Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Viertes Kapitel.

Die Pirateninsel

Vater Martial war wie sein Vater hingerichtet worden. Er hatte eine Witwe, vier Söhne und zwei Töchter hinterlassen. Der zweite Sohn war schon auf den Galeeren zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt. Von der Familie waren demnach noch auf der Insel, die sie bewohnten: die Mutter und drei Söhne, von denen der älteste im 25. Jahre stand und der Liebste der Wölfin war, während der zweitälteste 20, der jüngste 12 Jahre alt war. Von den beiden Töchtern zählte die eine 18, die andere 9 Jahre. Neben seiner Fluß-Piraterie hatte der alte Martial Gastwirtschaft und Fischfang betrieben, auch sich durch Vermieten von Kähnen Geld zu verdienen gesucht. Nach seiner Hinrichtung hatte die Witwe diejenigen seiner Geschäfte weiter betrieben, zu denen sie die Eignung und die Kraft besaß. In ihrer Wirtschaft kehrten Landstreicher, Scharlatane, Heimatlose mit Vorliebe ein. Den verbotenen Fischfang betrieb der älteste Sohn, nahm wohl auch als echter Bravo gegen guten Lohn einmal die Partei eines Schwachen gegen den Stärkeren, war aber im Grunde genommen der harmloseste der Brüder, während Niklas, der um weniges jüngere, sich bereits an Barbillons Raubzügen beteiligte und auf der Seine, wie an dem Gelände derselben, Räuberei in großem Stile trieb. – Der jüngste der Brüder, Franz, übernahm Kahnfahrten auf der Seine. Ein letzter Bruder, Ambroise, war wegen nächtlichen Diebstahls und wiederholten Mordversuches lebenslänglich auf die Galeeren gebracht worden. Die älteste Tochter, die den Spitznamen Kürbis führte, half in Wirtschaft und Küche. Ebenso die jüngere, Amandine mit Namen . . .

Es war eine rabenfinstere Nacht. Am Himmel hing schweres Gewölk, nur hin und wieder blinkte ein Stern auf. Die Mutter Martial saß, von dreien ihrer Kinder umringt, am Herde; sie war eine große, magere Frau, die etwa 45 Jahre zählen mochte. Sie ging schwarz gekleidet. Ihr galligtes Gesicht mit der langen spitzen Nase und den scharf vorstehenden Backenknochen war von tiefen Pockennarben zerfressen, und tiefsitzende Mundwinkel machten den Ausdruck des kalten starren Gesichtes noch härter. Ueber mattblauen Augen ziehen sich graue Brauen hin. Die drei Frauen waren mit Näharbeit beschäftigt. Die ältere Tochter, groß und hager, sah der Mutter wie aus den Augen geschnitten; ihrer gelben Farbe verdankte sie den Namen Kürbis. Auf einem Schemel kauerte der jüngste Sohn, ein Fischnetz flickend. Sein sonnenverbranntes Gesicht verriet blühende Gesundheit. Ein Wald braunen Haares umschloß es. Seine Augen hatten einen lebhaften, durchbohrenden Blick. Neben ihm saß Amandine, seine Lieblingsschwester, Zeichen aus gestohlener Wasche zupfend. Sie war kaum 9 Jahre alt und sah Franz täuschend ähnlich; nur waren ihre Züge bei weitem nicht so grob wie die seinigen. Ihre Augen waren klein, aber von sanftem Ausdruck und reinem Blau. Traf ihr Blick den des Bruders, dann zeigte sie auf die Tür, und der Bruder antwortete mit einem Seufzer, um die Aufmerksamkeit der Schwester durch eine geschwinde Gebärde auf sich zu lenken und dann laut zehn Maschen abzuzählen, was soviel bedeutete, wie daß er vor zehn Uhr nicht zurückkommen werde. Faßte man die beiden älteren Weiber mit den bösen Mienen und dann die beiden armen, stummen und schüchternen Kinder schärfer ins Auge, dann konnte man nicht im Zweifel darüber sein, daß man sich einem Henker- und einem Opferpaare gegenüber befand. Das leuchtete aus der Angst hervor, die auf den Gesichtern der letzteren stand, da die Mutter kein Wort an sie richtete. War diese auch im allgemeinen recht redselig, so verriet doch dieses gänzliche Schweigen, wie auch der scharfe Zug um die zusammengebissenen Lippen, daß die Mutter in sehr böser Stimmung war.

Das Feuer drohte auszugehen . . . Die ältere Schwester befahl Franz, noch mehr Holz anzulegen. Franz erwiderte, daß keines mehr da sei; rührte sich auch nicht, als ihm der weitere Befehl wurde, welches zu holen. Er hielt den Kopf auf den Boden gesenkt, erriet aber, daß jetzt die Mutter einen grimmen Blick auf ihn heftete, und wagte sich nicht zu rühren, um ihm nicht zu begegnen . . .

Die ältere Schwester fuhr ihn an: »Junge, bist du denn taub?« – »Eher lasse ich mich prügeln,« rief der Bruder, »als daß ich in den Stall gehe. Ich fürchte mich dort.« – »Bist doch schon hundertmal dort gewesen, erst gestern abend noch . . . warum willst du jetzt auf einmal nicht?« –

Von Schauder geschüttelt, versetzte Franz: »Weil dort – einer – begraben liegt.« – Mutter und Tochter zuckten zusammen, wie von einer Tarantel gestochen . . . »Du bist ein erbärmlicher Lügner, Franz,« rief die ältere Schwester. – »Nein, was ich sage, ist die Wahrheit. Wie ich gestern das Holz aufschüttete, habe ich gesehen, daß ein Knochen, von einer Leiche, aus der feuchten Erde ragte.« – »Ist das ein dummer Junge!« sagte die Schwester, der Mutter zublinzelnd, »du weißt doch, daß ich gestern Schöpsenknochen hingetragen habe.« – »Nein, es war ein Knochen von einer Leiche,« beharrte Franz, »ich habe ganz deutlich gesehen, daß es ein menschlicher Fuß war.« Aber er konnte nicht weiter sprechen, denn die Mutter trat mit einem Stock in der Hand auf ihn zu, packte ihn und stieß ihn, seines Widerstrebens nicht achtend, die Treppe zur Küche hinauf. Gleich darauf hörte man Gestampf, dann Geschrei, untermischt mit Schluchzen. Nach einiger Zeit kam die Frau die Treppe wieder herunter und setzte sich, ohne eine Spur von Erregung zu zeigen, am Herde nieder, die Arbeit wieder vornehmend, die sie aus der Hand gelegt hatte. Aus ihrem Munde kam kein Wort.


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