Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Zweites Kapitel.

Rache.

Sarahs Gesichtszüge veränderten sich sichtlich, während Rudolf, still vor sich hinbrütend, auf seinem Sessel saß; Fieber schüttelte sie, und mit Bangen sah sie Rudolfs weiterem Verhalten entgegen. Sie kannte die Heftigkeit seines Wesens und war gefaßt auf eine schlimme Szene. Mit einem Male richtete er sich auf, verschränkte die Arme über der Brust, trat mit drohender Miene auf sie zu und heftete die Blicke unverwandt auf sie . . . Mit dumpfer Stimme hub er an: »So hat es kommen müssen! Ich zog den Degen gegen den Vater und werde nun gestraft in meinem Kinde . . . In diesem feierlichen Augenblicke müssen Sie entartete Mutter alles erfahren, was Sie durch Ihre rücksichtslose Selbstsucht angestiftet haben. Weib ohne Herz und ohne Glauben! Hören Sie mir zu?«

»Gnade, Rudolf, Gnade!« stöhnte Sarah. – »Gnade? Gnade für Sie, die um des schmählichsten Stolzes willen meine wahre, aufrichtige Liebe ausnützten, indem Sie mir gleiche Liebe vorspiegelten? Für Sie, die dem Sohne die Waffen wider den Vater in die Hände spielten? die, statt über ihr eigenes Fleisch und Blut zu wachen, es fremden, gewissenlosen Händen überantworteten, um sich in habsüchtiger Weise zu bereichern? die nach meiner Hand nur strebten, um einen maßlosen Ehrgeiz zu stillen? Nein, für Sie kenne ich keine Gnade! Fluch über Sie, denn Sie waren der böse Geist meines Hauses, meiner Familie, waren mein eigener böser Geist!« – »Rudolf, Gnade! Gnade!« stöhnte sie wieder, »üben Sie Erbarmen, üben Sie Erbarmen!« –

Rudolf aber fuhr unbeirrt fort: »Sind Sie des Tages noch eingedenk, vor siebzehn Jahren, als Sie die Folgen unserer geheimen Beziehungen nicht mehr verbergen konnten? Sie hielten unser Verhältnis für ebenso unauflöslich wie ich. Aber ich kannte den unbeugsamen Charakter meines Vaters und wußte, welche Heirat er aus Staatsgründen für mich im Sinne führte. Als ich ihm trotzte, als ich ihm erklärte, daß Sie vor Gott und den Menschen mein Weib seien, daß Sie Mutter seien, da kannte sein Zorn keine Grenzen: er weigerte sich, an meine Ehe mit Ihnen zu glauben; er drohte mir mit seinem Grimm, wenn ich noch einmal solchen Wahnsinns gegen ihn Worte liehe. Damals liebte ich Sie mit wahnsinniger Glut und wähnte, Ihr marmornes Herz schlüge auch für mich . . . Ich erwiderte meinem Vater, daß ich nie einem andern Weibe als Ihnen angehören wolle; er überschüttete mich mit den ärgsten Schmähungen, erklärte unsre Ehe für null und nichtig und schwur mit dem heiligsten Eide, daß er Sie zur Strafe für solche Vermessenheit in seiner Residenzstadt an den Pranger stellen lassen wolle . . . Ich wagte es, meinem Vater zu verbieten, in solchen entehrenden Ausdrücken von meinem Eheweibe zu sprechen, vermaß mich drohender Reden . . . Da erhob mein Vater die Hand wider mich, und ich – von Leidenschaft verblendet, zog den Degen und stürzte mich auf ihn . . . Wäre Murph nicht dazwischen gesprungen, den Stoß abzulenken, so wäre ich zum Mörder an meinem eigenen Vater geworden! Um Ihretwillen! Einzig und allein um Ihretwillen!«

