Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Zweites Kapitel.

Erinnerungen

»Gute kleine Lachtaube!« rief Clemence gerührt, als Rudolf den Brief vorgelesen hatte. »So einfach schreibt sie und doch so gefühlvoll!« – »Ja,« antwortete Rudolf, »sie hat verdient, was man ihr Gutes erwiesen. Ihr Herz ist wie Gold, und unser Kind hier –« Doch erschrocken über Marienblumens Blässe und Traurigkeit, unterbrach er sich und rief: »Was ist dir?«

»O, wie anders ihr Leben und wie anders meines!« seufzte das Mädchen. »Arbeit und Tugend! Ehre und Glück! Diese vier Worte sagen, was ihr Leben gewesen und was es bleiben wird. Als Mädchen tugendhaft und fleißig, als Frau geliebt und geehrt, als Mutter glücklich – das ist ihr Los, während ich –«

»Lieber Gott, was redest du da?« – »O, verzeihen Sie mir, lieber Vater! Bezichtigen Sie mich nicht des Undanks! Doch was hilft all Ihre unerschöpfliche Zärtlichkeit, was meiner zweiten Mutter Liebe, was all der Glanz um mich her – meine Schande ist doch nicht auszumerzen. Selbst Ihre Fürstenmacht kann das Geschehene nicht ungeschehen machen. Nochmals, verzeihen Sie mir, mein Vater! Ich verschwieg es Ihnen bisher, aber die Erinnerung an mein Dirnentum bringt mich zur Verzweiflung und wird mich töten!«

»Clemence, höre!« rief Rudolf, verzweifelnd. – »Unglückliches Kind!« sagte Clemence und preßte des Mädchens Hände in den ihren, »unsere Zärtlichkeit, die verdiente Liebe aller um Sie her beweisen Ihnen doch, daß die Vergangenheit für Sie nur ein böser, leerer Traum gewesen sein soll! – »O, welch bitteres Verhängnis!« rief Rudolf. »Wie verwünsche ich jetzt meine Zurückhaltung, die mich schweigen ließ! Nur zu lange wuchert schon der unglückliche Gedanke in ihrer Seele, nun ist es zu spät, den beklagenswerten Wahn zu bekämpfen. O, wie unglücklich macht mich das!«

»Mut, mein Gemahl!« sagte Clemence, »du sagtest selber, es sei gut, daß wir nun den Feind kennen, gegen den wir uns zu wenden haben. Wir wissen jetzt, weshalb unser liebes Kind so schwermütig ist, und wir werden ihren Gram besiegen, denn wir haben Vernunft, Gerechtigkeit und Liebe auf unserer Seite.«

Marienblume schwieg und schien nach Fassung zu ringen. Nach einer Weile nahm sie Rudolf bei der einen, Clemence bei der andern Hand und sprach im Tone tiefer Ergriffenheit: »Hören Sie mich, mein lieber Vater, und Sie, meine gute Mutter! Es ist ein feierlicher Tag der Entscheidung. Gott hat nicht gewollt, daß ich Ihnen noch länger verhehlen soll, was ich im Herzen empfinde. Doch auch ohnedies hätte ich Ihnen bald gestehen müssen, was mich quält, denn ich hätte es nicht länger für mich behalten können –« – »O, ich begreife alles,« rief Rudolf voll Schmerz, »nun ist jede Hoffnung verloren!« – »Meine Hoffnung beruht auf der Zukunft, mein Vater,« antwortete Marienblume, »und diese Hoffnung leiht mir Kraft, jetzt so zu Ihnen zu sprechen.«

»Und was kannst du von der Zukunft erwarten, armes Kind, da die Gegenwart nur Schmerz und Trübsal für dich hat?« – »Das will ich Ihnen sagen, lieber Vater. Doch zuvor erlauben Sie mir, Ihnen vor Gott, der mich hört, zu gestehen, was mein Herz bewegt.« – »Sprich, sprich, wir hören,« sagte Rudolf, indem er sich mit Clemence zu Marienblume setzte.

»Solange ich in Paris war, bei Ihnen, mein Vater,« begann Marienblume, »war ich glücklich, so glücklich, daß mich diese schönen Tage durch jahrelanges Leid nicht zu teuer erkauft dünkten. Sie sehen, ich habe da wenigstens kennen gelernt, was es heißt, glücklich zu sein.« – »Nur auf einige Tage?« – »Doch dafür war das Glück ungetrübt. Sie widmeten sich mir mit zärtlichster Liebe, und ich gab meiner Dankbarkeit und Neigung rückhaltlos Raum. Die Zukunft war für mich wie ein Zauber: ich sollte einen Vater haben, den ich anbeten konnte, eine Mutter, die ich doppelt lieben konnte, da ich die erste nie gekannt. Und dann war ich so stolz darauf, Ihr Kind zu sein! Als die, die in Paris Ihre Umgebung bildeten, mich Hoheit nannten, schmeichelte mir dieser Titel. Wenn ich damals einmal der Vergangenheit gedachte, so sprach ich zu mir selbst: Ich, die einst so niedrig stand, so tief gesunken war, ich lebe jetzt in Glanz und Pracht ein königliches Dasein. Das Glück kam mir eben zu überraschend. Ihre Macht wob einen solchen Glanz um mich her, daß man mir wohl nicht verübeln darf, wenn ich mich blenden ließ.«

