Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Achtes Kapitel.

Ein Brief.

Es schlug eben neun, als Frau Georges leise in Mariens Stube trat, die einen so leisen Schlaf hatte, daß sie auf der Stelle wach wurde. Eine helle Wintersonne warf ihre Strahlen durch die Jalousien und Vorhänge und warf einen goldenen Schein über das Stübchen, dem bleichen und doch so lieblichen Gesichte die ihm fehlende Farbe leihend.

»Nun, Kind,« sagte Frau Georges, »bist du heut nicht schon in aller Frühe aus dem Schlafe geschreckt worden?« – »Nein, liebe Frau Georges.« – »Das ist ja recht gut,« sagte die Frau, »ich dachte nur, du seiest durch den armen Blinden, der gestern um Nachtquartier für sich und seinen Knaben bat, geweckt worden; Chatelain sagte wenigstens, die beiden Leute wollten beizeiten wieder aufbrechen.« – »Ich habe nichts gehört, Frau Georges.« – »Und doch siehst du aus, als ob du recht schlecht geschlafen hättest, deine Augen sind trübe.« – »Ich bin heut nacht von recht garstigen Träumen gequält worden, habe das Weib wiedergesehen, das mich als Kind so schrecklich peinigte, und bin so heftig erschrocken, daß ich keinen Schlaf mehr habe finden können.« – Sie umschlang den Hals ihrer andern Mutter und verbarg das Gesicht an ihrer Brust.

»Aber, mein liebes Kind, regt dich das denn jetzt noch auf?« – »Ach, liebe Frau Georges, Sie sind so gütig gegen mich, und es bedrückt mir das Herz schwer, daß ich Ihnen nicht schon gesagt habe, was ich gestern abend dem Herrn Pfarrer gebeichtet habe. Aber er mag es Ihnen morgen sagen. Mir wäre es nicht möglich, alles noch einmal zu beichten.«

Da klopfte es an der Tür, und Claudine trat ein . . . »Peter ist im Einspänner von Frau Dubreuil aus Arnouville gekommen und hat hier den Brief für Sie mitgebracht. Er sagt, es sei sehr eilig.« – Frau Georges las das Folgende:

»Sie würden mir einen recht großen Gefallen erzeigen, liebe Frau Georges, wenn Sie gleich zu mir kommen könnten. Peter könnte Sie her- und nach Tische gleich wieder heimfahren. Ich weiß tatsächlich nicht, was ich in dem vorliegenden Falle mache; mein Mann ist in Pontoise. Ich habe außer Ihnen und Marien niemand, an den ich mich momentan wenden könnte. Klara küßt ihre liebe kleine Schwester in Gedanken und erwartet sie mit Ungeduld. Kommen Sie, wenn irgend möglich, noch vormittags und nicht später als elf. Ich halte Frühstück bereit.

Ihre aufrichtige Freundin

Dubreuil.«

»Um was mag es sich handeln?« fragte Frau Georges ihr Pflegekind; »glücklicherweise beweist der Ton in dem Briefe, daß nichts Schlimmes geschehen ist.« – »Soll ich mitfahren, Frau Georges?« fragte Marie. – »Das wäre am Ende nicht klug, denn es ist kalt,« erwiderte Frau Georges; »aber ein bißchen Zerstreuung wäre es sicher für dich; und wenn du dich warm anzögest, so könnte man es wohl wagen, Kind.«

Kurz nachher stiegen Frau Georges und Marie in einen jener stattlichen Einspänner, die zur damaligen Zeit unter den reichen Pächtern in der Pariser Gegend Mode waren, und bald rollte der Wagen, von vier kräftigen Pferden gezogen, auf dem von Bouqueval nach Arnouville führenden Wiesenwege entlang. Die großen, zur Besitzung gehörigen Baulichkeiten legten Zeugnis ab von der Größe des Gutes, das Fräulein von Noirmont dem Herzoge von Lucenay durch Heiratsgut in die Ehe gebracht worden war. Peters Peitschenknall meldete Frau Dubreuil die Ankunft ihrer Gäste. Sie eilte ihnen vors Haus entgegen und hieß sie mit aufrichtiger Herzlichkeit willkommen.

Frau Dubreuil war annähernd fünfzig Jahre alt, hatte ein freundliches, mildes Gesicht, war insofern eine Seltenheit als Brünette, als sie blaue Augen hatte, und hatte ein sehr einnehmendes Wesen.

Klara ließ Marien den wärmsten Platz am Kamine, drückte ihr wiederholt herzlich die Hände, herzte und küßte und schalt sie, daß sie sich so selten bei ihr sehen lasse. – Frau Georges erkundigte sich bei Frau Dubreuil, in welcher Hinsicht sie ihr dienen könne. – »Ach, meine Liebe, in mancherlei Hinsicht,« antwortete Frau Dubreuil, »und Sie sollen gleich hören. Wie Ihnen wohl nicht unbekannt ist, gehört dieses Besitztum der Frau Herzogin von Lucenay. Wir haben deshalb auch immer mit ihr zu verkehren gehabt, den Pachtschilling an sie abgeführt, und so weiter. Sie ist eine sehr gütige und liebe Dame, die ich noch als Mädchen gekannt habe, als ihr Vater, der selige Fürst von Noirmont, noch hierher kam. Vor kurzem trat sie mit dem Wunsche an uns heran, ihr den Pachtschilling auf ein Halbjahr vorauszuzahlen. Vierzigtausend Franks findet man nicht, wie man immer sagt, gleich immer in der Schieblade, aber es ließ sich doch machen, und wir brachten ihr am andern Tage das Geld nach Paris hinein. Früher mahnte uns die Herzogin nie, wenn wir ein paar Tage im Verzuge blieben; jetzt aber müssen wir, wenn wir nicht erinnert sein wollen, dafür sorgen, daß das Geld am Tage vorm Fälligkeitstage in ihren Händen ist. Nun bekomme ich gestern durch einen expressen Boten das folgende Schreiben von der Frau Herzogin: ›Meine liebe Frau Dubreuil! – Sie müssen dafür sorgen, daß übermorgen der kleine Pavillon im Garten imstande ist. Lassen Sie es an nichts fehlen, was die Einrichtung anbetrifft, und der Person, die ich Ihnen als Bewohnerin schicke, lassen Sie dieselbe Aufmerksamkeit und Fürsorge zuteil werden, als wenn Sie mich selbst bei sich hätten. Ich rechne auf Ihre mir so oft bewiesene Ergebenheit. Einen Kuß für mein kleines Patchen. Ihre Ihnen immer gewogene Noirmont von Lucenay.‹«

