Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Sechster Teil.

Erstes Kapitel.

Jakob Ferrand.

Zu der Zeit, da diese Erzählung spielt, lief am einen Ende der Rue du Sentier noch eine lange, mit Kalk beworfene Mauer entlang, die Ferrands Garten eingrenzte und da an ein Gebäude stieß, das sich zur Straße hinwandte und nur ein Stock hoch war. Ein großes Tor, zu dessen beiden Seiten zwei große Schilder von vergoldetem Kupfer, den Notariatssitz anzeigend, hingen, führte zu einem bedeckten Gange hin. Rechts lag das Stübchen eines alten halbtauben Pförtners, der zur Schneiderzunft gehörte. Daneben führte eine schmale, finstre Wendeltreppe zur Expedition hinauf, die, wie eine Inschrift unten besagte, im ersten Stockwerk zu suchen war. Nach dem Garten zu hatte das Haus nur vier Fenster, denn zwei waren vermauert. Der Garten war von Gebüsch überwuchert. Kein einziges Beet war darin. Etwa ein halbes Dutzend Ulmen, ein paar Akazien, Fliedergesträuch, verblichener Rasen, Gänge, von Brombeerhecken überwuchert, im Hintergrunde ein niedriges Gewächshaus und als Horizont die hohlen kahlen Mauern der Nachbarhäuser mit wenigen, meist vergitterten Fensterchen: so sah es in dem Garten des Notars aus . . .

Er war ein sehr sparsamer Herr, dieser Notar, der so gut wie gar kein Haus machte, zu den Misanthropen gehörte und allen Luxus, alle Zerstreuungen, die mit Geldkosten verbunden waren aufs äußerste haßte. Alles kam ihm im übrigen auf den Schein an, und diesem opferte er alle persönlichen Neigungen. Er stammte auch aus einer Familie von Geizhälsen. Aber Ferrand war eine Ausnahme von diesem Schlage Menschen, denn er wagte viel, und »wagen« ist bekanntlich sonst ein Wort, das in dem Lexikon dieser geringwertigen Subjekte fehlt. Das kam daher, weil er viel auf seine Klugheit sich zu gute tat; er war auch im Grunde genommen kaum einmal im Leben in wirklicher Bedrängnis, denn er war um ein Auskunftsmittel niemals verlegen, und was er tat, tat er immer mit so maßloser Kühnheit, daß ihm, wenn es je versucht worden wäre, von Gerichts wegen nichts angehabt werben konnte. Ferrand war auch noch in anderer Hinsicht eine Ausnahme: abenteuerliche, willensstarke Menschen, die vor Uebeltaten nicht zurückschrecken, werden in der Regel von irgend einer Leidenschaft, Spiel, Luxus oder Verschwendung, beherrscht: Ferrand nicht, aber er war schlau und zäh wie ein Häscher, grausam und entschlossen wie ein Mörder; ihn beherrschte eine andere Leidenschaft, die ihn aber fast zum Tiere erniedrigte: bei ihm war der sinnliche Trieb aufs stärkste ausgeprägt; befiel er ihn, dann kannte er sich nicht mehr, dann konnte er zum Wolfe, zum Tiger werden. So hatte er Luise verfolgt, bis sie ihm unterlegen war; darum hatte er ihrem Vater das Geld vorgeschossen, nur um auf diese Weise das Mädchen fest in seine Gewalt zu bekommen. Luisens Schönheit mußte ihn in sehr starke Bande geschlagen haben, sonst hätte er sich in solche Geldausgaben ganz gewiß nicht gestürzt, denn nicht selten überwog der Geiz alle anderen Laster, sogar die Sinnlichkeit, bei ihm.

Ferrand stand höchstens im 50. Lebensjahre, sah auch erst wie ein vierziger aus, war von Mittelgröße, hatte eine etwas gebückte Haltung, war breitschulterig, vierschrötig, rothaarig und dichtbehaart, so daß er etwas vom Bären an sich hatte. Das Haar lag ihm glatt an den Schläfen, die Stirn war kahl und glatt, die Brauen fehlten ihm fast ganz, und die gelbliche Haut seines Gesichts war so stark mit Flecken bedeckt, daß sie kaum sichtbar war. Ergriff ihn aber die Leidenschaft, dann färbte sich sein Gesicht mit tiefer Röte.

