Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Siebentes Kapitel.

Bakels Strafe

In einem rot ausgeschlagenen, glänzend erleuchteten Zimmer, an einem großen, mit rotem Teppich bedeckten Tische sitzt, im langen schwarzen Schlafrock, der die Blässe seines Gesichts noch mehr hervorhebt, Rudolf zwischen dem schwarzen Arzte und Schuri. Auf dem Tische liegen zwei Brieftaschen. Die eine hat Bakel gestohlen, die andere gehört ihm. Neben ihnen liegt die vergoldete Kette der Eule, an der der kleine heilige Geist aus Lapis Lazuli hängt, ferner der noch blutige Dolch, mit dem Murph verwundet worden, das Brecheisen, dessen sich Bakel bei seinen Einbrüchen zu bedienen pflegt, endlich die fünf Tausendfranks-Scheine, die Schuri aus dem ihm von Rudolf bezeichneten Zimmer geholt hat.

Bakel liegt, noch immer gefesselt, auf einem in die Zimmermitte geschobenen großen Rollstuhle. Rudolf ist nicht mehr in gereizter Stimmung, sondern ruhig und gefaßt, ernst und bekümmert. Er steht im Begriffe, eine feierliche, schreckliche Tat zu begehen . . . »Du bist aus dem Bagno von Rochefort entwichen. Du warst auf Lebenszeit verurteilt wegen Fälschung, Diebstahl und Mord. Dein wirklicher Name ist Anselm Duresnel.« – »Ich bestreite alles, was man mir nicht beweisen kann,« erwiderte Bakel trotzig. – »Was willst Du bewiesen haben?« fiel Schuri dazwischen, sich zu Bakel herumdrehend, »sind wir nicht beide zusammen in Rochefort gewesen?«

Rudolf winkte Schuri, zu schweigen, und fuhr fort: »Du bist Anselm Duresnel und wirst es, wenn wir weiter sind, auch eingestehen. Auf der Straße von Poissy hast du einen Viehhändler beraubt und erschlagen.« – »Ich bestreite es.« – »Nun, auch das wirst du später zugeben.« – Der Räuber blickte Rudolf verwundert an. – »Du bist in der vergangenen Nacht in dieses Haus eingedrungen in der Absicht, zu stehlen, und hast seinen Besitzer verwundet. Tags vorher hast du einen Mann und eine Frau in Alt-Paris überfallen, hast ihnen diese Brieftasche geraubt und dich ihnen gegenüber erboten, mich für den Preis von eintausend Franks zu ermorden.«

»Sie sind nicht mein Richter,« rief Bakel trotzig, »ich verweigere Ihnen von jetzt ab jede Antwort.«

»Es war mir bekannt, daß du aus dem Bagno gebrochen, wie auch, daß du die Eltern eines unglücklichen Mädchen kennst, die allein durch deine Mitschuldige, die Eule, ins Unglück gestürzt worden ist. Ich hatte weiter nichts im Schilde, als dich durch einen Diebstahl hierher zu locken. Denn es ist mir kein Zweifel: in ehrlicher Absicht dich herzuschaffen, wäre ja doch ausgeschlossen gewesen. Gestern habe ich deinen wahren Namen durch einen Zufall erfahren.« – »Der Name, den Sie mir beimessen, ist falsch. Ich heiße nicht Duresnel.« –

»Heiligtumschänder!« rief Rudolf, indem er die Halskette der Eule von dem Tische nahm und auf den kleinen Heiligen Geist aus Lapis Lazuli zeigte, mit drohender Stimme: »Heiligtumschänder! Diese Reliquie hast du einem ehrlosen Geschöpf gegeben, trotzdem sie dir dreimal heilig hätte sein sollen, denn deinem Sohne ist sie als fromme Gabe von seiner Mutter und seiner Großmutter zu teil geworden.«

Wie vom Donner gerührt durch diese Aufklärung, ließ Bakel den Kopf sinken und gab keine Antwort.

»Gestern,« nahm Rudolf wieder das Wort, »erfuhr ich, daß du vor fünfzehn Jahren deinen Sohn seiner Mutter geraubt hast, sowie daß du allein weißt, was aus ihm geworden ist. Und eben dies war ein neuer Grund für mich, dich festzunehmen. Was mich persönlich angeht, will ich nicht rächen; aber heute nacht hast du abermals Blut vergossen, ohne daß du Ursache dazu gehabt hättest, denn der Mann, den dein Mordstahl getroffen hat, ist zu dir gekommen voll Vertrauen und hat nach deinem Begehren gefragt . . . Und was hast du ihm darauf geantwortet? ›Das Geld oder das Leben!‹ und hast mit dem Dolche nach ihm gestoßen.«