»Von diesem Vorgange hatte ich keine Ahnung,« fiel Sarah ihm ins Wort. »Aber – habe ich nicht schwer gelitten durch Ihres Vaters Härte? Hat er nicht unsere Ehe für geschieden erklärt? Und warum beschuldigen Sie mich, Sie nicht geliebt zu haben?« – »Warum?« versetzte Rudolf, Sarah mit einem Blicke maßloser Verachtung messend, »nun, ich will es Ihnen sagen. Nach dem schlimmen Auftritte mit meinem Vater wurde ich gefangen gesetzt, der Degen wurde mir abgenommen, und der Mann, durch den unsre Heirat bewirkt worden war, Polidori, wurde in Arrest geführt. Er erbrachte den Beweis dafür, daß unsre Ehe von keinem wirklichen Geistlichen geschlossen worden, also null und nichtig sei, daß er Sie, mich und Ihren Bruder hinters Licht geführt habe. Ja, Polidori tat noch mehr, indem er meinem Vater einen Brief, den Sie an Ihren Bruder gerichtet, und der während einer seiner Reisen ihm entwendet worden war, aushändigte.«

»Genug! Genug!« rief die Gräfin. – »In diesem Briefe gaben Sie Ihren ehrgeizigen Plänen rücksichtslos Ausdruck, äußerten sich über mich mit der kältesten Verachtung und opferten mich Ihrem teuflischen Stolze. Ich galt Ihnen nur als Werkzeug, das zu erreichen, was Ihnen geweissagt worden war; Sie sprachen es unverhohlen aus, daß Ihnen mein Vater zu lange lebe . . .« – »O ich Törin!« rief Sarah, »jetzt wird mir alles verständlich.« – »Und um Ihretwillen wäre ich um ein Haar zum Vatermörder geworden!« rief Rudolf; »als er mir tags darauf, ohne jedes Wort des Vorwurfs, den Brief zeigte, der mir Ihre schwarze Seele offenbarte, stürzte ich vor ihm nieder und bat ihn um Gnade, um Verzeihung . . . Seitdem haben mich Reue und Gewissensbisse in der Welt herumgejagt . . . Ich legte mir eine Buße auf, die erst mit meinem Leben endigen wird. Ich habe mir die Aufgabe gestellt, das Böse zu verfolgen, das Gute zu belohnen, die Leidenden zu unterstützen, die Wunden, die der Menschheit geschlagen werden, zu sondieren, Seelen dem Verderben zu entreißen . . . Weshalb ich dieses Gelübde, das ich streng zu erfüllen trachte, Ihnen gegenüber erwähne? Wahrlich nicht, um mir ein Lob aus Ihrem Munde zu holen! Aber Sie müssen es kennen, um mich verstehen zu lernen . . . um den Grund, der mich hierher geführt hat, ermessen zu können . . . Ich hatte mich dem Verlangen meines Vaters gefügt und mich mit einer Fürstentochter Deutschlands vermählt. Ich erfuhr, daß Sie sich mit einem Grafen Mac Gregor verehelicht hätten. Da verlangte es mich nach dem Kinde, das Sie mir geschenkt hatten. Ich forderte es von Ihnen. Sie ließen mich ohne Antwort. Es gelang mir nicht, den Aufenthalt des Kindes zu ermitteln, für dessen Unterhalt mein Vater aufs freigebigste gesorgt hatte. Endlich kam die Nachricht von dem Ableben unseres Kindes durch Sie an mich . . . es war vor zehn Jahren – o! daß es damals wirklich gestorben wäre! Wieviel Schmerz und Leid wäre mir erspart geblieben!«

