Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Fünftes Kapitel.

Sie Walter Murph und Abbé Polidori.

Rudolf war von Kindheit an schwächlich, und diese Eigenschaft hatte seinen Vater auf den Gedanken gebracht, seine Erziehung englischen Lehrern anzuvertrauen, die im Sport bewandert sind und in dessen Uebung ein gesundheitsförderliches Element erblicken, von dem man in Deutschland zur damaligen Zeit noch so gut wie keine Vorstellung hatte. Seine Wahl fiel auf einen Hünen von Landsassen aus Yorkshire, Sir Walter Murph, dessen Grundsätze und Anschauungen seinen vollen Beifall fanden. Jahrelang residierte nun der Erbgroßherzog in Murphs Gesellschaft auf einem mitten zwischen Wäldern gelegenen kleinen Jagdschlosse, ein paar Stunden von Gerolstein entfernt, und widmete sich allerhand Leibesübungen und landwirtschaftlichen Arbeiten. In der reinen, frischen Landluft schien der Prinz sich förmlich umzuwandeln, die fahle Blässe wich aus seinem Gesicht und machte einer frischen Röte Platz. Er lernte Strapazen ertragen, gewöhnte sich Mut und Energie an und konnte es im Faust- und Ringkampfe bald mit Jünglingen aufnehmen, die ihm im Alter weit voraus waren. Nachdem Sir Walter Murph sich seiner Aufgabe zur vollkommensten Zufriedenheit des Großherzogs erledigt hatte, mußte er auf einige Zeit, um Erbschafts- und andere Angelegenheiten zu ordnen, nach England zurückreisen, und nun meinte der Großherzog, seinem Sohne auch eine gediegene wissenschaftliche Bildung geben zu sollen. Hierzu berief er einen gelehrten Mann aus Italien, der den Rang eines Abbé bekleidete und im Rufe eines tüchtigen Philologen, klugen Arztes und hervorragenden Chemikers stand. Diesmal aber war die Wahl des Großherzogs auf keinen Mann von edler Gesinnung, wie Murph es war, gefallen, sondern auf einen heuchlerischen, boshaften und gottlosen Menschen, der unter einer frömmelnden Außenseite den schlimmsten Unglauben verbarg, wohl eine hervorragende Menschenkenntnis besaß, aber die Menschen bloß von ihrer schlimmen Seite her kennen gelernt und ausgenützt hatte, mit einem Worte der gefährlichste Mentor für einen jungen Fürstensohn war, der ihm zur Seite gestellt werden konnte.

Rudolf gab das freie, ungebundene Leben, das er mit seinem ersten Erzieher geführt hatte, ungern auf und mochte nichts davon wissen, sich hinter die Bücher zu setzen und sich den zeremoniellen Sitten am väterlichen Hofe zu fügen. Vom ersten Augenblick an begegnete er dem italienischen Abbé mit dem äußersten Widerwillen, der seinerseits alles aufbot, sich bei dem jungen Prinzen in Gunst zu setzen, und ihm deshalb in allem freien Willen ließ. Während Rudolf fast allen Unterricht schwänzte, stellte Polidori ihn dem Großherzog als den fleißigsten Schüler dar, den er je besessen, verschwieg ihm des Sohnes Abneigung gegen jedes Studium, drillte ihn für ein paar Prüfungen, die in Gegenwart des Großherzogs abgehalten werden mußten, und erreichte auf diese Weise bei seinem Zöglinge, daß dessen Widerwille schwand und einer gewissen Kordialität das Feld räumte, die aber von der tatsächlichen Liebe und Zuneigung, die er für Murph im Herzen trug, himmelweit verschieden war. Der Italiener war sich darüber keine Sekunde im unklaren, war aber zu pfiffig, es sich im geringsten merken zu lassen, reizte statt dessen die Phantasie des ihm anvertrauten Jünglings durch üppige Schilderungen vom Hof- und Fürstenleben, wie es zurzeit eines Ludwig XIV. geherrscht hatte, und beteuerte wiederholt, daß einem glücklich begabten Fürsten extravagante Genüsse nicht bloß nicht schädlich, sondern vielmehr insofern höchst förderlich seien, als sie seinen Sinn der Gnade und Milde zugänglich machten. Dergleichen Unterhaltungen waren natürlich Gift für ein jugendliches und feuriges Gemüt, und an dem väterlich sittenstrengen Hofe, wo es nur harmlose Zerstreuungen und Genüsse gab, träumte nun Rudolf von wüsten Orgien und tollen Nächten, von Hirschparks-Freuden und hin und wieder wohl auch von einer romantischen Liebelei.

So war ein weiteres Jahr ins Land gegangen. Der wackere Murph war noch immer nicht nach Gerolstein zurückgekehrt, wurde nun dort aber bald erwartet.

Ungefähr zusammen mit ihm tauchten Tom und Sarah am Gerolsteiner Hofe auf, und es dauerte nicht lange, so hatte sich zwischen Tom und Polidori, die beide in dem geraden, ehrlichen Murph einen Todfeind witterten, eine höchst bedenkliche »entente cordiale« herausgebildet. Bald war der Italiener auch über die Absichten nicht mehr im unklaren, die das Geschwisterpaar an den Gerolsteiner Hof geführt hatten. Nun galt ihm der jungen Schottin Anwesenheit in gewissem Sinne als Fingerzeig, daß Rudolfs Phantasie ihn flügge für Liebesaffären gemacht habe, und er nahm sich vor, Sarah mit ihm zusammenzukuppeln. Auf ein Herz, das zum ersten Male in Liebe entflammte, mußte die Schottin – so sagte sich Polidori – einen unverlöschlichen Eindruck machen; sie sollte ihm dazu dienen, Murphs Einfluß auf den jungen Prinzen zu beseitigen. Tom, Sarah und Polidori fühlten sich solidarisch verpflichtet, gegen Rudolfs besten Freund gemeinsam zu Felde zu ziehen: und was kommen mußte, kam denn auch.


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