Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Viertes Kapitel.

Das Gelübde

Rudolf an Clemence.

Gerolstein, am 18. Januar 1842.

Du beruhigst mich heute über den Gesundheitszustand Deines Vaters, meine Teuere, und läßt mich hoffen, daß Du Ende dieser Woche mit ihm hierherkommen wirst. Ich hatte ihm gleich gesagt, in dem mitten im Walde gelegnen Schlosse Rosenberg würde er den Unbilden unsers rauhen Winters ausgesetzt sein. Allein seine Leidenschaft für die Jagd machte ihn taub gegen meine Vorstellungen. Ich bitte Dich, Clemence, verlaß mit Deinem Vater, sobald es sein Zustand erlaubt, diese wilde Gegend, in der es nur die abgehärteten, aber nun ausgestorbnen Germanen der Urzeit aushalten konnten.

Ich fürchte, Du könntest auch krank werden. Die Strapazen der schnellen Reise, die Besorgnisse, die Dich bedrückten, bis Du Deinen Vater erreichtest, all dies muß Dich sehr mitgenommen haben. Aber weshalb durfte ich Dich nicht begleiten!

Clemence, sei nicht unbesonnen! Ich weiß, Du liebst Deinen Vater sehr und tust alles für ihn. Aber denke auch an mich! Ich würde verzweifeln, wenn bei dieser Reise Deine Gesundheit aufs Spiel gesetzt würde. Ich bedauere doppelt, daß Dein Vater leidend ist, weil seine Krankheit Dich nötigt, mich zu einer Zeit zu verlassen, wo Deine Zärtlichkeit mir Trost gebracht hätte.

Die feierliche Ablegung des Ordensgelübdes, die uns unser Kind für immer entziehen soll, ist auf morgen, den dreizehnten Januar, festgesetzt. Für mich ein verhängnisvoller Tag! Am dreizehnten Januar habe ich den Degen wider meinen Vater gezogen.

O, meine Teuerste, zu frühe glaubte ich, mir sei verziehen. Ueber der süßen Hoffnung, mit Dir und meiner Tochter zusammen zu leben, hatte ich vergessen, daß bisher nur dieses arme Wesen gestraft worden war, daß meine Züchtigung noch bevorstünde.

Und nun ist sie gekommen. Heute ist es ein halbes Jahr her, daß die unglückliche Amalie uns die doppelte Qual ihrer Seele bekannte – ihren unheilbaren Gram über die Vergangenheit – ihre unglückliche Liebe zu Heinrich.

Diese zwei bittern Empfindungen, eine durch die andere noch gesteigert, mußten sie zu dem unerschütterlichen Entschlusse führen, den Schleier zu nehmen. Du weißt, meine Teure, trotzdem wir mit aller Kraft unserer Liebe ihr diesen Vorsatz auszureden versuchten, konnten wir uns doch nicht verhehlen, daß wir in ihrer Lage ebenso würdig, mutig gehandelt hätten. Was konnte man auch auf die schrecklichen Worte erwidern:

»Ich liebe Prinz Heinrich zu sehr, um ihm eine Hand zu reichen, die die schmutzigsten Banditen von Paris berühren durften!«

Sie hat der unauslöschlichen Erinnerung an ihre Schmach ihre Liebe zur Sühne gebracht – sie hat dem Glanze dieser Erde entsagt, ist von den Stufen des Thrones herabgestiegen, um im Büßerhemd auf dem kalten Marmorpflaster einer Kirche zu knien, sie hat ihr Engelsköpfchen zur Erde geneigt, und ihr schönes blondes Haar, das ich so sehr liebte, ist unter der Schere gefallen.

Heute morgen habe ich sie wiedergesehen, sie kam mir nicht mehr so blaß vor, und trotzdem sie versichert, sich ganz wohl zu fühlen, so bin ich doch um ihre Gesundheit besorgt. Prinzessin Juliane ist zu ihren Gunsten von dem Posten der Aebtissin zurückgetreten, und morgen wird daher unser geliebtes Kind zur Oberin gewählt werden. Es herrscht unter den Nonnen volle Einstimmigkeit, ihr diese Würde zu übertragen. Alle sind, seit Amalie ihr Noviziat angetreten, des Lobes voll über ihre Frömmigkeit, ihre Barmherzigkeit und ihre gewissenhafte Befolgung aller Ordensvorschriften. Sie hat im Kloster bald denselben Einfluß über alle gewonnen, den sie überall ausübt, ohne es zu wollen oder zu wissen.

Mein Gespräch mit ihr an diesem Morgen hat mich in meiner Befürchtung bestärkt. Sie hat in der Einsamkeit und Strenge des klösterlichen Lebens noch nicht Ruhe und Vergessen gefunden. Indessen wünscht sie sich zu ihrem Entschluß Glück; denn sie glaubt damit eine unabweisbare Pflicht erfüllt zu haben.

