Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Drittes Kapitel.

Bekenntnisse

Als Rudolf diesen Brief gelesen hatte, stand er eine Weile in Nachdenken versunken, dann erhellte ein Strahl der Hoffnung sein trauriges Gesicht, und er trat zu seiner Tochter zurück, die Clemence vergebens zu trösten versuchte. – »Mein Kind,« sagte er, »du hast recht, dieser Tag soll ein Tag feierlicher Bekenntnisse sein. Ich ahnte nicht, daß deine Worte in so unerwartetem Sinne zutreffen sollten.« – »Und was ist es, mein Vater, das Sie bewegt?« fragte Marienblume. – »Was hast du, mein Freund?« setzte Clemence hinzu.

»Ursache zu neuen Befürchtungen,« antwortete Rudolf. »Du hast mir deinen Kummer nur zur Hälfte bekannt.« – »Lieber Vater,« sagte Marienblume errötend, »bitte, erklären Sie sich näher.« – »Das kann ich jetzt auch – nachdem du uns hast wissen lassen, wie tief du an deinem Schicksal verzweifelst. Höre mich an, geliebte Tochter. Du hältst dich für sehr unglücklich – nein, du bist es. Als du beim Beginn unserer Unterredung von einem Auswege sprachst, der dir verbliebe, da habe ich dich verstanden. Nicht wahr, du wolltest in ein Kloster gehn?« – »Mein Vater!« – »Ist's so, mein Kind?« – »Ja, sofern Sie es mir gestatten,« antwortete Marienblume mit erstickter Stimme.

»Sie wollen uns verlassen!« rief Clemence. – »Das Kloster Sankt-Hermangild ist so nahe bei Gerolstein, daß wir uns oft hätten sehen können!« – »Aber bedenken Sie doch, liebes Mädchen, diese Gelübde gelten für immer – Sie sind aber noch nicht achtzehn Jahre alt, und vielleicht kommt eines Tages –« – »O, ich werde diesen Entschluß nie bereuen – ich werde Ruhe und Vergessen in der Einsamkeit des heiligen Hauses finden, wenn nur Sie, lieber Vater, und Sie, teure Mutter, mir Ihre Liebe erhalten.«

»Ein gottgeweihtes Leben mit seinen Pflichten und Tröstungen könnte allerdings,« antwortete Rudolf, »deinen Gram lindern, wenn auch nicht heilen. Obwohl es sich dabei auch um mein halbes Lebensglück handelt, so wäre es doch möglich, daß ich deinen Entschluß billigte.« – »Wie? auch du, Rudolf?« rief Clemence. – »Erlaube mir, mich ganz zu erklären, liebe Gattin,« antwortete Rudolf, und sich zu seiner Tochter wendend, fuhr er fort: »Ehe wir dieses Aeußerste beschließen, müssen wir prüfen, ob sich dir nicht eine andere Zukunft bieten könnte, die deinen und unsern Wünschen besser entsprechen würde.« Marienblume und Clemence machten eine Bewegung des Erstaunens, und Rudolf fragte, seine Tochter fest anschauend: »Wie stehst du zu deinem Vetter, dem Prinzen Heinrich?«

Marienblume zitterte und wurde blutrot. Nach einem Augenblick des Zauderns warf sie sich schluchzend in ihres Vaters Arme. – »Du liebst?« – »Sie hatten mich ja nie danach gefragt, mein Vater!« antwortete Marienblume, die Tränen trocknend. – »Du liebst ihn also?« fuhr Rudolf fort, seine Tochter an sich drückend. »Du liebst ihn sehr, mein süßes Kind?«

»O, wenn Sie wüßten, was es mich gekostet hat, Sie von dieser Liebe nichts merken zu lassen!« entgegnete Marienblume. »Bei der geringsten Frage hätte ich die Wahrheit sagen müssen, allein aus Scham hätte ich es wohl nie gewagt.« – »Und du glaubst, Heinrich weiß darum, daß du seine Liebe zu dir erwiderst?« fragte Rudolf. – »Großer Gott, nein, Vater!« rief Marienblume, »das will ich nicht hoffen! Nein, mein Vater, ich glaube auch nicht, daß er mich liebt. O, nein! das wäre ein zu großes Unglück für ihn!«

