Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Fünftes Kapitel.

Marienblümchen

Während des letzten Teiles des hier geschilderten Auftrittes war Fräulein von Fermont der Marquise von Harville überlassen worden, die sich mit den beiden barmherzigen Schwestern in ihre Pflege teilte. Eine von ihnen hielt das bleiche schwere Haupt des jungen Mädchens, während die Marquise, über das Bett gebeugt, der Kranken den Schweiß von der kalten Stirn wischte.

Graf von Saint-Remy betrachtete, tief bewegt, dies ergreifende Bild, als ihm plötzlich ein trauriger Gedanke durch den Kopf schoß . . .

»Und die Mutter des unglücklichen Mädchens?« fragte er leise die Marquise.

»Gerechter Gott!« rief die Marquise, »sie ist tot. Ich erfuhr,« setzte sie hinzu, »erst gestern Abend bei meiner Rückkehr, wo sich Frau von Fermont aufhielte, und in welch hoffnungslosem Zustande sie sich befände . . . So früh es mir mit meinem Arzte möglich war, begab ich mich zu ihr . . . Ach, lieber Graf! Welch ein Bild bot sich mir da! Die Armut in all ihren Schrecken! Und von Hoffnung, die arme, im Sterben liegende Frau zu retten, nicht die geringste Möglichkeit!«

»Ach, wenn sie ihrer jugendlichen Tochter gedacht hat, muß es ein schwerer Todeskampf gewesen sein!« rief Saint-Remy. – »Nun, der Name ihrer Tochter war ihr letztes Wort.« – »O, schrecklich, schrecklich!« rief der Graf, »und sie war eine aufopfernde Frau, eine zärtliche Mutter! Ach, es ist gräßlich!«

Eine barmherzige Schwester unterbrach die Unterhaltung des Grafen mit der Marquise und sagte zur letzteren: »Das junge Mädchen ist sehr schwach. Sie hört kaum. Vielleicht kommt sie gerade wieder ein wenig zu sich. Sofern es Sie nicht beschwert, solange hier zu verweilen, bis die Kranke völlig wieder zum Bewußtsein gekommen, möchte ich mir erlauben, Ihnen meinen Stuhl anzubieten.«

»O, bitte, mir ganz angenehm,« erwiderte die Marquise, »will ich doch Fräulein von Fermont erst verlassen, wenn ich sie wieder bei Bewußtsein und klarem Verständnis ihrer Situation weiß. Zum wenigstens soll sie, wenn sie die Augen wieder aufschlägt, ein wohlwollendes Antlitz aus ihrer Sphäre erblicken . . . Der Arzt meinte, sie könne ohne Gefahr aus dem Spitale geschafft werden. Ich werde sie also gleich mitnehmen.«

»Ach, Marquise,« rief Saint-Remy, »möge Gott Sie für all das Gute, das Sie der Menschheit erweisen, reichlich belohnen! Verzeihen Sie, daß ich Ihnen noch immer nicht gesagt habe, in welchen Beziehungen ich zu dem Herrn von Fermont, dem Gemahl der verstorbenen Dame, gestanden. Er war mein liebster Freund. Ich habe mit ihm in Angers gewohnt und bin dort weggezogen, weil ich gar keine Kunde von der edlen Frau erhielt, die eines Tages, als sie erfuhr, daß ihr Bruder in Paris sich selbst das Leben genommen, mit ihrer Tochter dorthin gereist war. Nach einiger Zeit erfuhr ich, die arme Frau hätte ihr ganzes Vermögen eingebüßt, was doch für sie um so schrecklicher sein mußte, als sie bis dahin im Wohlstande gelebt hatte.«

»Nun, das trifft freilich zu, aber Sie scheinen noch nicht zu wissen, daß die Frau auf die gemeinste Weise um ihr Hab und Gut betrogen worden ist.«

»Doch nicht durch ihren Notar?« fragte Saint-Remy; »solcher Argwohn ist mir allerdings aufgestiegen.«

