte und sagte: »Nun, unter hundert Franks kann ich ihr die Kleider, die sie trägt, nicht lassen.« – »Frech, Weib, frech«, rief Rudolf, »für solchen Plunder solche Summe zu begehren! Doch da hast du das Geld. Aber schnell. Schaff die Dirne zur Stelle!«

In der Meinung, der Arbeiter müsse eine Erbschaft gemacht oder einen feinen Fang getan haben, knickste sie höflich und sagte, während sich ein gemeines Lächeln über ihr Gesicht stahl: »Und warum will der schöne Herr nicht selbst zum Dirndl gehen? Wird die eine Freude haben! Hab ich doch gestern gleich gesehen, daß sie sich einen Narren an ihm gefressen hat!« – »Ich sage Euch, geht und holt sie!« rief Rudolf barsch; »sagt ihr, ich wolle mit ihr einen Ausflug aufs Land machen. Kein Wort mehr! Vor allem nichts davon, daß ich bei Euch ihre Schulden bezahlt habe.« – »Jesus! Schneiden Sie bloß nicht solches Gesicht!« rief die Frau; »der Gottseibeiuns sei denen gnädig, die mit Euch anbinden! . . . Jesus! Ich gehe ja schon! Ich gehe ja schon!«

Nach Verlauf weniger Minuten kehrte sie mit dem Mädchen zurück, das tief errötete, als sie Rudolfs ansichtig wurde, und verlegen die Augen niederschlug. – »Wollen Sie einen Tag mit mir aufs Land hinausfahren?« fragte Rudolf. – »Gern, Herr«, antwortete das Mädchen, »sofern es meine Herrin erlaubt.« – »Hab nichts dawider«, erwiderte diese, worauf Rudolf, ohne weitere Worte zu machen, des Mädchens Arm nahm und mit ihm über die Schwelle schritt. Am Blumenkai wartete ein Fiaker. Rudolf forderte das Mädchen auf, einzusteigen, und rief dem Kutscher zu: »Nach Saint-Denis. Wohin du dort fahren sollst, werde ich dir später sagen.«

Der Wagen fuhr weg. An dem wolkenlosen Himmel stand die helle Herbstsonne. Durch die Wagenfenster strich die frische Luft . . . Da erst sah die Sängerin, daß sie auf einem Kleidungsstücke saß . . . »Was? Ein Mantelett?« rief sie. »Ja, für Sie!« erwiderte Rudolf, »damit Sie nicht frieren. Nehmen Sie es um!«

Marienblume, an derartige Zuvorkommenheit nicht gewöhnt, sah Rudolf mit Verwunderung an. Es war ihr eigentümlich zumute. Rudolf flößte ihr einerseits Furcht ein, anderseits fühlte sie sich von gewisser Traurigkeit beschlichen, ohne daß sie imstande war, sich über beide Empfindungen Rechenschaft zu geben . . . »Aber, Herr Rudolf,« sagte sie, »Sie sind so lieb und nett gegen mich. Ich muß mich ja schämen.« »Schämen? Weil ich manierlich gegen Sie bin?« »O, mir kommt es so vor, als wenn Ihre Art, mit mir zu sprechen, heut eine ganz andere wäre als gestern?« »Na, welcher Rudolf hat Ihnen denn besser gefallen, der von heute oder der von gestern?« »So sehe ich Sie schon lieber, wie Sie heute sind«, sagte das Mädchen, »und doch war es mir gestern, als ständen wir einander näher«; aber von Bange erfüllt, daß sie Rudolf durch diese Worte gekränkt haben könne, lenkte sie gleich wieder ein und sagte: »Wenn ich sage, Herr Rudolf, es sei mir gewesen, als hätten wir einander näher gestanden, so weiß ich doch recht gut, daß so etwas nicht sein kann . . .« »Aber, Mädchen, Sie scheinen völlig zu vergessen, was Ihnen die alte Hexe gestern sagte, die Sie Eule nannten!« »Daß Sie meine Mutter kennen? O nein, das vergesse ich nicht, lieber Herr Rudolf, nein, nein! Habe ich doch die ganze Nacht darüber geweint und sinniert, aber ich glaube bestimmt, daß an der ganzen Sache kein wahres Wort ist, und daß die Eule das alles bloß ausgedacht hat, mich recht zu quälen.« »Es kann aber auch sein, daß die Eule mehr weiß, als Sie denken, Kind! wäre es Ihnen nicht recht, wenn sich Ihre Mutter wiederfände?« »Ach, Herr Rudolf, was könnte es nützen, daß ich meine Mutter fände, wenn sie doch nichts von mir hat wissen mögen? Und wenn sie mich lieb haben sollte, möchte sie sich wohl um der Schande willen, in der sie mich findet, zu Tode grämen!« – »Hat Ihre Mutter Sie geliebt, so wird sie Ihnen auch verzeihen und wird Sie auch lieben. Und wenn sie sieht, in welches Elend ihre Lieblosigkeit Sie gebracht hat, wird sie sich selbst schämen müssen, und das wird Rache genug für Sie sein.«

In diesem Augenblicke fuhr der Wagen an der Stelle vor, wo sich die Straße von Saint-Denis mit chemin de la révolte schneidet. Trotzdem die Gegend an landschaftlicher Schönheit kaum etwas aufzuweisen hatte, war Marienblümchen so außer sich vor Freude, daß sich ihr allerliebstes Gesicht schier verklärte. In die Hände klatschend, beugte sie sich zum Wagenschlage hinaus und sagte: »Herr Rudolf, ach! wie glücklich ich mich fühle! Gras und Felder! Ach, wenn ich aussteigen dürfte! Wie gern ich auf den Wiesen herumlaufen möchte!« – »Dann gut, mein Kind! Wir wollen ein bißchen draußen auf und ab gehen. Kutscher, halten Sie doch!«

Die Freude des Mädchens und die Weise, wie sie sich zum Ausdrucke brachte, zu schildern, will ich nicht versuchen. Der Leser und die Leserin möge sich vorstellen, mit welcher Lust ein Vögelchen die freie Luft begrüßt, das lange in einem engen Käfige geschmachtet hat. Bald lief sie, bald sprang sie, bald bückte sie sich, um einige Blümchen am Wegrande zu pflücken, bald blieb sie ermattet stehen, um Atem zu schöpfen, oder setzte sich auf einen Stamm neben einem tiefen Bache, seinem leisen Gemurmel lauschend. Der durchscheinende weiße Teint bekam eine frischere Farbe. Ihre großen blauen Augen leuchteten in mildem Glanz; ihr rosiger Mund zeigte zwei Reihen glitzernder Perlen, ihr Busen wogte unter dem alten Schaltuche, das sie um hatte, und während sie die eine Hand aufs Herz legte, es zu beruhigen, reichte sie mit der andern Rudolf den Feld- und Waldblumenstrauß, den sie gepflückt hatte.

Ein seltsames Ereignis sollte die Freude des Mädchens jäh vernichten.


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