Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Zweiter Teil.

Erstes Kapitel.

Der Abschied.

Marie war, als Rudolf die Meierei verließ, kaum wiederzuerkennen in ihrem schneeweißen Musselinkleide, mit dem züchtigen Busentuch und dem schmucken Häubchen, unter dem die beiden dicken blonden Zöpfe hervorquollen, das jungfräuliche Gesicht zierlich umrahmend. Bevor er den Fuß über die Schwelle setzte, nahm er Madame Georges beiseite . . . »Nun, meine liebe Frau Georges, was halten Sie von Fräulein Marie?« – »Ich sagte Ihnen schon, lieber Herr Rudolf, daß sie in meiner Stube auf die Kniee niedersank, als sie das Kruzifix erblickte, und welch tiefes religiöses Gefühl sie dabei offenbarte, das kann ich Ihnen gar nicht schildern. Ich bin aber der festen Ueberzeugung, daß ihr Gemüt noch völlig unverdorben ist. Die Art, wie sie ihre Dankbarkeit gegen Sie zum Ausdruck bringt, ist auch so natürlich, so aufrichtig, so frei von aller Ziererei, daß sich an ihrer Aufrichtigkeit durchaus nicht zweifeln läßt. Ganz verzückt wurde sie, als ich ihr sagte, daß sie hier bleiben solle, daß sie nicht wieder in das garstige Wirtshaus zurückzugehen brauche. Sie umschlang meine Kniee und bat mich, ihr eine gute Freundin, eine liebe Mutter zu sein. Das tut niemand, Herr Rudolf, dem es nicht ernst darum zu tun ist, sich jemals Liebe zu sichern. Ich habe ihr auch gesagt, daß sie immer mein Kind hinfort bleiben werde, denn ich wüßte, wie schwer sie in ihrem bisherigen Leben gelitten habe.«

»Nun, so hätte ich ja wieder einmal Gelegenheit gefunden, meine liebe Frau Georges, mich als guter Mensch zu zeigen. Ich bin ebenso überzeugt wie Sie, daß das arme Ding Ihre Teilnahme verdient, und daß Sie hier, um zu ernten, nur zu säen brauchen. Mariens Gegenwart wird Ihnen in mancher Hinsicht eine Wohltat sein, liebe Frau Georges. In gewissem Grade wird Sie die Leere in Ihrem Herzen auszufüllen vermögen.« – »Nun, ich will mich mit ihr zu befassen suchen, wie ich mit ihm mich befaßt hätte«, erwiderte die Frau mit Tränen in den Augen.

Rudolf nahm ihre Hand . . . »Geben Sie noch immer nicht alle Hoffnung auf, gute Frau Georges«, sagte er, »wenn auch unsere Nachforschungen bislang ergebnislos verlaufen sind, so ändert sich hierin doch vielleicht bald einiges. Gestern habe ich einen gewissen Rotarm zu sprechen gesucht, konnte ihn aber leider noch nicht treffen. Ich vermute, daß er imstande ist, Auskunft über Ihren Sohn zu geben. Als ich den Fuß aus seinem Hause setzte, geriet ich mit einem andern Menschen in Streit, weil er dieses arme Mädchen mit Schlägen bedrohte, und so hat es sich gefügt, daß ich Ihnen Marien zuführen konnte. Vorgenommen habe ich mir ja schon lange, Einblick in die Lebensweise dieser Gattung Menschen zu gewinnen, denn ich meine bestimmt, auch dem alten Satan dort noch ein paar andere Seelen zu entreißen. Haben Sie Nachricht von Rochefort?« setzte er mit ernster Miene hinzu. – »Nein«, antwortete Frau Georges, am ganzen Leibe zitternd. – »Nun, um so besser. Der Unmensch wird den Tod in dem Schlamme gefunden haben, dem er zu entrinnen suchte. Sein Signalement ist ja in aller Leute Händen, und wenn es sich um einen solchen Bösewicht handelt, werden doch von der Polizei alle Register gezogen. Acht Wochen ist er nun freilich schon aus dem Bagno heraus . . .«