Er hatte ein plattes Gesicht, eine stumpfe Nase und dünne, schmale Lippen, so daß sein Mund aussah, wie in das Gesicht eingeschnitten; sobald er lächelte – was nie anders geschah als aus Bosheit – traten die Spitzen seiner Zähne, die fast durchweg schwarz und schadhaft waren, zum Vorschein. Er war fast immer glatt rasiert, sein Gesicht hatte einen strengen, kalten Ausdruck, in der Regel auch den einer frommen Heuchelei, der um so schärfer hervorzutreten pflegte, als er den durchdringenden Blick seiner kleinen schwarzen, überaus lebhaften Augen hinter großen, grünen Brillengläsern versteckte.

Er trug sich mit gesuchter Nachlässigkeit, die fast bis zur Unsauberkeit ging; aber dadurch weckte er den Eindruck eines von der Welt abgelenkten, zynischen Philosophen, was ihm bei seinem Berufe nicht von Nachteil war.

Seine Kanzlei sah aus wie jede andere, und seinen Schreibern haftete auch nichts Besonderes an. Im Vorzimmer standen vier alte Stühle. Ueber ihre Pulte gebeugt, saß zwischen Schränken und Aktenregalen etwa ein halbes Dutzend Jünglinge, die sämtlich fleißig die Feder führten. Der erste Schreiber, auch wohl Bureauvorsteher tituliert, hielt sich gewöhnlich im Vorzimmer auf, wo er all die Klienten, die nicht unbedingt den Notar sprechen mußten, abzufertigen pflegte; zwischen dem Vorzimmer und dem Privat-Kabinett des Notars lag ein kurzer Gang. Eben hatte es an einer altertümlichen Kuckucksuhr, die zwischen den beiden Fenstern der Schreibstube hing, zwei Uhr geschlagen. Unter den Schreibern entstand eine gewisse Unruhe . . .

»Hätte mir jemand gesagt, Germain sei ein Dieb,« sagte einer von Schreibern, »so hätte ich ihm ins Gesicht gesagt, daß er lüge.« – »Na, ich auch.« – »Ich habe es auch kaum mitansehen können, wie er abgeführt wurde,« sagte ein dritter; »aber siebzehntausend Franks sind freilich eine Summe!« – »Aber in den fünf Vierteljahren, seit Germain Kassierer ist, hat doch alles bisher auf den Centime gestimmt.« – »Unrecht wars von Ferrand, ihn einstecken zu lassen,« sagte der erste wieder, »hat er sich doch hoch und teuer verschworen, nur 1300 Franks auf ein paar Stunden entliehen zu haben, die er ja auch wiedergebracht hat.« – »Ja, aber Menschen von Ferrands Grundsätzen lassen eben nicht mit sich spaßen,« meinte ein anderer. – »Er macht, wie es scheint, reinen Tisch,« zischelte einer, »in der Frühe gings der Luise an den Kragen, und am Vormittag muß Germain ins Loch.«

»Ach, da kommt Chalemel! Der bringt vielleicht was Neues vom feschen Saint-Remy.« – »Hm,« antwortete Chalemel, »sein Wagen war schon vorgefahren, und ein Diener mußte mir sagen, er käme auf der Stelle, setzte aber hinzu, er sähe gar nicht gut aus . . . Aber, meine Herren! herrscht dort ein Luxus! Davon hat ja kein gewöhnlicher Sterblicher eine Ahnung.« – »Na, Schulden genug hat der Herr Vicomte bekanntlich und muß sich stündlich darauf gefaßt machen, daß er ins Schuldgefängnis abgeführt wird.« – »Ein Wechsel von 3400 Franks ist vom Gerichtsamt hergeschickt worden. Der Gläubiger besteht drauf, daß er in unsers Herrn Kanzlei bezahlt werde. Warum? ist aus der Zustellung nicht ersichtlich.«

»Nun, er muß doch bezahlen können,« meinte ein anderer wieder, »denn gestern abend ist er vom Lande wieder in die Stadt gekommen, nachdem er sich drei Tage lang versteckt gehalten hat.«