»Und wie ist es zu dieser Liebe gekommen, mein Engel?« – »Ach, ohne daß ich's gewahr wurde. Sie erinnern sich doch des Porträts eines Pagen?« – »Das im Zimmer der Aebtissin von Sankt-Hermangild hing? Das war Heinrichs Bild.« – »Ja, mein Vater. In der Meinung, dieses Bild stelle einen Knaben dar, der längst nicht mehr unter den Lebenden weilte, machte ich eines Tages in Ihrer Gegenwart, lieber Vater, kein Hehl daraus, wie sehr ich von der Schönheit des Gesichts hingerissen war. Sie sagten mir damals scherzend, das Bild sei das eines Verwandten aus früheren Zeiten, der schon in jugendlichem Alter hohen Mut und große Gaben gezeigt habe. Seit diesem Tage betrachtete ich das Bild gern und rief mir stets seine Züge ins Gedächtnis zurück. Ich tat es ohne jedes Bedenken, denn ich hielt es ja für das Bild eines längst verstorbnen Vetters. Nach und nach gewöhnte ich mich ganz an diesen Gedanken und bildete mir ein, dieses Bild stelle einen Verlobten von mir dar, einen Bräutigam jenseits des Grabes, den ich vielleicht droben im Himmel wiedersehen würde. Und mich dünkte, daß dies die einzige Liebe sei, die sich für ein Herz geziemte, dem es nicht erlaubt ist, hienieden jemand zu lieben außer seinem Vater! Verzeihen Sie mir diese traurigen Kindereien –«

»Im Gegenteil, armes Kind,« sagte Clemence tief ergriffen, »nichts ist rührender.« – »Nun verstehe ich,« setzte Rudolf hinzu, »warum du mir eines Tages mit kummervoller Miene vorwarfst, ich hätte dir über dieses Bild nicht die Wahrheit gesagt.« – »Ja, lieber Vater, stellen Sie sich meine Bestürzung vor, als eines Tages mir die Aebtissin sagte, das Bild sei das ihres noch lebenden Neffen, eines Verwandten von uns. Ich suchte nun meine Gefühle zu unterdrücken, aber desto mehr ergriffen sie von meinem Innern Besitz. Und nun hörte ich auch, wie oft Sie, mein Vater, Charakter und Geist des Prinzen Heinrich lobten. Ich liebte ihn nun wohl, allein ich tröstete mich bei dem Gedanken, daß dieses traurige Geheimnis kein Mensch auf Erden erfahren sollte. Ich – ich Verworfne wagte zu lieben? Hatte ich mich nicht damit zu begnügen, Sie und meine Mutter zu lieben, denen ich alles verdankte? Da endlich sah ich bei jenem Feste, das Sie der Erzherzogin Sophie gaben, meinen Vetter zum erstenmale. Er glich dem Bilde so sehr, daß ich ihn sogleich erkannte, und am selben Abend stellten Sie, mein Vater, ihn mir vor und gestatteten uns jene Vertraulichkeit im Verkehr, die bei unserer nahen Verwandtschaft erlaubt war.«

»Und dann gewannt Ihr Euch lieb?« – »Ach, lieber Vater, er sprach von seiner Bewunderung für mich, von seiner Achtung, seiner Anhänglichkeit, und dann hatten Sie mir ja auch schon so viel von seinen Vorzügen erzählt. –« – »Er verdiente es auch. Es gibt keinen edleren Charakter, kein besseres, mutigeres Herz!«

»Ach, loben Sie ihn nicht so, mein Vater, ich bin ohnedies schon unglücklich genug. Mit jedem Tage ward ich mir mehr der Gefahr bewußt, in der ich mich befand, indem ich mit dem Prinzen Heinrich zusammentraf, und doch gab es keinen Ausweg. Obwohl ich blindes Zutrauen zu Ihnen, mein Vater, hegte, fand ich doch nicht das Herz, Ihnen meine Befürchtungen mitzuteilen. Ich bot alle meine Kraft auf, diese Liebe zu verbergen, und ich hatte in diesen Tagen, wo Prinz Heinrich und ich wie Bruder und Schwester miteinander verkehrten, Augenblicke wahren Glücks, in denen ich die Vergangenheit vergaß: allein diesen seligen Momenten folgte um so tiefere Verzweiflung, wenn ich dann wieder in die Gewalt meiner Erinnerungen zurücksank. Verfolgten sie mich schon mitten unter den Huldigungen von Leuten, die mir gleichgiltig waren, wie sehr erst, wenn Prinz Heinrich mir die zartesten Schmeicheleien zuflüsterte. O, was stand ich aus, wenn Prinz Heinrich mich einmal über meine Kindheit befragte! Lügen mußte ich – immer lügen und dabei immer mich fürchten vor dem Blicke dessen, den ich liebte, zittern vor ihm, wie der Verbrecher vor seinem unerbittlichen Richter! O, mein Vater, ich weiß, die Schuld traf mich allein, denn ich hatte kein Recht zu solch einer Liebe, aber ich habe diese unglückliche Leidenschaft auch durch tausend Qualen gebüßt. Als dann Prinz Heinrich abreiste, erkannte ich erst, wie sehr ich ihn eigentlich liebte. Diese verhängnisvolle Liebe macht das Maß meines Elends voll. Nun wissen Sie alles, mein Vater, und nun sagen Sie selbst, was bleibt mir noch anderes übrig, als ins Kloster zu gehn?«