»Sie sehen mich nun in der dümmsten Verlegenheit, meine Liebe, denn von besserem Mobiliar habe ich gar nichts; außerdem läßt mich das Schreiben in völliger Unkenntnis darüber, ob die avisierte Person ein Herr oder eine Dame ist. Und danach richtet sich doch die ganze Einrichtung. Sagen Sie mir bloß: Wie verhalte ich mich da am besten?«

»Der Pavillon ist für gewöhnlich unbewohnt?« fragte Frau Georges. – »Ja – verstanden wird darunter das kleine weiße Haus, das allein am Gartenende steht, und das für die Frau Herzogin gebaut wurde, als sie noch Fräulein war. Es hat drei freundliche Stuben. Am Gartenende steht noch die kleine Schweizerei, in der die Frau Herzogin als Kind das Milchmädel spielte. Seit sie vermählt ist, hat sie den Pavillon nur zweimal wieder besucht, das erste Mal vor sechs Jahren, und zwar zu Pferde mit . . .« – Aber wie wenn sie sich durch Mariens und Klaras Anwesenheit behindert fühlte, weiter zu sprechen, sagte sie, den Faden abbrechend: »Aber ich rede und rede, und aus der Verlegenheit bringt mich das nicht. Raten Sie mir doch, liebe Freundin, bitte, bitte!« – »Ich an Ihrer Stelle schickte einen vernünftigen Menschen nach Paris . . . es ist jetzt elf Uhr. Um ein Uhr kann er in Paris sein, geht zu einem Tapezier, bestellt bei ihm, was für den Pavillon notwendig, mit dem Beding, daß heut abend, spätestens heute nacht alles hier sein müsse. Unmöglich ist's nicht, die Sache zu besorgen, aber Zeit darf nun freilich nicht mehr versäumt werden.« –

»Und was den Zweifel angeht, ob wir einen Herrn oder eine Dame zu erwarten haben?« wandte Frau Dubreuil ein. – »Bestellen Sie so, als ob eine Dame zu erwarten sei. Kommt statt ihrer ein Herr, wird's ihm nur um so besser gefallen.« – »Liebe Freundin, Sie haben, wie immer, das Richtige getroffen.«

Eine Magd meldete, daß das Frühstück aufgetragen sei, und auch, daß die Milchfrau von Rains draußen warte. – »Die arme Frau!« sagte Frau Dubreuil unwillkürlich. – »Wer ist denn die Frau, daß sie Ihnen solchen Ausruf entlockt?« fragte Frau Georges. – »Eine fleißige Bäuerin, die vier Kühe hatte und sich davon ernährte, daß sie täglich die Milch nach Paris hinein schaffte. Ihr Mann war Schmied. Sie fuhren letzter Tage einmal zusammen nach Paris, wo er sich Eisen einkaufen wollte, während seine Frau ihre Milchkundschaft besorgte, und wollten sich an einer Straßenecke wieder treffen. Dort fand sie der Mann im Streit mit betrunkenem Volk, das ihr alle Milch verschüttet hatte. Bei der daraus entstehenden Schlägerei wurde der Mann niedergestochen.«

»Das ist ja schrecklich!« rief Frau Georges, »und den Mörder hat die Polizei doch festgenommen?« – »Leider ist er entkommen oder hat nicht festgestellt werden können. Dadurch ist nun die Frau in Not und Bedrängnis gekommen, hat ihr Vieh verkaufen müssen, auch das bißchen Feld, das sie besaß, und da sich der Schloßverwalter von Rains für die arme Frau bei mir verwandt hat, habe ich ihr eine zufällig bei mir offene Stelle angeboten. Die hat sie angenommen und wird nun heute ihren Dienst antreten. Ach, Klara,« sagte sie zu ihrer Tochter, »führe doch die Frau in die Leutestube, während ich dem Oberknecht sagen will, daß er sich auf den Weg nach Paris machen soll.«

»Gewiß, Mütterchen; aber ich kann doch die Marie mitnehmen?« – »Selbstverständlich. Ohne einander könnt ihr beide nun doch einmal nicht sein . . . Nicht wahr, Frau Georges, man muß den beiden Kindern Zeit zum Plaudern gönnen?«

Kaum hatten die beiden Mädchen den Hof betreten, als ein Ruf des Unwillens erklang, und zwar aus keinem andern als dem Munde der unglücklichen Bäuerin, die keine andere war als die, die täglich die Milch in die Schenke »Zum weißen Kaninchen« gebracht und Marien auf der Stelle wiedererkannt hatte.



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