Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Zehnter Teil.

Erstes Kapitel.

Rudolf und Sarah

Begleite der freundliche Leser uns zu der Gräfin Mac Gregor, die dem Delirium, das tagelang für ihr Leben bedrohlich war, durch eine sorgfältige Behandlung entrissen worden ist. Der Tag war im Niedergange begriffen. Die Gräfin saß in einem hohen Sessel, hinter ihr stand Thomas Seyton, ihr Bruder, sich in einem großen Spiegel betrachtend, der Sarah von einer Zofe vor das Gesicht gehalten wurde. Sie war bleich wie Marmor, so daß die schwarze Farbe ihrer Augen und Brauen, wie ihres Haares um so kräftiger hervortrat. Sie war in einen Ueberwurf aus weißem Musselin gekleidet und ließ sich das Korallenband um den Arm legen.

»Sobald Ferrand kommt,« befahl sie, »soll er ins blaue Zimmer treten; Seine königliche Hoheit wird hierher geleitet.« – Als sie mit dem Bruder allein war, setzte sie hinzu: »Tom, endlich, endlich soll die Weissagung sich erfüllen.« – »Sarah,« erwiderte ihr Bruder ernst und streng, »mäßige dich! Gestern wurde noch an deinem Aufkommen gezweifelt . . . noch eine herbe Täuschung, wie sie dir die letzten Tage gebracht, könnte dir leicht lebensgefährlich werden.« – »Du hast recht, Tom. Es wäre schrecklich, aus solcher Höhe zu stürzen, denn nie waren meine Hoffnungen der Erfüllung so nahe! In meiner Krankheit hat mich ja doch nur der Gedanke aufrecht gehalten, die Kunde auszunützen, die mir jenes Weib in dem Augenblicke machte, als sie mich zu ermorden versuchte.« – »Noch einmal, Sarah!« rief Tom, »keine törichten Hoffnungen! Es würde ein zu schweres Erwachen für dich sein.« – »Du glaubst doch nicht etwa, Rudolf könnte, sobald er erfährt, daß jenes junge Mädchen, das in Saint-Lazare gefunden worden, unser vom Notar fälschlich für tot ausgegebenes Kind ist . . .«

»Ich glaube weiter nichts, als daß Fürsten das Staatswohl niemals um eines einzelnen Menschen willen verletzen!« – »Aber, Tom!« – »Sarah, der Fürst ist kein unerfahrener Jüngling mehr wie damals; jene Zeit, da ihr scharmiertet, liegt weit hinter ihm und – hinter dir!« –

»Tom, ich weiß, warum ich so handle,« versetzte Sarah, »denn heut oder morgen wird er mir sagen: das Kind muß durch unsre Vermählung legitimiert werden, und hat er es erst einmal gesagt, dann wird er auch sein Wort halten, und die Hoffnung, das Sehnen meines ganzen Lebens wird sich erfüllen.« – »Und wenn er es nicht tut?« fragte Tom. – »O, geh!« erwiderte Sarah entrüstet; »weiß Rudolf erst, daß sein Kind wiedergefunden, dann wird er seinem Kinde das Los zusichern, das ihm vom Geschick bestimmt worden, um es endlich auf den Gipfel des Glückes zu heben, nachdem es so lange, lange Jahre im tiefsten Unglücke schmachtete.« –

»Daß er seinem Kinde ein glänzendes Los sichern wird, glaube ich,« sagte Tom, »aber nicht, daß er dir, um das zu tun, seine Hand reichen wird . . . Euch trennt ein gar zu tiefer Abgrund!« – »Aber seine Vaterliebe wird ihn ausfüllen!«

Ein Wagen rollte in den Hof . . . »Rudolf, Rudolf!« flüsterte Sarah leise. – »Ha!« rief Tom, »er ist es wirklich, er setzt eben den Fuß aus dem Wagen.« – »Laß mich allein, Tom!« rief Sarah, ohne ihre Kaltblütigkeit zu verlieren, waren doch immer nur Ehrgeiz und Selbstsucht die Motive gewesen, die dieses Weib geleitet hatten; sie sah auch jetzt in der fast wunderbaren Wiedergeburt ihres Kindes nichts weiter als das Mittel, den Zweck zu erreichen, den sie nie aus den Augen verloren hatte!