»Nicht verübeln? Das war ja doch ganz natürlich, armes Kind. Es war nicht unrecht, auf einen Rang stolz zu sein, der dir zukam, dich zu freuen über die Vorzüge des Standes, zu dem ich dich wieder erhoben. Ach, ich erinnere mich gar wohl! Damals warst du von Herzen froh und fielst mir oft, überwältigt von Glück, an die Brust und riefst in einem Tone, wie ich ihn seither nicht mehr von dir vernommen: O, Vater, zuviel, zuviel des Glücks! Leider dachte ich stets nur daran, wie glücklich du damals gewesen, und habe mich dann über die späteren traurigen Stimmungen nicht weiter beunruhigt.«

»Aber sagen Sie mir doch, liebes Kind, wodurch ist die ungetrübte und durchaus gerechtfertigte Freude in solche Schwermut verwandelt worden?« fragte Clemence. – »Durch einen traurigen, unvorhergesehenen Umstand,« antwortete Marienblume und erbebte leise. »Sie erinnern sich doch jenes entsetzlichen Auftritts, mein Vater, der sich bei unserer Abreise von Paris ereignete? Da, als der Schuri-Mann ermordet war und in die Wirtsstube gebracht war, als er seinen Geist aushauchte, wissen Sie, wen ich da erblickte? Die Wirtin vom weißen Kaninchen!«

»Dieses Ungeheuer hast du wiedergesehen? und wo?« – »Sie haben sie nicht bemerkt, sie stand in der Wirtsstube, wo der Schuri-Mann starb, unter den Frauen, die sich mit hereingedrängt hatten.« – »Ach!« rief Rudolf bekümmert. »Ich begreife. Erschüttert über den Tod des Mannes, glaubtest du in dieser Begegnung einen Fingerzeig Gottes erblicken zu sollen.« – »Sie deuten meine Gedanken richtig,«.antwortete Marienblume. »Als ich dieses Weib erblickte, war mir zumute, als wenn all mein Glück auf einmal vernichtet würde. Die Vorsehung schien mich für meinen Stolz, meine Freude zu strafen und mich daran zu erinnern, daß ich die Sünden der Vergangenheit nur durch Reue und Demut sühnen könne!«

»Allein für diese Vergangenheit bist du nicht verantwortlich zu machen, armes Kind – du wurdest betört, vergewaltigt –« begütigte Clemence die sich in Erinnerungen Peinigende, – »Du bist in den Abgrund hineingestoßen worden wider deinen Willen und konntest von selbst nicht wieder heraus, so sehr du auch die Gesellschaft verabscheutest, in der du dich bewegen mußtest. Du wärest für immer an diese Hölle gefesselt gewesen, wenn nicht der Zufall mich dir in den Weg geführt hätte.« – »Doch diese Schändlichkeiten, lieber Vater, haben mich berührt, vergiftet, und nichts kann diese entsetzlichen Erinnerungen tilgen. Sie haben mich in die ländliche Stille von Bouqueval verfolgt, sie haben mich in Saint-Lazare gepeinigt, sie folgen mir bis in diesen Palast, bis in die Arme des Vaters, bis an die Stufen des Thrones.« Und das Mädchen brach in bittere Tränen aus.

Rudolf und Clemence standen stumm vor diesem Ausbruch unversöhnlicher Gewissensbisse, sie konnten nur mit ihrer Tochter weinen, denn sie fühlten, wie ohnmächtig sie seien, das arme Mädchen zu trösten.

»Seitdem,« fuhr Marienblume fort, die Tränen trocknend, »sagte ich mir täglich voll bittrer Scham: Man ehrt und achtet dich, die Edelsten des deutschen Volks begegnen dir zuvorkommend, die Schwester eines Kaisers hat sich vor dem versammelten Hofstaat herabgelassen, mir das Stirnband umzulegen – und ich habe im tiefsten Abschaum von Paris gelebt als Duzschwester von Mördern und Dieben. Verzeihen Sie mir, mein Vater, aber je höher ich gestellt wurde, um so tiefer war der Gram über die Niedrigkeit meines frühern Lebens. Bedenken Sie doch, was es heißt, das gewesen zu sein, was ich war! Und nun mitanzusehen, wie ehrwürdige Herren sich vor mir neigen, wie junge, edle Mädchen und ehrbare Frauen sich geehrt fühlen, wenn sie mir nahe kommen dürfen, wie erhabene Fürstinnen mich liebevoll behandeln. Mich dünkt dies frevelhaft, ja ich habe das Gefühl, als lästerte ich alles, was heilig ist! O, was leide ich bei dem Gedanken, daß meine Vergangenheit bekannt werden könnte! Wie würde man dann die verachten, die man jetzt so verehrt.«