»Was du redest, ist falsch und erlogen,« schrie Bakel. – »Murph lügt nicht,« erwiderte Rudolf mit Kaltblütigkeit, »deine Verbrechen schreien nach Buße. Du müßtest das Blut, das du vergossen, sühnen durch den eigenen Tod. Aber aus Mitleid mit deinem Sohne und seiner Mutter, die einst deine Frau war, soll dir die Strafe des Schafotts erspart bleiben. Es soll heißen, du seiest bei dem Kampfe umgekommen. Bereite dich also zum Tode vor! Du siehst, die Gewehre, deren Kugeln dich niederstrecken sollen, sind geladen.«

Aus Rudolfs Zügen sprach unversöhnlicher Haß. Bakel hatte im Vorzimmer zwei Männer mit Gewehren stehen sehen. Daß man wußte, wie er in Wirklichkeit hieß, bezweifelte er nicht mehr, ebensowenig, daß man ihn umbringen wolle, um seiner Familie diese letzte Schmach zu ersparen. Wie alle seines Schlages, war er eben so roh wie feige. Er hielt seine Stunde für gekommen und zitterte vor Schreck; mit kreideweißen Lippen rief er einmal über das andere: »Gnade! Gnade!« – »Für dich,« erwiderte Rudolf, »gibt es keine Gnade, und wird dir keine Kugel durch den Kopf gejagt, dann winkt dir über kurz oder lang doch das Blutgerüst.« – »Es soll mir lieber sein,« schrie er, »denn um ein Viertejahr lebe ich dann doch noch länger. Ihnen kann es doch gleich sein . . . Darum gewähren Sie mir Gnade! Gnade!« – »Willst du mir sagen, wo sich dein Sohn befindet?« – »Ja, wenn mir einige Zeit noch zu leben vergönnt wird, will ich alles, alles bekennen, was ich weiß,« lallte Bakel. – »Willst du mir sagen, wie die Eltern des jungen Mädchens heißen, das die Eule in seiner Jugend so schändlich gequält und gemartert hat?« – »In meiner Brieftasche liegen Papiere, die Sie auf die rechte Spur führen werden. Die Mutter scheint eine sehr vornehme Dame zu sein.« – »Und wo ist dein Sohn?« – »Ich habe ihn einem Komplizen übergeben, der so glücklich war zu entkommen, als ich verhaftet wurde. Er hat ihn aufgezogen und ihm beigebracht, was ihm zu wissen not tat, damit er eine Stelle in einem Bankgeschäft bekleiden konnte. Von da aus sollte er uns über gewisse Dinge regelmäßigen Bericht erstatten. Während ich alles für meine Flucht aus Rochefort bereitete, korrespondierten wir in Chiffreschrift.« – »Den eigenen Sohn also hat er auf die Bahn des Verbrechens geführt!« rief Rudolf schaudernd, und schlug die Hände vor das Gesicht. – »Es handelt sich ja bloß um eine kleine Fälschung«, fuhr der Räuber fort, »und als mein Sohn vernahm, wozu er die Hand bieten sollte, gab es einen schlimmen Tanz zwischen ihm und dem Manne, der ihn erzogen hatte, erzogen zu unseren Zwecken, und so verschwand er eines Tages. Das mag vor etwa anderthalb Jahren passiert sein. In Paris hat mein Komplize seine Spur verloren. Er hat alles mögliche versucht, ihn wieder in seine Gewalt zu bekommen; aber es hat ihm alles nichts genützt. Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß, und erwarte nun, daß Sie Ihre Zusage, mich nur wegen des gestern begangenen Diebstahls zu strafen, erfüllen.«

»Und wie steht es mit dem Viehhändler aus Poissy?« fragte Rudolf. – »Das kann unmöglich herauskommen, denn es existieren gar keine Beweise. Ihnen will ich es ja bekennen, um Ihnen meinen guten Willen zu zeigen; aber wirklichen Richtern würde ich alles abstreiten, so lange sie mir nichts beweisen können.« – »Du gibst also den Mord zu?« – »Ich wußte nicht, wovon ich leben sollte; die Eule hat mir davon abgeraten; und wenn Sie mich der Justiz nicht ausliefern wollen, so würden Sie wohl noch erleben, daß ich mich bessere.« – »Nun gut, du sollst leben und der Justiz nicht überantwortet werden, aber ich werde dich richten und strafen«, schloß Rudolf mit dröhnender Stimme; »du sollst weder ins Bagno kommen, noch aufs Schafott, denn aus dem Bagno brächest du bei deiner gewaltigen Stärke doch wieder aus, und vom Gerichtssaale bis zum Schafott ist der Weg zu kurz, um als Strafe gelten zu können. Aus diesem Grunde also sollst du nicht das Schafott besteigen, und sollst auch nicht wieder zurück ins Bagno.«

Bakel war wie vernichtet, denn zum ersten Male in seinem Leben fürchtete er eine unbestimmte Zukunft mehr als den Tod; und solche unklare Furcht war ihm gräßlich.