»Es gibt noch eine andere Zukunft für dich, mein Kind – und diese andere Zukunft ist ebenso heiter und schön, wie das Kloster traurig und öde.« – »Was sagen Sie, mein Vater?« – »Höre nun auch mich an! Du fühlst wohl, meine Liebe zu dir sieht schärfer, als daß mir dein Verhältnis zu Heinrich ein Geheimnis hätte bleiben können. Schon nach einigen Tagen wußte ich genau, daß er dich liebt – vielleicht noch inniger, als du ihn liebst.«

»O, nein Vater, es ist unmöglich, er liebt mich nicht so –« – »Ich sage dir, er liebt dich – er liebt dich bis zum Wahnsinn!« – »O, mein Gott, mein Gott!« – »Höre mich an! Als ich jenen Scherz betreffs des Bildes machte, wußte ich nicht, daß Heinrich so bald seine Tante in Gerolstein besuchen würde. Als er kam, lud ich ihn ein, uns oft zu besuchen, denn mir war er von jeher wert wie ein Sohn gewesen. Nach einigen Tagen schon konnten Clemence und ich nicht mehr daran zweifeln, daß zwischen euch beiden sich ein Liebesverhältnis entspann. Wenn deine Lage schmerzlich war, so war die meine peinlich und heikel. Als Vater konnte mir Heinrichs Liebe zu dir, da ich seine vorzüglichen Eigenschaften kannte, nur lieb sein, denn ich hätte mir keinen würdigeren Gatten für dich erträumen können.«

»Erbarmen, mein Vater, Erbarmen!« – »Aber als Mann von Stand und Ehre mußte ich zugleich auch an die traurige Vergangenheit meines Kindes denken. Weit entfernt, Heinrich in seinen Wünschen entgegenzukommen, gab ich ihm, wenn wir miteinander sprachen, oft Ratschläge, die auf das gerade Gegenteil von dem, was er von mir vielleicht erwartet hätte, hinzielten. Er hätte danach fast denken müssen, daß ich nicht gesonnen sei, ihm die Hand meiner Tochter zu geben. Ich mußte in dieser heikeln Lage als Mann von Ehre und als Vater mich streng neutral verhalten, durfte Heinrichs Liebe nicht bestärken, mußte ihn aber auch ebenso freundlich wie zuvor behandeln. Du warst bisher so unglücklich gewesen, nun sah ich dich unter dem Einfluß dieser reinen, edlen Liebe aufleben – da wollte ich dir um keinen Preis diese schönen, seltnen Freuden rauben. Wenn ich auch vermutete, daß dieses Liebesband später getrennt werden müßte, so hättest du dann wenigstens einige Tage unschuldigen Glückes kennen gelernt. Hinwiederum konnte aber auch diese Liebe dir vielleicht Ruhe für alle Zeiten bescheren.«

»Ruhe für alle Zeiten?« – »Höre mich ganz an. Heinrichs Vater, Prinz Paul, schreibt eben an mich. Er hofft zwar nicht, daß ich meine Einwilligung zu diesem Bunde geben würde, bittet mich aber doch im Namen seines Sohnes, um deine Hand und erklärt dessen aufrichtigste, innigste Liebe zu dir.«

»O, mein Gott! mein Gott! wie glücklich hätte ich werden können!« rief Marienblume, das Gesicht in beiden Händen bergend. – »Mut, meine Tochter,« antwortete Rudolf. »Wenn du nur willst, kann dieses Glück dir immer noch werden.« – »Niemals! Haben Sie denn vergessen –?« – »Nichts habe ich vergessen. Wenn du morgen ins Kloster gehst, so verliere ich dich nicht nur auf immer, sondern auch du beginnst ein Leben voll Tränen und Trauer. Nun, wenn ich dich verlieren soll, so laß mich dich wenigstens glücklich verbunden sehen mit dem Manne, den du liebst und der dich vergöttert!«

»Mit ihm vermählt – ich mit ihm, Vater?« – »Ja, doch unter der Bedingung, daß ihr beide gleich nach der Trauung, die nur unter Murphs und Baron Grauns Zeugenschaft geschlossen werden soll, nach Italien abreist, um dort in einem stillen, abgelegenen Orte als Privatleute zu leben. Und weißt du, mein Kind, warum ich mich entschließe, dich von mir zu geben, warum ich verlange, daß Heinrich Rang und Titel mit seinem Weggang von Deutschland ablegen soll? Weil ich überzeugt bin, bei stillem, schmucklosem Leben wirst du mit der Zeit die verhaßte Vergangenheit vergessen können, die dir deshalb so schmerzlich ist, weil sie zu den Huldigungen und der Pracht, die dich hier umgeben, in so grellem Kontrast steht. »