Einen Augenblick zögerte Seyton, bevor er den Fuß aus dem Zimmer setzte; dann aber trat er rasch zu der Schwester und flüsterte: »Ich will dem Fürsten sagen, wie deine Tochter sich wiedergefunden hat, nachdem sie so lange Jahre für tot gehalten wurde ., . Dir könnte die heftige Aufregung nach so schwerer Krankheit ernstlich schaden . . . Erwäge: der Anblick des Fürsten nach so langer Trennung, das Beisammensein mit ihm unter vier Augen . . .«

»Bruder, deine Hand!« erwiderte Sarah, »bin ich bewegt?« – »Nein!« versetzte Seyton verwundert, »dein Puls geht wie sonst: wohl weiß ich, daß du dich zu beherrschen weißt; aber in einem solchen Augenblicke, wo es sich bei dir um eine Krone oder um den Tod handelt – bedenke es noch einmal . . . Sarah! deine Ruhe erschreckt mich!« – »Warum so verwundert, Bruder?« fragte Sarah mit spöttischem Lächeln, »hat mein Marmorherz jemals irgend etwas zu rascheren Schlägen gestimmt? Nicht früher wird es zittern, als bis es die Fürstenkrone auf der Stirn fühlt . . . Rudolf kommt! Verlaß mich, Tom!«

Rudolf trat tief ergriffen in das Zimmer, wich aber erstaunt zurück, als er Sarah, in fast königlicher Haltung, auf einem Sessel sitzen sah, statt sie, wie er vermutet hatte, im Bette zu finden. Auf sein Gesicht trat sogleich ein finsterer, mißtrauischer Zug. Sarah erriet, was in ihm vorging, und sagte mit weicher, schwacher Stimme: »Sie glaubten mich dem Tode nahe? Kamen wohl in der Erwartung, mir ein letztes Lebewohl zu sagen?« – »Die letzten Wünsche von Sterbenden waren mir stets heilig. Was ich aber hier sehe, scheint mir auf eine Täuschung hinauszugehen?« – »Keine unnütze Aufregung,« erwiderte die Gräfin; »ich habe Sie nicht getäuscht, sondern war wirklich dem Tode so nahe, daß ich nur noch Stunden zum Leben zu haben meinte . . . Und viel anders wird es wohl auch jetzt noch nicht um mich stehen . . . Aber – verzeihen Sie mir diese letzte Koketterie: ich wollte in der Robe sterben, in der Sie mich zum ersten Male gesehen . . . O, endlich sehe ich Sie wieder nach fast siebzehnjähriger Trennung! Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen. Aber danken auch Sie dem gütigen Gotte, daß er Ihr Herz lenkte, meiner letzten Bitte Gehör zu schenken . . . sonst hätte ich ein Geheimnis mit in die andere Welt nehmen müssen, das Ihrem Leben noch Glück und Freude spenden wird, für das Sie gern die Hälfte der Ihnen noch bemessenen Lebenszeit hingäben!«

»Wie verstehe ich den Sinn dieser Worte?« fragte der Fürst betroffen. – »O, Rudolf, wärest du nicht gekommen, dann hätte ich mein Geheimnis – doch nein! dazu hätte es mir doch an Mut gefehlt! Rudolf, Rudolf! Ich muß es dir sagen: Unsre Tochter lebt! Unser Kind lebt!« – Rasch an den Sessel tretend, auf dem Sarah saß, wiederholte er: »Unser Kind, sagst du, lebt? Meine Tochter lebt?« – »Ich habe untrügliche Beweise, daß sie nicht gestorben ist – ich weiß, wo sie ist . . . Du wirst sie morgen sehen, Rudolf!«

Aber Rudolf war von der Furcht ergriffen, Sarah bereite ihm nur eine Täuschung, er führte sich vor die Seele, wie unwahrscheinlich solches Ereignis sei, und er rief: »Eine List! Eine häßliche Lüge! Sie wollen mich schmählich irre führen!« – »Rudolf, ein Wort! Hören Sie mein Geständnis, und Sie werden mir glauben, werden sich nicht länger weigern, dem Augenscheine sich zu fügen! – Rudolf, ich hatte Sie täuschen wollen,« erklärte Sarah, »ein Mädchen sollte für unser Kind ausgegeben werden, aber als ich mit dieser schändlichen Absicht umging, traf mich der Stahl einer Mörderin, jenes Weibes, der man unser Kind in die Hände geliefert, nachdem man es für tot ausgegeben.« – »Und dieses Weib?« fragte Rudolf mit bebender Stimme. – »Die Hand der Nemesis ereilt uns alle hienieden, und die Vorsehung führt uns ihre eigenen Wege! Vor Monaten retteten Sie ein junges Mädchen aus tiefem Elend und brachten es aufs Land hinaus . . .«

»Nach Bouqueval, allerdings,« fiel Rudolf ihr ins Wort. – »Mich führten Haß und Eifersucht auf Abwege, und ich ließ das Mädchen durch jenes Weib aus dem Dorfe rauben.« – »Und haben es nach Saint-Lazare schaffen lassen?« – »Jawohl! Und dort ist sie noch!« – »Nein,« rief Rudolf, »dort ist sie nicht mehr!« – »Was sagen Sie? Nicht mehr dort? Und wo sollte sie sonst sein?« – »Ein Ungeheuer von Geiz und Habsucht, dem an dem Mädchen viel gelegen war, hat es in die Seine werfen, hat es ertränken lassen!« – Aufspringend, schrie Sarah wie außer sich: »Mein Kind! Mein Kind!« – Rudolf eilte auf sie zu. – Sie aber schrie, von gräßlicher Verzweiflung gepackt, wieder und wieder: »Mein Kind! Mein Kind!« – »Das Mädchen, das den Namen Schalldirne führte, war Ihr Kind?« rief Rudolf. – »Ja, Schalldirne! Das war der Name, den mir dieses Weib nannte,« rief Sarah, »und ermordet hat man das Mädchen?« –