Rudolf stockte unwillkürlich . . . Die Frau fiel ihm ins Wort . . . »O, sagen Sie es nur! Ja, vor acht Wochen ist er ausgebrochen, meines Sohnes Vater!« – Wieder erbebte die Frau am ganzen Leibe. – »O, wenn das unglückliche Kind noch lebt, wenn es seinen Namen nicht geändert haben sollte, wie ich . . . o, dann welche Schmach! Welche Schmach! O, und wer weiß, vielleicht hat sein Vater gar die schlimme Drohung, die er gegen mich ausstieß, wahr gemacht?« – Sie hielt eine Weile inne, das Gesicht mit den Händen bedeckend . . . »Herr Rudolf, zuweilen befällt mich eine schreckliche Angst, denn mir ist immer zu mute, als ob mein Mann gesund aus Rochefort entkommen sei und mit der Absicht sich trüge, mir nach dem Leben zu fahnden, wie er wohl auch meinen Sohn schon ermordet haben mag, denn was sollte er sonst mit ihm angefangen haben?«

»Sie sagten mir«, erwiderte Rudolf, »er habe vor fünfzehn Jahren ins Ausland fliehen wollen? Da mußte ihm freilich ein Kind in solchem Alter beschwerlich sein.« – »O, lieber Herr Rudolf, als mein Mann« – die unglückliche Frau erbebte wieder, als sie dieses Wort über die Lippen brachte – »an der Grenze verhaftet und ins Gefängnis überführt wurde, wo ich ihn sehen durfte, da rief er mir die schrecklichen Worte zu: »Dein Kind habe ich an mich genommen, weil du an ihm mit deinem Herzen hängst, und weil es mich in die Lage setzt, Geld von dir herauszupressen. Dich gehts nichts an, ob es am Leben bleibt oder stirbt. Lebts, so wird es sich in den besten Händen befinden: darauf verlaß dich; stirbts, soll seine Schande über dich kommen, wie du schon seines Vaters Schande zu schleppen hast.« Vier Wochen später war mein Mann zu lebenslänglichem Bagno verurteilt. Seitdem hat all mein Schreiben, all mein Bitten nichts gefruchtet; kein Wort habe ich vernommen von dem Schicksale meines Kindes, das damals fünf Jahre alt war, und jetzt, wenn es noch lebt, in sein zwanzigstes Jahr tritt . . . Ach, Herr Rudolf, wo mag mein Sohn sein? was mag aus ihm geworden sein?«

»Hatte Ihr Sohn denn gar kein Zeichen an sich, woran er sich erkennen ließe?« fragte Rudolf. – »Nein, Herr Rudolf«, sagte Frau Georges, »nur den kleinen heiligen Geist, in Lapis Lazuli geschnitten, den er an einem silbernen Kettchen am Halse trug. Von meiner Mutter ererbte ich dieses vom Heiligen Vater geweihte Kleinod. Sie trug es schon als Kind und hielt es in hohen Ehren. Auch ich habe es getragen, bis ich es meinem Sohne umhängte. Und gerade dieser Talisman sollte ihm zum Verderben werden. Ach, der arme Knabe! der arme Knabe!«

»Wie kann man das sagen, liebe Frau Georges? Wie kann man zweifeln an Gottes Allmacht?« – »Ich zweifle gewiß nicht, Herr Rudolf, an Gottes Macht und Gottes Güte. Hat mich nicht seine Güte schon mit Ihnen bekannt gemacht, Herr Rudolf?« – .Wohl, wohl, meine liebe Frau Georges! Aber es hätte nur schon früher geschehen sollen! Da wäre Ihnen doch manches Jahr des Kummers erspart worden!« – »Es ist mir ja der schwerste Kummer durch Sie genommen worden, Herr Rudolf! Sie haben dies Gut für mich gekauft . . .« – »Und zufolge Ihrer trefflichen Verwaltung, liebe Frau Georges, bringt mir dies Gut . . .« – »Aber, Herr Rudolf,« unterbrach ihn Frau Georges, »zahle ich nicht den Pachtschilling an unsern braven Abbé Laporte? Und wird er nicht auf Ihren Wunsch an die Armen verteilt?« –

»Sie haben den lieben Mann doch von meiner Ankunft unterrichtet? Ich möchte ihm gern meinen kleinen Schützling ans Herz legen. Meinen Brief hat er doch bekommen?« – »Gleich am Morgen seines Eintreffens hat ihn Herr Murph dort abgegeben.« – »Ich habe dem Abbé darin erzählt, wie es sich mit dem armen Mädchen verhält, weil ich noch nicht genau wußte, wie es sich mit meiner Herkunft machen würde. Hätte ich nicht kommen können, so hätte Murph das Mädchen hergebracht.« –