»Es war ein elendes Subjekt, dieser Notar Ferrand!« rief die Marquise empört, »nicht bloß dieses Verbrechen hat er begangen, sondern ein noch weit schlimmeres: und einzig und allein in der Absicht, sich in Besitz des Fermontschen Vermögens zu setzen; aber – er ist gezwungen worden, das Geld wieder herauszugeben, so daß –«

»–Dieses unglückliche Mädchen,« fiel Graf Saint-Remy ihr ins Wort, »wieder zu ihrem Gelde gelangen wird?« –

»Allerdings,« antwortete Frau von Harville, »aber Sie wissen wirklich noch nichts über die schrecklichste aller Missetaten, die dieser Notar Ferrand begangen hat, getrieben von maßloser Habsucht?«

»Nein, gnädige Frau, kein Wort!« sagte der Graf.

»Der Notar hat den Bruder der Frau von Fermont ermordet und das Gerücht verbreitet, daß sich derselbe selbst das Leben genommen habe, nachdem er das Vermögen seiner Schwester vergeudete.« –

»Das ist ja geradezu gräßlich!« rief der Graf; »an einen Selbstmord habe ich allerdings niemals recht glauben mögen, da Renneville doch immer die Ehrenhaftigkeit selbst war . . . Aber – wo ist das Geld deponiert worden, das Ferrand zurückerstattet hat?«

»Es wurde dem Pfarrer des Kirchspiels, in welchem der Notar Ferrand domiziliert, behändigt und wird Fräulein von Fermont übergeben werden.«

»Es genügt nicht, daß einem solchen Schurken das Geld wiedergenommen wird, das er sich auf solch schurkische Weise zu eigen gemacht hat,« erwiderte der Graf, »solch ein Halunke muß an den Galgen! Hat er doch nicht einmal, sondern zwiefältig gemordet! Was diese arme Frau von Fermont mit ihrer Tochter gelitten, ist doch einzig und allein durch den schmählichen Vertrauensmißbrauch des Schurken hervorgerufen worden.«

»O, ihn belastet noch ein weiterer Mord,« sagte die Marquise, »erst vor wenigen Tagen noch hat er sich Straflosigkeit dadurch zu sichern gestrebt, daß er ein blutjunges Mädchen, an deren Tode ihm viel gelegen war, auf eine Seine-Insel geschickt, wo sie ins Wasser gestürzt worden ist.«

»Welch ein seltsames Zusammentreffen!« sagte der Graf. »Auf welcher Seine-Insel ist das passiert?« – »Bei Asnières,« erklärte die Marquise. – »Sie ist's! sie ist's!« rief Saint-Remy. – »O, von wem sprechen Sie?« fragte die Marquise. – »Von dem jungen Mädchen, an deren Tode dem Verbrecher sehr viel gelegen war.« – »Doch nicht Marienblume?« – »O, Madame, Sie kennen sie?« rief der Graf. – »Ich habe das arme Kind von Herzen geliebt. O, wüßten Sie, welch ein liebliches, welch ein edles treues Kind es war . . . Doch wie geht es zu, daß . . .«

Der Graf fiel ihr ins Wort: »Doktor Griffon und ich haben ihr den ersten Beistand geleistet.« – »Den ersten Beistand?« wiederholte die Marquise, »ihr? und wo?« – »Auf der Insel bei Asnières . . . als sie gerettet worden war.«

»Das Mädchen ist gerettet worden?« rief die Marquise, »und wie?«

»Ein wackeres Weib, derb, aber ehrlich, hat sie mit eigner Gefahr des Lebens aus der Seine gefischt,« versetzte

»O, kaum wage ich an eine so glückliche Wahrheit zu glauben, Herr Graf,« antwortete die Marquise, »sondern fürchte fast, Sie möchten sich geirrt haben. Sagen Sie mir, Graf, wie sieht das Mädchen aus? Ich beschwöre Sie, wie sieht das Mädchen aus?« – »Sie ist von hervorragender Schönheit, Marquise.« – »Blondine? Große blaue Augen?« – »Ja, Madame!«