Marienblume betet und unterwirft sich den strengsten und härtesten Kasteiungen, sie pflegt und tröstet die armen Kranken, die in das Spital des Klosters gebracht werden, sie besorgt sich ihre Zelle ganz allein und hat das Anerbieten einer Schwester, ihr dabei zu helfen, zurückgewiesen, sie hat die vertrockneten Zweige ihres kleinen Rosenstocks unter dem Christusbilde aufgehängt, sie ist das geliebte, verehrte Beispiel der ganzen Gemeinde – aber sie hat mir heute morgen bekannt, daß sie in der strengen Ordnung des klösterlichen Lebens doch nicht den erwarteten Trost fände, und daß ihr trotz allem unaufhörlich die Vergangenheit erscheine, nicht nur, wie sie gewesen ist, sondern auch, wie sie hätte sein können.

»Nun,« rief ich aus in törichter Hoffnung, »so ist ja immer noch Zeit. Heute läuft deine Probezeit als Novize ab, erst morgen sollst du das feierliche Gelübde ablegen. Noch kannst du frei sein – entsage diesem strengen Leben, da es dir doch nicht den erwarteten Trost bringt. Wenn du einmal doch leiden mußt, so leide wenigstens in unseren Armen, unsere Liebe lindert dann vielleicht besser deinen Schmerz.«

Sie schüttelte traurig den Kopf und antwortete: »Ohne Zweifel ist es traurig, einsam im Kloster zu leben, wo ich gewöhnt war, in jedem Augenblick ein Zeichen Ihrer Zärtlichkeit zu empfangen. Ohne Zweifel verfolgen mich auch hier peinvolle Erinnerungen, aber ich habe hier doch auch das Bewußtsein, einer Pflicht genügt zu haben. Ich sehe eben ein, daß ich mich an jedem andern Orte am falschen Platze befinden würde, Ihnen und mir selbst zur Qual – denn auch ich habe meinen Stolz. Wenn morgen auch alle erführen, aus welchem Schmutze Sie mich gezogen haben, so würden sie doch, wenn sie mich reuevoll am Fuße des Kruzifixes liegen sähen, in Rücksicht auf meine Demut und Bußfertigkeit mir das Vergangene verzeihen. Im andern Falle aber, wenn sie mich wie vor wenigen Monaten inmitten der Pracht und des Glanzes an Ihrem Hofe erblickten – nicht wahr, Sie begreifen, mein Vater? Hier habe ich doch immerhin Anspruch auf eine gewisse Achtung – nämlich auf die, die man überall aufrichtiger Reue entgegenbringt.«

Ach, liebe Clemence! was sollte ich darauf erwidern? Dieses unglückliche Kind denkt im Punkt der Ehre und des Herzens so scharf und logisch, daß man nichts dagegen vorbringen kann. Man muß sich da in das Unvermeidliche fügen.

Ich habe sie, wie immer, mit gebrochenem Herzen verlassen. Ich hatte zwar keine Hoffnung in diese Unterredung gesetzt, aber der Gedanke: Heute noch kann sie dem Kloster entsagen, war mir doch gekommen. Du siehst, ihr Wille ist unerschütterlich, und leider muß ich ihren Gründen beipflichten.

Ich habe es Dir oft gesagt, meine Teuere, wenn nicht Pflichten, die noch heiliger sind als die Pflichten gegen meine Familie, mich in der Mitte meines Volks zurückhielten, das mich liebt und dessen schützende Vorsehung ich gewissermaßen sein soll, so wäre ich mit Dir, meiner Tochter, Heinrich und Murph fortgezogen, um einsam, glücklich und unbekannt in einem weltfernen Winkel zu leben. Dort, fern von dem herrischen Zwang einer Gesellschaft, die die Wunden, die sie schlägt, die Uebel, die sie mit sich bringt, nicht zu heilen imstande ist, hätten wir unser armes Kind wohl zum Vergessen, zum Glücke geleiten können, was hier inmitten des höfischen Zeremoniells unmöglich ist. O herbes Verhängnis! Ich kann nicht abdanken, ohne dem Glück meines Volkes zu schaden, das auf mich baut! Die guten Leute, sie ahnen nicht, was es mich kostet, sie glücklich zu machen!

Lebe wohl, meine vielgeliebte Clemence! Welch ein Trost für mich, daß ich nun wenigstens Dich habe! Was wäre ich jetzt ohne Dich! Guter Engel meiner schlimmen Tage, kehre mir bald wieder! – Dir mein Leben und meine Liebe, mein Herz und meine Seele!

Rudolf.

P. S. Ich vergaß, Dir Nachricht von unserm armen Heinrich zu geben. Es geht besser mit ihm, und sein Zustand bietet keinen Anlaß mehr zu unmittelbarer Besorgnis. Sein guter Vater, obwohl selbst krank, pflegt ihn aufopfernd.


Kloster Sankt-Hermangild, 4 Uhr morgens.