»Rudolf hat recht,« sagte Clemence. »Wenn Sie mit Heinrich und Ihrem Glück allein sind, mein Kind, werden Sie bald nicht mehr an Ihre früheren Leiden zurückdenken.« – »Und da es unmöglich sein wird, lange ohne dich zu leben, mein Kind, so werden Clemence und ich dich alljährlich einmal besuchen.«

»Und wenn eines Tages, armes Kind, die Wunden, an denen Sie so leiden, vernarbt sind, wenn Sie im Glück Vergessenheit gefunden haben –« – »Vergessenheit im Glück?« murmelte Marienblume, wie in Träumen versunken. – »Gewiß, mein Kind,« fuhr Clemence fort, »wenn Sie täglich allein sind mit dem Manne, der sie segnet, anbetet und liebt – da werden Sie keine Zeit mehr haben, an die Vergangenheit zu denken – und selbst wenn Sie ihrer noch einmal gedenken, wie könnten Sie sich dadurch dann noch betrüben lassen? wie könnten Sie dann noch an Ihrem und Ihres Gatten Glück zweifeln?« –

»Vater, Mutter!« rief Marienblume. »Mir sollte noch ein solches Glück beschieden sein?« – »Ja, mein geliebter Engel, und dann werden wir alle glücklich sein – und ich werde Heinrichs Vater gleich schreiben, daß ich in die Heirat willige,« sagte Rudolf und drückte Marienblume in unsäglicher Rührung an die Brust. »Beruhige dich, unsere Trennung wird nur zeitweilig sein. Die Ehe wird neue Pflichten für dich bringen, die deine Gedanken ablenken, und wenn du dann erst Mutter bist –«

»Ach!« rief Marienblume mit einem Schrei des Schmerzes. »Ich – Mutter? Nimmermehr! Ich bin dieses heiligen Namens unwert – ich müßte mich vor meinem Kinde zu Tode schämen, wenn es mich einmal nach meiner Jugendzeit fragte!« – »Was sagt sie?« rief Rudolf, bestürzt über diesen plötzlichen Rückfall in die kaum überwundene Verzweiflung. – »Ich – Mutter?« fuhr Marienblume fort, »ich – geliebt von einem reinen, unschuldigen Kindlein? Ich, die ich sonst verachtet war, sollte den keuschen Namen einer Mutter in den Schmutz ziehen? Elende Törin, die ich war, mich in solche Hoffnungen wiegen zu lassen!«

»Um Gottes willen, meine Tochter, so höre mich doch!«

Doch bleich und schön, in aller Majestät eines unheilbaren Jammers, richtete Marienblume sich auf und sprach: »Mein Vater, vergessen Sie nicht, daß Prinz Heinrich vor unserer Vermählung über meine ganze Vergangenheit aufgeklärt werden müßte.« – »Das habe ich auch nicht vergessen,« antwortete Rudolf, »er soll alles erfahren. Aber er wird auch erfahren, welches Verhängnis dich schuldlos in den Abgrund riß – er wird auch erfahren, wie heldenhaft du selber dich in deiner niedrigen Lage erhoben hast!«

»Und er wird fühlen,« setzte Clemence hinzu, indem sie Marienblume zärtlich in die Arme schloß, »daß, wenn ich Sie mit Stolz meine Tochter nenne, er Sie, ohne zu erröten, seine Gattin nennen darf!« –

»Und ich, meine Mutter,« antwortete Marienblume gefaßt, »liebe Prinz Heinrich viel zu sehr, als daß ich ihm eine Hand geben könnte, die die schmutzigsten Banditen von Paris berühren durften.«


Wenige Tage nach dieser schmerzlichen Szene war in der Amtszeitung von Gerolstein zu lesen:

»Gestern fand in der großherzoglichen Abtei von Sankt-Hermangild, in Gegenwart Seiner königlichen Hoheit des regierenden Großherzogs und des gesamten Hofes die feierliche Einkleidung Ihrer Hoheit der Prinzessin Amalie statt.

Das Gelübde des Noviziats wurde von den folgenden Herren: Karl Maximus, Erzbischof von Oppenheim, Hannibal Andreas, Fürsten von Delft, Bischof von Ceuta und apostolischem Nuntius entgegengenommen. Die Novize empfing den päpstlichen Segen.

Die Predigt hielt der ehrwürdige Reichsgraf, Peter von Asfeld, Domherr des Kapitels zu Köln. Er sprach über die Worte:

»Veni creator optime«


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