»Jetzt kann ich freilich nicht mehr an der Abneigung zweifeln, die Ihr Herz wider mich erfüllt,« erwiderte Sarah, »der Brief an meinen Bruder ist mir Erklärung sattsam dafür . . . Ja, Stolz und Ehrgeiz haben mich ins Unglück gestürzt, unter dem Scheine von Leidenschaft barg ich ein eiskaltes Herz im Busen, und während ich nur Verstellung und Selbstsucht kannte, heuchelte ich Offenherzigkeit und Hingebung . . . Aber ich kannte die Gründe nicht, die Sie zum Hasse, zur Verachtung geführt hatten, und sann auf Verwirklichung meiner Hoffnungen und Pläne mit erhöhtem Eifer . . . Seit Sie zum Witwer, ich zur Witwe geworden, jagte ich von neuem dem Trugbilde nach, das mir in meinen Mädchenjahren vor die Seele gezaubert worden war durch jene Wahrsagerin, und als ich durch Zufall meine Tochter wiederfand, erkannte ich in diesem unvermuteten Glücksfalle einen Wink der Vorsehung, ja ich wiegte mich in den Glauben, Ihre Abneigung wider mich würde Ihrer Liebe zu unserm Kinde weichen, Sie würden mich zu Ihrer Gattin erheben, um unserm Kinde zu dem Range in der Gesellschaft zu helfen, der ihm zusteht.«

»Aus Ehrfurcht vor dem schweren Leid, das mein Kind in seiner frühesten Jugend getragen, wäre ich wohl willens gewesen, wenn ich mich auch nie zu einem Zusammenleben mit Ihnen entschlossen hätte, durch eine Heirat, die unsers Kindes Geburt legitimierte, seine Stellung in der Welt so glänzend zu machen, wie sie bislang kläglich und elend gewesen.« – »O, so hatte mich also meine Zuversicht nicht getäuscht?« – »Nicht den Tod Ihres Kindes beklagen Sie, wie ich recht wohl weiß, sondern den Verlust des gesellschaftlichen Dekors, nach welchem Ihr Herz ja allezeit getrachtet hat!« – »Rudolf!« – »Möchte dieser Schmerz,« fuhr Rudolf fort, »der letzte sein, den Ihr Gemüt empfindet!«

»Der letzte Schmerz, ja! und auch die letzte Strafe, denn ich werde weder Schmerz noch Strafe überleben.« –

»Sie müssen aber noch, ehe Sie sterben, über das Leben Kenntnis erhalten, das Ihre Tochter geführt hat, seit Sie sie ins Elend gestoßen haben,« fuhr Rudolf mit unerschütterlicher Ruhe fort, »Sie besinnen sich noch auf jene Nacht, in der Sie mir mit Ihrem Bruder in ein verrufenes Wirtshaus der Altstadt gefolgt waren?« – »Ihr Blick erstarrt mir das Blut in den Adern!« – »Auf dem Wege zu diesem Wirtshause haben Sie unglückliche Geschöpfe gesehen, die – doch nein! Ich wage es nicht, Ihnen mehr davon zu sagen.« – »Gott! Was werde ich hören müssen!« rief Sarah. – »Diese unglücklichen Mädchen,« fuhr Rudolf mit gewaltsamer Anstrengung fort, »die Schande ihres Geschlechts, waren die Gefährtinnen unsers Kindes! – Sie werden ein junges, sechzehnjähriges Mädchen darunter bemerkt haben, das schön war wie ein Engel, ein armes Kind, das sich aber inmitten des Verderbens, in das man es seit der frühesten Kindheit gestürzt, so rein und jungfräulich erhalten hat, daß ihr die Diebe und Mörder, die sie duzten, den Beinamen Marienblume gegeben haben . . . Sahen Sie dies junge Wesen niemals, Sie – liebevolle Mutter?« –

»Nein, mit keinem Blicke,« erwiderte Sarah fast mechanisch, so bedrückte sie die Angst. – »Wirklich?« versetzte Rudolf, bitter auflachend; »komisch! Ich aber sah sie, als sie von einem solchen rüden Patrone geschlagen, vielleicht gar ermordet werden sollte, und nahm mich ihrer an . . . ja, Sie Rabenmutter! dies Mädchen war unser Kind!« – »Lassen Sie mich! Lassen Sie mich!« – »Nein! Sie müssen weiter hören! Dieses unglückliche Geschöpf, das ich den Händen eines ehemaligen Galeerensträflings entriß, war die Tochter Rudolfs von Gerolstein! In diesem Zusammentreffen mit meinem Kinde, das ich vom Tode errettete, ohne es zu kennen, lag ein Wink des Schicksals, der Vorsehung, ein Lohn für den Mann, der seinen Mitmenschen zu helfen strebt, aber zugleich auch eine Strafe für den Sohn, der sich am Vater vergriff . . .«

