Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Zweites Kapitel.

Eine Begegnung.

Die Sonne sank am Horizonte nieder. Die Ebene war still und öde. Marie war, dem Abbé ihr neues Leid zu klagen, auf dem Wege zur Pfarrei und näherte sich dem Hohlwege, durch den sie gehen mußte, um zu der Wohnung des Geistlichen zu gelangen, als sie sich einem kleinen lahmen Jungen gegenüber sah, in blauer Bluse und blauer Mütze, der bitterlich geweint zu haben schien und, als er Marien erblickte, auf sie zulief.

»Ach, meine liebe gute Jungfer,« sagte er, »erbarmen Sie sich doch meiner! Meine Großmutter, eine schon sehr alte Frau, ist im Hohlwege gefallen und hat sich Schaden getan. Ich fürchte, sie hat sich ein Bein gebrochen. Ich kann ihr nicht aufhelfen, denn ich bin zu schwach dazu.«

Marie, durch den Schmerz des Lahmen gerührt, antwortete: »Stark genug, deiner Großmutter beizustehen, bin ich auch nicht; aber wir wollen sehen, was sich für die arme Frau tun läßt . . . Du bist wohl nicht aus unsrer Gegend?« fragte sie, dem Lahmen folgend. – »Nein, meine liebe Jungfer,« versetzte der Junge, »wir sind aus Ecouen.« – »Und wohin seid Ihr unterwegs?« – »Wir wollen einen Pfarrer aufsuchen, der auf jenem Berge dort wohnt,« antwortete der Lahme in der Absicht, Mariens Vertrauen noch zu mehren. – »Doch nicht zu dem Abbé Laporte?« – »Jawohl, zu ihm! Meine Großmutter ist sein Beichtkind.« – »Ach, ich wollte auch gerade zu ihm. Ist das ein seltsames Zusammentreffen!« sagte Marie, immer weiter in den Hohlweg gehend. – »Großmutter, Großmutter!« rief der Junge, »da bin ich und bringe dir die Hilfe!« Er rief es, um Bakel und der Eule anzuzeigen, daß er mit der Beute komme, nach der sie ihn ausgeschickt hatten. Da wurde Hufschlag eines galoppierenden Rosses vernehmlich, und an der Wegbiegung tauchte ein Reiter auf, dem ein Reitknecht auf dem Fuße folgte. Der Lahme erkannte in dem Reiter mit dem hübschen gebräunten Gesichte den Vicomte von Saint-Remy, der in dem Rufe stand, der Galan der Herzogin von Lucenay zu sein.

Mariens Schönheit fiel ihm auf der Stelle auf . . . »Mein süßes Kind,« sprach er sie an, »möchten Sie mich nicht den Weg nach Arnouville führen?« – Marie schlug vor dem kecken Blicke des jungen Mannes die Augen nieder und erwiderte schüchtern: »Wenn Sie aus dem Hohlwege heraus sind, brauchen Sie ja bloß den ersten Fußweg rechts entlang zu reiten. Die Kirschenallee, in die Sie dann gelangen, führt Sie direkt nach Arnouville.« – »Vielen Dank, süßes Kind! Aber Sie müssen mir nun noch sagen, ob ich in Arnouville Frau Dubreuils Pachtgut leicht finden werde?«

Unwillkürlich erbebte das Mädchen bei dieser andern Frage, denn sie wurde durch sie an die peinliche Szene erinnert, der sie vor ihrem Abschiede von Arnouville ausgesetzt gewesen war . . . »Die Gutsgebäude stoßen an die Allee, die Sie nach Arnouville führt,« sagte sie schnell.

Nochmals, dankend, sprengte der Vicomte mit seinem Reitknechte davon.

Marien fiel die unbekannte Person ein, für die man so schnell bei Frau Dubreuil den Pavillon hatte herrichten müssen, und die sicher niemand anders war als der junge schöne Herr. Noch ein paar Minuten hallte der Hufschlag der beiden Rosse durch den Hohlweg, dann war alles still. Der Lahme atmete auf, und um seine beiden Genossen von neuem aufmerksam zu machen, rief er, aber noch immer mit gedämpfter Stimme: »Großmutter! Ich bringe ein liebes kleines Ding, das dir auf die Beine helfen will. Bring also Bakel heran!« – »Geschwind, mein Kind!« drängte Marie, »der Reiter hat uns ein paar Minuten geraubt, und ich werde zu Hause erwartet.« – »Gewiß, Balg!« schrie die Eule, über Marien herfallend, »wir warten schon lange zu Hause auf dich,« und mit der einen Hand ihr die Kehle umspannend, daß sie nicht schreien konnte, mit der andern sie unter dem Gesäß packend, um sie am Gehen zu hindern, warf sie die Unglückliche Bakel in die Arme, während der Lahme den grauen Mantel um sie schlug und sie so fest darein hüllte, daß sie sich weder bewegen, noch anders als dumpf stöhnen konnte.

»Nur hurtig zum Wagen hin!« rief die Eule. – »Aber wer soll mich führen?« fragte Bakel mit dumpfer Stimme, die leichte, weiche Last in seinen Herkulesarmen fast zerquetschend. – »Mein Männchen denkt doch an alles,« sagte die Eule, schlug ihren Schal zurück, knüpfte ihr rotes Halstuch ab, drehte es der Länge nach zusammen und rief Bakel zu: »So! Mach das Maul auf, nimm den Zipfel zwischen die Zähne und beiße fest zu! Der Lahme faßt das andere Ende und wird dich ziehen.« – Wenige Minuten nachher lag Marie in der Droschke, in der die Eule wieder hergefahren war. Trotzdem es Nacht war, wurde der Wagen fest geschlossen; die drei Verbrecher fuhren mit ihrem dem Tode nahen Opfer nach der Ebene Saint-Denis, wo Tom ihrer wartete.


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