Rudolfs Gesicht war jetzt ebenso bleich wie dasjenige Sarahs, und außer sich vor Entsetzen, fragte er: »Sarah! Kommen Sie zu sich! und geben Sie mir Antwort! Das Mädchen, das Sie durch jenes gräßliche Weib, durch dies Weib mit dem Spitznamen Eule aus Bouqueval rauben ließen, war . . .« – »War unser Kind!« fiel ihm Sarah ins Wort. – »Nein, nein,« erwiderte Rudolf, »Sie sprechen im Fieber! Das kann nicht sein! Sie wissen nicht, wie gräßlich das wäre! Kommen Sie zu sich, fassen Sie sich! Der Schein trügt so oft, und wie oft trifft es sich nicht, daß der Wunsch der Vater des Gedankens ist! Ich mache Ihnen keine Vorwürfe, aber sagen Sie mir alles, was Sie zu der Meinung bestimmt, daß dieses Mädchen unser Kind sei . . . denn es kann ja nicht sein! es darf nicht sein! es ist unmöglich!«

Sarah sammelte mühsam ihre Gedanken und erwiderte mit matter Stimme: »Als ich hörte, daß Sie sich verheiraten wollten, da war es mir nicht möglich, unser Kind bei mir zu behalten . . . es war damals vier Jahre alt . . .« – »Ich bat Sie doch damals, das Kind mir auszuliefern,« rief Rudolf mit herzzerreißendem Tone, »all meine Briefe blieben aber unbeantwortet, und nur einen einzigen bekam ich, und der meldete mir des Kindes Tod.« – »Ich wollte mich an Ihnen rächen. Das war der Grund meiner Weigerung, Ihnen das Kind auszufolgen, das damals vier Jahre alt war . . .« – Sie machte eine Pause. – »Mein Bruder brachte das Kind zu einer Frau Seraphim, der Witwe seines einstigen Dieners; die Frau sollte es erziehen, bis es in eine Pension gebracht werden könnte . . . Bei einem durch seine Rechtlichkeit im besten Rufe stehenden Notar deponierten wir eine Summe, groß genug, seine Zukunft zu sichern. Die Briefe, die von den beiden Leuten an meinen Bruder und mich geschrieben wurden, liegen dort in dem Kästchen. Nach einem Jahre hörte ich, das Kind sei ernstlich krank, und nach acht Monaten hatte ich seinen Totenschein in den Händen. Aber das Kind war nicht tot, sondern diese Seraphim hatte es einem Bösewicht, der jetzt im Bagno von Rochefort sitzt, gegeben, und von ihm war es in die Hände der Eule gelangt. Die Seraphim aber trat in den Dienst Jakob Ferrands. Als mir die Eule dies Geständnis machte, schrieb ich es nieder und darüber fiel ich ihrem Dolche zum Opfer. Die angefangene Niederschrift liegt auch in dem Kästchen dort, zusammen mit einem Bilde von dem Kinde aus seinem vierten Jahre . . . Prüfen Sie alles, Briefe, Aussage, Niederschrift und das Bild . . . Sie kennen ja das Mädchen, und Sie werden sich nicht länger über die Identität im Zweifel befinden . . .«

Während Sarah, erschöpft durch die Worte, halb ohnmächtig auf ihren Sessel zurücksank, stand Rudolf wie vom Blitze getroffen da. Mit wachsender Angst erlangte er die Ueberzeugung, daß dieses Mädchen in der Tat seine Tochter war, und daran, daß sie den Tod in der Seine gefunden, konnte er insofern nicht zweifeln, als gar keine Nachricht mehr von ihr zu erlangen gewesen war: trotz Doktor Griffons sorgfältiger Behandlung und aller Pflege der Wölfin ungeachtet, hatte ihre Krankheit sich sehr in die Länge gezogen, und sie war lange körperlich und geistig so schwach geblieben, daß es ihr nicht möglich gewesen war, Frau Georges oder Rudolf von ihrer Lage zu benachrichtigen . . .

Ein Blick auf das Bildnis, das ihm Sarah jetzt reichte, raubte ihm allen Zweifel: ja es waren dieselben Züge, dieselben milden blauen Augen, und er fühlte sich von seinen Gefühlen so übermannt, daß er gänzlich gebrochen auf einen Stuhl sank und das Gesicht mit beiden Händen, tief aufschluchzend, bedeckte.


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