»Und weshalb ist er nicht schon gepfändet worden?« – »Ist das eine alberne Frage! Gehört ihm denn was? Das Haus gehört nicht ihm, das Mobiliar ist auf den Namen seines Dieners gekauft worden, Pferd und Wagen gehören dem Kutscher . . . O! Der Vicomte ist ein gar schlauer Kunde . . . Doch wovon war die Rede? Was gibts Neues?« – »Ach! denken Sie sich! Vor zwei Stunden kommt Ferrand wie ein Wilder in die Kanzlei gestürzt, schreit nach Germain und behauptet, von ihm um 17 000 Franks bestohlen worden zu sein.« – »Aber das ist doch Unsinn,« versetzte Chalemel, »da kenne ich doch Germain besser.« – »Ferrand hat ihn aber verhaften lassen, trotzdem er beteuert hat, nur 1300 Franks aus der Kasse entnommen zu haben, die er aber auf der Stelle wiederbrachte. Aber Ferrand blieb dabei, Germain habe 17 000 Franks, 2000 in Gold und den Rest in fünfzehn Tausend-Franks-Scheinen, gestohlen, die er in einem grünen Portefeuille in seinem Privatkabinett verwahrt hätte . . . Es half Germain nichts, seine Unschuld zu beteuern. Ferrand war unerbittlich und ließ ihn festnehmen.«

»Aber Germain ist doch die Ehrlichkeit in Person!« rief Chalemel wieder. – »Nun, eins spricht sehr zu seinen Ungunsten: er wollte doch niemals sagen, wo er wohnte.« – »Freilich. Das stimmt.« – »Und dann sah er immer so aus, als ob er etwas auf dem Herzen hätte.« – »Vielleicht Luisens wegen?« fragte einer. – »Wißt Ihr denn nicht, was von der alten Seraphim gesagt wird?« rief ein anderer, »Germain soll ja Luisens Liebhaber und Vater von ihrem Kinde sein!« – »Na, solch ein Schleicher!« – »Ach, schwatzt doch kein sinnloses Zeug!« verwies sie der erste Schreiber, »so etwas ist doch hundsgemeine Lüge!« – »Das sage ich auch,« stimmte ein anderer bei, »mir hat Germain doch erst vor vierzehn Tagen gesagt, daß er sich in eine kleine Nähmamsell verliebt habe, die er in einem Hause, wo er gewohnt, kennen gelernt habe. Als er von dem Mädchen sprach, traten ihm die Tränen in die Augen.«

»Lassen wir Germain beiseite,« sagte der erste Schreiber, zu Chalemel tretend; »es wird sich schon herausstellen, wie es sich mit ihm verhält . . . Sagen Sie mir lieber, wie Sie Ihren Auftrag erfüllt haben?« – »Herr von Saint-Remy wird sogleich kommen, Herr Dubois,« versetzte Chalemel, »er hat mir gesagt, daß er die Wechselsumme zahlen werde.« – »Waren Sie auch bei der Gräfin Mac Gregor?« – »Allerdings. Hier ist ihre Antwort.« – »Und bei der Gräfin d'Orbigny?« – »Sie läßt sich bei Herrn Ferrand bedanken. Gestern früh ist sie aus der Normandie gekommen, hat so schnell nicht auf Bescheid gerechnet, schickt aber beifolgenden Brief. Ich bin auch beim Intendanten von Harvilles gewesen, um mich wegen der Kontraktkosten zu erkundigen; auch der Intendant hat gleich bezahlt. Hier ist das Geld. Aber fast hätte ich die Karte hier vergessen, die mir der Pförtner gab, und auf der mit Bleistift ein paar Worte geschrieben stehen. Der Herr hatte nach dem Notar gefragt und das Billet dagelassen.«

»Walter Murph,« las der Bureauvorsteher, »wird sich erlauben, in einer höchst wichtigen Sache um 3 Uhr wieder zu erscheinen . . . Murph? Ich kenne keinen Klienten dieses Namens.« – »Eins noch,« sagte Chalemel, »Badinot meinte, ich solle bestellen: so wie es Herr Ferrand gemacht habe, sei alles gut.« – »Schriftlich hat er nichts mitgegeben?« fragte der Bureauvorsteher; »oder hatte er keine Zeit?« – »Er läßt nur sagen, daß Herr Karl Robert im Laufe des Tages mit dem Herrn zu sprechen suchen werde. Soweit ich gehört zu haben meine, hat er sich gestern mit dem Herzoge von Lucenay duelliert.«

»Oho!« riefen alle wie aus einem Munde: »ein Wagen!« – »Es ist die Kalesche des Herrn von Saint-Remy,« erklärte der Bureauvorsteher: und wenige Augenblicke später trat Herr von Saint-Remy auf die Schwelle.


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