»Sagen Sie eins noch: Als man sie in der Seine ertränken wollte, hat sich ein älteres Weib bei ihr befunden?« – »Davon gesprochen hat sie, das stimmt. Doch nur andeutungsweise. Sie ist noch sehr schwach und kann erst seit gestern wieder sprechen. Aber ich glaube bestätigen zu dürfen, daß eine bejahrte Frau sich in ihrer Gesellschaft befunden hat.«

Da faltete Clemence die Hände und rief: »Gelobt sei Gott! Ich werde also ihm die Botschaft bringen dürfen, daß seine Schutzbefohlene noch lebt. Welche Freude für ihn! Erst in seinem letzten Briefe an mich hat er mit schmerzlichen Ausdrücken von dem jungen Kinde gesprochen. O, Herr Graf! Wüßten Sie, wie glücklich Sie mich durch diese Kunde machen! Und außer mir noch eine andere Person, die dem armen Kinde noch mehr Liebe geschenkt, es noch mehr in seinen Schutz genommen hat . . . aber – wo ist das Mädchen jetzt?«

»Im Hause desselben Arztes, der dieses Spital leitet, des Doktor Griffon, in Asnières. Doktor Griffon hat ja seine Gelehrtenschrullen, die mir gar nicht behagen, ist aber sonst ein sehr wackerer Herr, der dem Mädchen alle nur denkbare Fürsorge und Pflege angedeihen läßt.« –

»Ist das Mädchen jetzt aus aller Gefahr?« – »Gewiß. Madame, doch erst seit ein paar Tagen. Heute wird ihr erst gestattet werden, an ihren Beschützer zu schreiben.« – »Nun, diese Arbeit will ich ihr abnehmen,« rief die Marquise, »oder vielmehr, ich werde mir die Freude sichern, das arme Kind zu den Leuten hinzuführen, die schon ihren Tod beklagen, die in tiefster Trauer um sie sind.«

»Daß man um Marienblümchen trauert, will mir freilich einleuchten,« erwiderte der Graf, »denn wer sollte sie kennen, ohne ihrem Zauber sich unterworfen zu fühlen? Auf wen übte nicht die Anmut und Sanftmut dieses herrlichen Geschöpfes eine geradezu unbeschreibliche Gewalt? Das Weib, das sie aus dem Wasser gerettet hat,« fuhr der Graf fort, »ist, wie gesagt, eine Person voll Mut und zu aller Aufopferung fähig, besitzt aber ein so heftiges, ungebärdiges Temperament, daß sie »die Wölfin« genannt wird. Seit aber Marienblume nur ein paar Worte mit ihr gesprochen, ist die Wölfin wie umgewandelt. Ich habe es selbst mit angesehen, wie sie geschluchzt und geweint hat, als Doktor Griffon nach einer sehr schweren Krise am Leben des dem Ertrinken so nahe gewesenen Mädchens verzweifelte.«

»Das will mich nicht weiter Wunder nehmen,« versetzte die Marquise, »ich kenne die Person dieses Namens.«

»Sie kennen die Wölfin, Madame?« versetzte Saint-Remy in heller Verwunderung, »wie ist das möglich?« – »Daß Sie sich darüber verwundern, lieber Graf, wundert nun freilich mich nicht,« erwiderte Clemence und lächelte vergnügt, denn sie fühlte sich glücklich in dem Gedanken, dem Fürsten eine so überfrohe Kunde überbringen zu können . . . Aber wie groß wäre erst ihre Freude gewesen, hätte sie gewußt, daß sie Rudolf eine von ihm für verloren gehaltene Tochter wieder zuführen sollte!


Nach Verlauf von etwa einer Stunde führte Frau von Harville in Begleitung des Grafen von Saint-Remy Fräulein von Fermont, die vom Ableben ihrer Mutter noch keine Nachricht hatte, aus dem Bürgerhospitale in ihr Palais und fuhr hierauf unverzüglich mit dem Grafen von Saint-Remy nach Asnières, um dort Marienblümchen abzuholen und zu Rudolf zu bringen.


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