»Aber, Kind, meine Gattin und ich kennen deine Vergangenheit und lieben dich doch.« – »Ihrer beiden Zärtlichkeit ist blind.« – »Und alle die Wohltaten, die du getan hast, seit du hier weilst, die fromme Anstalt, die allen verwaisten, verlassenen Mädchen eine Zuflucht bietet, dein Wille, sie deine Schwestern zu nennen und wie solche zu behandeln, ist denn das alles nichts, Fehltritte abzubüßen, an denen dich gar keine Schuld trifft? Doch ich sehe es wohl, alle Vernunftgründe sind machtlos gegen eine so feste Ueberzeugung, von der Vergangenheit nicht loszukommen. Die Kluft zwischen deiner Vergangenheit und deiner jetzigen Stellung muß für dich eine beständige Marter sein. Vergib mir nur, insoweit ich daran schuld bin!«

»Ich Ihnen vergeben, lieber Vater? Großer Gott, was denn?« – »Daß ich an deine große Gewissenhaftigkeit, deine Empfindlichkeit nicht vorher gedacht habe. Ich kannte dein feinfühlendes Herz und hätte alles voraussehen sollen. Allein ich war zu stolz auf dich und glaubte, dich so hoch heben zu können, daß du das Vergangne darüber vergessen würdest. Nun ist das Gegenteil eingetreten. Je höher ich dich hob, um so tiefer sahst du den Abgrund des Geschehenen unter dir gähnen. Und daran trage ich die Schuld. Ich glaubte, gut zu tun, und habe mich getäuscht. O, ich wähnte, mir sei verziehen, allein die Rache des Himmels ist noch nicht befriedigt. Ich soll noch büßen im Unglück meiner Tochter.«

Es klopfte an die Tür. Der Fürst öffnete, und Murph erschien mit einem Briefe. – »Verzeihung, daß ich störe,« sagte Walter. »Ein Bote des Fürsten von Herkausen-Oldenzaal bringt dieses Schreiben, das Eurer Hoheit unverzüglich übergeben werden soll.« – »Ich danke dir, mein guter Murph,« sagte Rudolf. »Bleibe, denn ich werde gleich mit dir zu reden haben.« – Dann öffnete er den Brief und las, was folgt:

»Eure Hoheit!

Darf ich die Hoffnung hegen, daß die Verwandtschaft, in der ich zu Euer Hoheit stehe, und die Freundschaft, mit der Sie mich beehren, einen Schritt verzeihlich erscheinen lassen, der wohl eine große Kühnheit wäre, würde er mir nicht durch meine Wahrhaftigkeit nahegelegt. Es sind fünfzehn Monate her, gnädiger Herr, seit Sie aus Paris zurückkehrten in Begleitung einer Tochter, die Ihnen um so teurer war als Sie sie schon für verloren hielten, während sie doch stets bei der Mutter geweilt hatte, die Sie dann, um Ihre Tochter zu einem legitimen Kinde zu erheben, heirateten.

Ihre Tochter ist also von fürstlicher Geburt, zudem von unvergleichlicher Schönheit und von hohem Geiste, wie mir meine Schwester, die Aebtissin von Sankt-Hermangild schreibt, die das Glück hat, die vielgeliebte Tochter Eurer Hoheit oft zu sehen.

Nun, gnädiger Herr, komme ich ohne Umschweife auf den Gegenstand dieses Briefes, da eine Krankheit mich zu meinem Bedauern verhindert, persönlich mit Eurer Hoheit zu sprechen. Mein Sohn hat, als er in Gerolstein weilte, Prinzessin Amalie fast täglich gesehen. Er liebt sie mit aller Glut seiner Natur, aber er hat ihr seine Liebe noch nicht gestanden. Ich hielt es nun für meine Pflicht, Ihnen dies mitzuteilen. Sie haben meinen Sohn freundlichst an Ihrem Hofe aufgenommen, haben ihn eingeladen, wiederzukommen, und ihm Ihre Freundschaft zuteil werden lassen. Da würde ich mich Ihres Vertrauens unwert machen, wenn ich Ihnen diese Angelegenheit verheimlichte. Ich weiß freilich, es wäre töricht von uns, die Hoffnung zu hegen, daß wir in ein noch engeres Verhältnis zur Familie Eurer Hoheit kommen könnten. Aber ich weiß auch, daß Sie der liebevollste Vater sind, und wenn Sie meinen Sohn für einen Ihrer Tochter würdigen Mann halten und glauben würden, daß er Prinzessin Amalie glücklich zu machen imstande wäre, so würden Sie trotz des Standesunterschiedes und trotz unseres geringeren Vermögens Ihre Einwilligung zu diesem Bunde nicht versagen.

Mir kommt es nicht zu, meinen Sohn Heinrich zu loben, doch darf ich wohl an die Lobsprüche erinnern, die Eure Hoheit selbst ihm gezollt haben. Doch wie auch Ihre Entscheidung ausfallen wird, ich versichere Ihnen, wir werden uns ihr ehrerbietig unterwerfen, und ich werde nach wie vor bleiben

Eurer königlichen Hoheit ergebenster Freund und Diener

Gustav Paul, Prinz von Herkausen-Oldenzaal.«


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