Ein Bauer trat in den Garten, wo sich Rudolf mit Frau Georges unterhielt, und sagte zu Frau Georges, daß der Herr Pfarrer auf sie warte. – »Sind die Postpferde zur Stelle?« fragte Rudolf. – »Eben werden sie eingespannt, Herr Rudolf«, erwiderte der Mann. – Frau Georges, der Pfarrer, sowie alle auf dem Pachthofe beschäftigten Leute kannten Mariens Beschützer unter keinem andern Namen als dem eines Herrn Rudolf. – »Was ich Ihnen noch sagen möchte, liebe Frau Georges«, nahm Rudolf wieder das Wort, als er mit der wackern Frau zum Wohnhaus zurückging, »Marie hat meines Wissens eine recht schwache Brust; es wird gut sein, einen tüchtigen Arzt zu Rate zu ziehen; Sie lassen mir doch recht oft Nachricht zukommen, wie es ihr geht? Wenn sie sich erholt hat, wollen wir uns mit ihrer Zukunft befassen. Ich meine, es wäre wohl das beste, wenn sie immer bei Ihnen bleiben könnte. Darüber läßt sich aber erst sprechen, wenn Sie sagen können, daß Sie in allen Hinsichten zufrieden mit ihr sind.«

»Das ist mein heißer Wunsch, Herr Rudolf! Ich möchte, das Mädchen könnte mir mein Kind ersetzen, das den Gegenstand meiner steten Sehnsucht bildet.« – »Hoffen wir das Beste für Sie und für Marien!«

Gerade als Rudolf mit Frau Georges sich dem Wohnhause näherte, betraten es auch Murph und Marie. Murph ging jedoch, sobald er Marien der Frau Georges übergeben, wieder aus dem Zimmer, um die Zurüstungen zur Abreise zu treffen. Am Kamine saß der weit über achtzig Jahre alte Abbé Laporte, der an dem Kirchlein schon seit der Revolution angestellt war. Sein hageres Gesicht war von weißem Haare eingerahmt, das tief auf den Kragen und auf die Soutane niederfiel. Die Hände zitterten ihm, als er sie aufhob, die Eintretenden zu segnen . . . »Herr Abbé«, sagte Rudolf, indem er sich tief vor dem Greise verneigte, »Frau Georges will so gut sein, sich des armen Mädchens anzunehmen, und auch Sie, Herr Abbé, möchte ich recht bitten, ihr mit Liebe entgegenzukommen.« – »Auf unsre Liebe hat sie ein Recht wie alle, die sich uns mit Liebe nahen. »Gottes Güte ist unerschöpflich, mein liebes Mädchen, und er hat es Ihnen bewiesen dadurch, daß er Sie in den schmerzlichen Prüfungen, die er über Sie verhängte, nicht verließ, sondern schützend die Hände über Sie hielt. Der edle Mann, der Sie aus Not und Drangsal rettete, hat das Wort der Schrift erfüllt, das da heißt: Der Herr ist nahe denen, die ihn anrufen; er wird die erhören, die ihn fürchten; er wird ihre Stimme erhören und sie erretten. – Auch an Frau Georges werden Sie ein Beispiel Seiner Güte vor Augen haben, und in mir jederzeit einen willigen Ratgeber. So wird der Herr in Seiner Güte sein Werk vollenden.«

»Und ich werde«, sagte Marie, »zu Ihm beten für die, welche Mitleid mit mir gehabt und mich wieder zu Ihm geführt haben, mein Vater«, sagte Marie, mit einer fast unwillkürlichen Bewegung vor dem Geistlichen auf die Kniee sinkend. – »Und nun leben Sie Wohl, Marie«, sagte Rudolf, ihr ein goldenes Kreuz an schwarzem Samtbande gebend; dann setzte er hinzu: »Nehmen Sie das kleine Kreuz zum Andenken an mich! Ich habe heut morgen den Tag Ihrer Befreiung und Erlösung eingravieren lassen – es wird ja nicht lange dauern, bis ich wieder herkomme . . .«

Murph öffnete, während Marie das Kreuz inbrünstig an die Lippen drückte, die Tür und meldete, daß die Pferde angespannt seien . . . »Leben Sie wohl, mein Vater«, sagte Rudolf zu dem Abbé, »leben Sie wohl, meine gute Frau Georges! Ich lege Ihnen Marien ans Herz . . . Und Sie, Marie! Noch einmal lebewohl!«


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