»Ich sterbe in Fluch und Verdammnis,« flüsterte Sarah, beide Hände vor das Gesicht schlagend. – »Ja, Frau Gräfin,« fuhr Rudolf fort, kaum imstande, seine Gefühle zu bezwingen, »während Sie, umgeben von Reichtum, von einer Krone träumten, hat Ihre Tochter in Lumpen auf den Straßen gebettelt, hat Hunger gelitten, hat im Winter auf einer Strohschütte in einem Stalle genächtigt . . . hat von einem gräßlichen Weibe die ärgsten Mißhandlungen erlitten . . . und als sie endlich fliehen konnte, als sie, kaum acht Jahre alt, ohne Brot und Obdach herumgeirrt in Nacht und Finsternis, ist sie verhaftet und ins Gefängnis abgeführt worden. Dort hat sie allabendlich Gott gedankt, daß sie den Händen jenes schlimmen Weibes entwunden war . . . dort hat sie ihre beste Zeit verlebt . . . Aber wieder kam ein Tag, an dem sie sich in Schmutz und Elend zurückversetzt sah, an dem sie sich ohne Stütze, ohne Rat allen Gefahren der Armut und des Lasters überantwortet sah . . . Ha!« rief Rudolf, »Ihr Herz muß verhärtet sein wie Stein, da Sie das schreckliche Schicksal Ihrer Tochter mitanhören können, ohne daß in Ihre Augen eine Träne tritt! Und wie herzensgut war das arme Wesen geblieben, denn sie fand ein Mädchen, das noch unglücklicher war als sie, und ihm hat sie von dem wenigen abgegeben, das sie noch ihr eigen nannte! Von dem wenigen, das sie noch von dem Abgrunde der Schande trennte, in den man sie stürzte – und dann, dann kam ein Tag, ein fürchterlicher Tag, an dem sie kein Brot, kein Obdach hatte, an dem entsetzliche Weiber sie fanden und berauschten und . . .« Er konnte nicht ausreden. Einen gräßlichen Schrei ausstoßend, faßte er die Gräfin am Armgelenk und schüttelte sie . . . »Und das war mein Kind, mein Kind!« stöhnte er. –

»Fluch über mich!« flüsterte Sarah, das Gesicht mit den Händen bedeckend, als scheute sie sich, ins Tageslicht zu blicken . . . »Ja, Fluch über Sie!« rief Rudolf, »denn Sie waren es, die das arme Wesen in solche Not, in solches Elend jagten! . . . Und nicht genug mit diesem ersten Verbrechen an Ihrem Kinde! Sie mußten dem ersten das zweite folgen lassen, indem sie dafür sorgten, daß es von dem stillen, friedlichen Orte, wohin ich es hatte bringen lassen, geraubt und der Verbrecherwelt wieder in die Arme geführt wurde! Fluch über Sie! Fluch über Sie, die das arme Kind wieder in die Hände des Schurken Ferrand brachte!«

Rudolfs Gesicht zeigte einen schrecklichen Grad von Haß und Zorn. Unbeweglich und stumm stand er da, wie vernichtet durch den Gedanken, daß der Mörder seines Kindes noch unter den Lebenden weile! Er stürzte zur Tür . . . »Wohin? Wohin?« rief ihm Sarah nach, sich halb aufrichtend und ihm die Hände flehentlich entgegenstreckend . . . »O, weichen Sie nicht von mir!« – Und verstört um sich schauend, als sei ihr ein grauenhaftes Gespenst erschienen, sank sie auf die Kniee . . . »Erbarmen, Erbarmen! Ich sterbe!«

»Sterben Sie! und nehmen Sie meinen Fluch mit!« rief Rudolf, der furchtbar war in seinem Zorne; »jetzt zu Ihrem Mitschuldigen! zu dem Schurken, dem Sie unser Kind in die Hände gespielt haben!«


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