Erschrick nicht, Clemence, daß ich zu solcher Stunde von solchem Orte an Dich schreibe! Gott sei Dank, die Gefahr ist vorüber, aber die Krisis war furchtbar. Als ich Dir gestern geschrieben, ergriff mich ein seltsames Vorgefühl, und ich dachte daran, wie blaß Amalie gewesen, wie schwach und kränklich sie seit einiger Zeit sei, daß sie die Nacht im Gebet in der weiten, kalten Kirche zubringen sollte, und ich schickte David und Murph zur Prinzessin Juliane mit der Bitte, daß sie den beiden erlauben möge, bis morgen früh in dem Außengebäude zu bleiben, wo früher Heinrich gewohnt hat. So konnte meine Tochter doch augenblickliche Hilfe haben, wenn es, wie ich befürchtete, über ihre Kräfte ginge, diese grausame Pflicht zu erfüllen und eine eisige Januarnacht wachend in der Kirche zuzubringen. Ich hatte Marienblume auch geschrieben, ich achtete vollauf die Vorschriften des Ordens, aber sie möchte doch an ihre Gesundheit denken und die Nacht nicht in der Kirche, sondern in ihrer Zelle zubringen. Aber sie antwortete mir darauf, sie fühle sich sehr wohl imstande, die Vorschrift genau zu erfüllen. Ihr Brief beruhigte mich einigermaßen, sollte doch auch ich eine traurige Nachtwache vollbringen.

Als die Nacht herangekommen war, verschloß ich mich in dem Pavillon, den ich in der Nähe des meinem toten Vater geweihten Monuments erbauen ließ. Gegen ein Uhr morgens hörte ich Murphs Stimme. Ich erschrak heftig, denn Murph kam aus dem Kloster.

Wie ich geahnt, hatte das unglückliche Kind nicht die Kraft gehabt, diese grausame Vorschrift innezuhalten, von der selbst Prinzessin Juliane sie nicht befreien konnte, so strenge sind die Ordensregeln. Um acht Uhr abends war Amalie auf dem kalten Kirchenpflaster niedergekniet, bis Mitternacht hatte sie gebetet – aber um diese Zeit erlag sie der bittern Kälte, der eignen Aufregung und wurde ohnmächtig. Zwei Frauen, die auf Befehl der Aebtissin bei ihr wachten, hoben sie auf und trugen sie in ihre Zelle.

David wurde geholt, und Murph begab sich eilends zu mir. Ich flog hin, Prinzessin Juliane empfing mich und teilte mir mit, daß David den Rat gegeben hätte, mich nicht sogleich zu ihr zu lassen, da mein Anblick sie aufregen könnte. Sie habe sich von der Ohnmacht erholt und befände sich soweit ganz wohl.

Ich fürchtete, man sage dies nur, um mir ein großes Unglück zu verheimlichen, aber man versicherte mir aufs neue, daß dem nicht so sei. Ich konnte nun an den Beteuerungen der würdigen Juliane nicht mehr zweifeln und wartete voller Unruhe auf weitere Nachrichten.

Nach einer Viertelstunde erschien David. Es geht besser, sagte er mir, ja sie hatte ihre Nachtwache durchaus fortsetzen wollen und schließlich eingewilligt, auf einem Polster zu knien. Ich war empört, daß man diesem Ansinnen nachgegeben hatte, aber David sagte mir, es sei sehr gefährlich gewesen, ihr den Willen nicht zu tun. Das einzige, was sich hätte tun lassen, sei, daß Prinzessin Juliane ihr die Erlaubnis gegeben habe, die Kirche schon mit dem Glockenschlag der Morgenhora zu verlassen, um sich auf die Feier vorzubereiten und ein wenig auszuruhen.

»So ist sie jetzt wieder in der Kirche?« fragte ich. – »Ja, gnädiger Herr,« antwortete David. »Die Wache dauert jetzt aber nur noch eine halbe Stunde.«

Ich ließ mich auf unsere Tribüne führen, von wo aus man das ganze Kirchenschiff übersehen kann. Dort im Halbdunkel der Kirche, die nur von der ewigen Lampe erhellt wurde, sah ich sie knien, die Hände gefaltet, in inbrünstiges Gebet versunken. – Da kniete auch ich nieder und betete für mein Kind.

Es schlug drei Uhr – zwei Schwestern, die in Chorstühlen gesessen und sie bewacht hatten, traten nun auf sie zu und sprachen leise mit ihr. Sie machte das Zeichen des Kreuzes, stand auf und ging durch den Chor. Als sie durch den schmalen Lichtstreifen der Lampe hindurch kam, erschien mir ihr Gesicht so weiß wie der lange Schleier, der sie umfing.

Ich wollte zu ihr, aber ich fürchtete, sie von neuem aufzuregen, und schickte statt dessen David. Er kam mit der Nachricht zurück, sie befände sich ganz wohl und wolle versuchen, etwas zu schlafen. – Ich bleibe in der Abtei, um der heute morgen stattfindenden Zeremonie beizuwohnen.

Morgen werde ich den Bericht über die traurigen Ereignisse dieses verhängnisvollen Tages beenden. Auf baldiges Wiedersehen! Mein Herz ist gebrochen. Beklage mich!

Dein Rudolf.


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