»Anselm Duresnel,« nahm Rudolf wieder das Wort, »ich werde deine Kräfte lähmen! Bisher haben die Stärksten vor dir gezittert; jetzt sollst du vor den Schwächsten zittern! Mörder, du hast Geschöpfe Gottes in ewige Nacht gestürzt, für dich wird das Dunkel der Ewigkeit schon bei Lebzeiten beginnen, in dieser selbigen Stunde. Deine Strafe soll deinen Verbrechen gleichkommen, aber sie wird dir wenigstens einen Vorteil sichern: den unbegrenzten Horizont der Reue lassen. Für immer von der Außenwelt geschieden, wirst du gezwungen sein, unablässig in dein Inneres zu schauen, und auf diese Weise wird, wie ich hoffe, deine eiserne Stirn sich noch einmal mit Schamröte bedecken, wird deine verstockte Seele sich der Milde erschließen. Du bist kühn und grausam, und weil hinfort du schwach sein wirst, wirst du sanft und demütig werden. Nach einem langen, der Buße für deine Verbrechen gewidmeten Leben wird dein letztes Gebet aufsteigen, dir das unverhoffte und unverdiente Glück, zwischen deiner Frau und deinem Sohne zu sterben, zu Teil werden zu lassen . . .«

Rudolfs Stimme war bei diesen letzten Worten weich geworden. Mit unsagbarer Wehmut schüttelte er das Haupt und sprach zu dem Negerarzte: »David! Gehen Sie ans Werk! Möge, wenn ich irre, Gott mich allein strafen und nicht Sie!« Er verbarg das Gesicht hinter seinen Händen.

Zwei schwarz gekleidete Männer traten in das Zimmer. Der Doktor zeigte auf ein anstoßendes Kabinett. Dorthin rollten sie den Stuhl, auf dem der Räuber so fest gebunden war, daß er kein Glied rühren konnte . . . »Bindet ihm, so daß die Stirn frei liegt, den Kopf mit einem Tuch am Stuhle fest und ein anderes Tuch steckt ihm in den Mund!« befahl David, mit in das Kabinett tretend. – »Sie wollen mich morden. Gnade, Gnade!« rief Bakel. – Dann wurde es auf ein paar Sekunden still, und dann vernahm man nichts als ein dumpfes Gemurmel.

»Herr Rudolf«, nahm darauf Schuri das Wort, der leichenblaß geworden war, mit zitternder Stimme, »ich fürchte mich – Was geht vor? Sagen Sie es mir, Herr Rudolf! Oder liege ich in Träumen? Was macht der Schwarze mit Bakel? . . . Herr Rudolf, man hört nichts, und um dieser Stille willen fürchte ich mich noch mehr.«

Nun trat David wieder aus dem Kabinett. Wenn auch auf seinem Gesichte keine Blässe nach unserer Vorstellung zu sehen war, so war doch von seinen Lippen alle Farbe gewichen. – Auf sein Klingeln rollten die beiden Männer den Rollstuhl herein und nahmen den Knebel aus Bakels Munde . . . »Soll ich gefoltert werden?« rief Bakel, mehr von Zorn erfüllt, als von Schmerz geplagt; »warum haben Sie mir an den Augen herumgestochen? Sie haben mir weh getan! Und warum bringen Sie mich in einen stockfinstern Raum? Soll ich im Finstern gefoltert werden?«

Eine kurze Weile herrschte grauenvolle Stille . . . Endlich sagte David mit tiefbewegter Stimme: »Du bist nicht im Finstern, sondern bist blind!« – »Das kann nicht sein,« erwiderte Bakel, indem er sich anstrengte, seiner Fesseln frei zu werden; »Sie haben bloß künstliche Finsternis geschaffen, um mich zu schrecken.« – »Nehmt ihm die Fesseln ab«, befahl Rudolf, »er mag aufstehen und gehen.« – Sein Befehl wurde ausgeführt. – Bakel sprang schnell auf die Beine, machte ein paar Schritte, die Hände vorstreckend, und sank im nächsten Augenblicke, die Arme gen Himmel erhebend, auf den Rollstuhl nieder. – »David, geben Sie ihm die Brieftasche!« – Als auch dieser Befehl ausgeführt worden, fuhr Rudolf fort: »In der Brieftasche findest du Geld genug, um bis zu deinem Lebensende an irgend einem kleinen, einsamen Orte Obdach und Unterkunft zu finden. Du bist jetzt frei. Geh und bereue! Der allgütige Gott ist barmherzig.«

