Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Zweites Kapitel.

Die Löwengrube

Einer der Höfe im Zuchthause La Force heißt die Löwengrube. Hier befinden sich meist diejenigen Gefangenen beieinander, die wegen ihres Vorlebens, wegen ihrer Unbändigkeit oder wegen der schweren Anklagen, die auf ihnen lasten, als die gefährlichsten gelten. Nichtsdestoweniger hatte man wegen eines notwendigen Umbaues sich gezwungen gesehen, andere Gefangene hierher zu weisen, die, ob sie gleich auch vor dem Schwurgericht erscheinen sollten, im Vergleich mit den andern hier Internierten fast als rechtschaffene Leute gelten konnten.

Hier saßen auch, um nur einige zu nennen, deren Bekanntschaft unsere Leser bereits gemacht haben, Barbillon und Niklas Martial. Das Kommando unter den Sträflingen, das heißt die tonangebende Stimme führte hier ein langer, knochendürrer Mann, der den Spitznamen »Skelett« führte und im Alter von etwa 40 Jahren stehen mochte. Während unter seinen Kameraden zumeist Gesichter zu sehen waren, die eine gewisse Aehnlichkeit mit Raubtieren, wie Fuchs, Wolf, Tiger, oder Raubvögeln, wie Habicht und Geier, aufwiesen, erinnerte das Gesicht des Skeletts wie die ganze Schädelbildung an das Haupt einer Schlange: Die kleinen schielenden Augen lagen tief, die Augenbogen und die Backenknochen standen so weit vor, daß man unter der gelblichen Stirn, auf der das Licht spielte, zwei buchstäblich mit Schatten ausgefüllte Augenhöhlen sah und die Augen in geringer Entfernung in der Tiefe jener dunklen Höhlen zu verschwinden schienen, die Totenköpfen ein so grauenhaftes Aussehen geben. Die langen Zähne, deren vorstehende Fächer sichtbar durch die gleichsam gegerbte Haut der Kinnlade durchschimmerten, wurden, da sich der Mund fast immer zu einem gemeinen Lächeln verzerrte, fast fortwährend sichtbar.

Vervollständigt wurde die Aehnlichkeit durch die rückwärts verlaufende Stirn und durch flache, langgezogene knochige Kinnladen, die auf einem Halse von widerlicher Länge ruhten, oder vielmehr in einem fort wackelten. Dieser Mensch, den die Verbrecherwelt unter dem häßlichen Spitznamen »Skelett« kannte, hatte fünfzehn Jahre im Bagno gesessen wegen Raubes und versuchten Mordes, war aus dem ersten Zuchthause ausgebrochen und kurz darauf wieder wegen Raubmordes ergriffen worden. Nur mit knapper Not war er bei dem neuen Verbrechen dem Fallbeile entgangen.

Das Skelett war vom Zuchthausdirektor wegen seiner körperlichen Stärke, und weil er auf die übrigen Gefangenen großen Einfluß hatte, zum Aufseher über den Schlafsaal gesetzt worden und versah sein Amt so untadelhaft, daß kein Gefangener versucht hätte, gegen die Dinge zu verstoßen, für die das Skelett die Verantwortung hatte. Schon seit einiger Zeit war es aufgefallen, daß Skelett Germain vollständig ignorierte, und wer ihn und seine Art kannte, erwartete für den jungen Menschen nichts Gutes. Jetzt stand er mit verschiedenen Sträflingen, darunter Barbillon und Niklas, in einer Gruppe zusammen. Sie sprachen leise, so daß sie kaum gehört wurden, und zwar über Germain . . . »Dieser Duckmäuser muß beseitigt werden. So ein Kerl, der so wenig redet, spitzt die Ohren desto mehr,« sagte Skelett; »ich bin fest überzeugt, daß er spioniert. Das beste ist, wir brechen Zank mit ihm vom Zaune und machen ihn dabei kalt.« – »Aber wie? Wir haben doch keinerlei Werkzeug dazu,« sagte Niklas. – »Hast du Lust, deinen Hals zwischen diesen Schraubstock zu klemmen?« fragte Skelett höhnisch und krümmte seine langen, dürren und eisenharten Finger. – »Oho! Erwürgen willst du ihn?« – »Na, wenigstens ein bißchen schnüren!« – »Wenn es aber herauskommt, daß du ihn um die Ecke gebracht?« – »Bin ich ein Kalb mit zwei Köpfen, das man auf Jahrmärkten für Geld sehen läßt?« fragte Skelett höhnisch. – »Stimmt! Einmal kann man den Kopf bloß verlieren, und daß es dir bevorsteht, ihn einzubüßen, weißt du wohl.« – »Der Advokat hat's mir erst gestern gesagt,« erwiderte das Skelett: »hat man mich doch abgefaßt, während das Messer noch dem letzten, den ich kalt machte, in der Kehle saß. Die Sache leidet also keinen Zweifel, zumal ich ja schon wiederholt wegen Körperverletzung und Mordversuchs bestraft bin . . . Es müßte denn gerade sein, man mauste mich aus dem Henkerkorbe, dann könnte ich schließlich noch einmal davonkommen.«

Alle Sträflinge lachten . . . »Mord und Brand,« fuhr Skelett fort, »mir ist's schnuppe, ob ich heute dran muß oder morgen. Wieviel Menschen werden zusammenströmen, sich das Schauspiel anzuschauen, das ich ihnen gnädiglich bereite! – Tausendweis werden sie kommen, und für jedes Fenster, das auf den Richtplatz führt, werden schwere Preise gezahlt werden. Und Militär wird aufmarschieren, bloß mir zu Ehren! Aller Augen werden sich auf mich richten . . . und was habe ich dabei groß auszustehen? In einer Minute ist der ganze Kram vorbei.«

Lauter Lärm, untermischt mit freudigem Geschrei, störte das Gespräch, das vom Skelett mit den anderen geführt wurde. Niklas eilte zur Saaltür, um zu sehen, was es gäbe. Im andern Augenblicke war er wieder bei der Gruppe und meldete, der dicke Lahme sei wieder eingebracht . . . »So? Der?« fragte Skelett, »und Germain? Ist er schon wieder da aus dem Sprechzimmer?« – »Noch nicht,« antwortete Barbillon. –


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