»Blind!« wiederholte Bakel, mechanisch nach der Brieftasche greifend. »Also doch wahr?« – »Du bist frei«, sagte Rudolf, »du hast Geld – also geh!« – »Ich kann doch nicht«, erwiderte Bakel, von Schauder geschüttelt, »wie soll ich gehen? Ich sehe ja nicht mehr.« – »Für deinen Unterhalt ist ja gesorgt. Wende deinen Ueberschuß von Kraft, den du nur brauchtest, Verbrechen zu üben, dazu an, eine Unterkunft zu finden. Für Geld bekommt der Mensch ja alles.« – »O, man wird es mir stehlen«, schrie Bakel. – »Stehlen?« wiederholte Rudolf, »und wieviel hast du gestohlen? Empfinde nun, was die empfanden, denen du ihr Gut und Eigentum stahlest!« – »Um Gottes willen«, bat Bakel flehentlich, »lassen Sie mich von jemand führen. Wie soll ich über die Straße kommen? Bringen Sie mich lieber um!« – »Nein!« rief Rudolf streng, »du sollst bereuen, und die Reue wird nicht ausbleiben.« – »Ich will nicht bereuen, nun und nimmer«, versetzte Bakel trotzig, »aber rächen will ich mich, rächen an allen, die mich geblendet haben!« Und weißer Gischt trat ihm auf die Lippen; die Fäuste ballend, mit den Zähnen knirschend, sprang er vom Stuhle auf. Aber schon beim ersten Schritte stolperte er . . . »Es geht nicht«, jammerte er, außer sich vor Wut; »ich kann nicht laufen; wohin soll ich die Füße setzen? Kein Mensch hat Mitleid mit mir.« – »Und mit wem hattest du es?« fragte Rudolf. – Da trat Schuri zu ihm heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. – Bakel zuckte zusammen . . . »Wer faßt mich an?« rief er; »wer legt die Hand an mich?« – »Ich«, sagte Schuri. – »Wer bist du?« – »Schuri.« – »Willst du mich in eine Falle locken?« – »Ich bin kein schlechter Kerl, das weißt du«, versetzte Schuri, »und werde dein Unglück nicht ausnützen. Komm mit! Wir wollen gehen. Es wird Tag.«

Rudolf konnte nicht länger Zeuge der weiteren Vorgänge sein, sondern begab sich mit dem Negerarzte in ein anderes Zimmer, und auch die beiden Diener verschwanden. Schuri und Bakel blieben zusammen allein. – »Ists wahr, daß in der Brieftasche Geld ist?« fragte Bakel nach einer Weile. – »Ja, ich selbst habe fünftausend Franks hineingelegt. Du sollst dich irgendwo in Pension geben und dein Leben in Ruhe und Reue beschließen. Natürlich kanns nur irgendwo auf dem Lande, bei bescheidenen Bauern, sein; oder soll ich dich zur Wirtin des Weißen Kaninchens führen?« – »Nein. Die mauste mir doch alles und ließe mich dann im Elend sitzen.« – »Oder zu Rotarm?« – »Da wäre ich noch schlechter dran als bei der Wirtin, denn der Kerl vergiftete mich in wenigen Tagen, um sich meines Geldes zu bemächtigen.« – »Wohin aber dann?« – »Ich kanns nicht sagen,« erwiderte Bakel, »Schuri, du warst nie ein Dieb. Komm und steck mir die Brieftasche unter die Jacke, so daß ich sie nicht verlieren kann; daß die Eule sie auch nicht sieht, denn sie würde mich ebenfalls plündern bis aufs Hemd!« – »Die Eule?« wiederholte Schuri, »die liegt im Spital, mit einem Denkzettel von mir, an dem sie zu knabbern haben wird.« – »Schuri! Was aber soll aus mir werden, was soll aus mir werden, nachdem ich geblendet bin? Und wenn ich nun hinter dem schwarzen Schleier, der mir vor die Augen gehängt ist, die Gestalten all derer sehe . . .« – Und wieder schauderte es ihn. – »Schuri«, fragte er plötzlich, »was ist aus dem Manne von gestern abend geworden?« – »Er lebt.« – »So!« sagte Bakel dumpf, »also einer weniger! Schade, schade!« – Dann stützte er sich auf Schuris Arm und verließ das Haus in der Allée des Veuves.


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