Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Sechstes Kapitel.

Tom und Sarah

Der eine der beiden Männer, die einer weit höheren Klasse angehörten, als die in der Kaschemme verkehrten, war groß und lang, hatte fast weißes Haar, aber schwarze Brauen und schwarzen Backenbart, dazu ein knochiges Gesicht und ein strenges, hartes Aussehen. An dem runden Hute, den er in der Hand hielt, war ein schwarzer Flor befestigt. Sein langer, schwarzer Rock war bis unter das Kinn zugeknöpft. Ueber engen braunen Tuchhosen trug er lange Stiefel. An Haltung, Wuchs und zartem Körperbau seiner Begleitung erkannte man leicht eine Dame in Männertracht.

»Tom,« sagte Sarah auf englisch, »fordern Sie etwas zu trinken und erkundigen Sie sich bei den Leuten nach ihm!« – »Jawohl, Sarah«, versetzte der Mann mit dem weißen Haar und den schwarzen Brauen. In fast reinem Französisch ersuchte er sodann die Wirtin um einen guten Trunk.

Der Eintritt der beiden Personen hatte in der Gaststube großes Aufsehen erregt, ließen doch ihre Kleidung und ihr Auftreten sofort erkennen, daß sie gemeinhin nicht an solchen Orten verkehrten, während anderseits ihre unruhigen, besorgten Mienen mutmaßen ließen, daß sie durch wichtige Gründe hierher geführt worden waren. Schuri, Bakel und Eule ließen keinen Blick von ihnen. Das unter dem Namen Schalldirne dem Leser bekannte Mädchen, erschreckt durch die Begegnung mit der Eule, wie durch die Drohungen Bakels, sie mit sich zu nehmen, hatte die Zeit wahrgenommen, um unbemerkt durch die halboffene Tür zu verschwinden. – Die Wirtin stellte eine Flasche auf den Tisch. Tom warf ein Hundertsousstück auf den Tisch, weigerte sich, das Geld zu nehmen, das ihm die Wirtin darauf herausgeben wollte und forderte statt dessen Mutter Ponisse auf, sich zu ihnen zu setzen. – »Sehr freundlich, mein Herr, sehr freundlich«, antwortete die Wirtin, einen verwunderten Blick auf Tom heftend. – »Geben Sie mir, bitte, Bescheid, liebe Frau«, erwiderte Tom, »auf eine Frage: wir wollten hier einen Bekannten treffen, einen großen, schmächtigen Herrn, der einen Schnurrbart trägt wie ich.« – »Ach, das ist doch der Herr, der eben noch hier gesessen hat«, sagte die Wirtin; »ein Kohlenträger rief ihn eben heraus, und mit ihm ist er fortgegangen.« – »Gewiß, die beiden sind es«, sagte Tom. – »Waren sie allein hier?« fragte Sarah. – »Der Kohlenträger war nicht mit in der Stube. Der Mann, den Sie mir beschrieben haben, saß hier mit einem Mann und einem Mädel, die bei uns die Namen Schalldirne und Schurimann führen.« Dabei zeigte die Wirtin auf den letzteren, während sie sich nach dem Mädchen vergeblich umsah. Tom und Sarah sahen sich nach Schuri um.

»Kennen Sie den Mann?« fragte Sarah ihren Begleiter, als sie ihn ein paar Minuten lang aufmerksam gemustert hatten. – »Nein. Karl hatte Rudolfs Spur am Eingange zu diesem Gassenlabyrinth verloren; als er aber Murph um diese Spelunke in seiner Kohlenträger-Maske schleichen und in einemfort durch die Fenster lugen sah, merkte er, daß wir wieder die Fährte gefunden hätten, und stattete sofort Bericht ab.«

Während zwischen diesen beiden Personen in dieser Weise leise gesprochen wurde, gab es zwischen Bakel und der Eule eine andere Zwiesprach. »Der große, magere Musje hat der Wirtin hundert Sous hingeworfen. Es ist bald Mitternacht. Draußen regnets und stürmts. Wenn sie weggehen, schleichen wir ihnen nach. Ich packe den Wicht von hinten und nehm ihm sein Geld ab. Er hat ein Weibsbild bei sich. Da wird er keinen Lärm schlagen.« – »Und sollte sie welchen schlagen wollen«, fügte die Einäugige bei, »dann zieh ich mein Vitriolfläschchen aus der Tasche und zerschlags ihr auf ihrer Fratze.« Dann verzog sie ihr Gesicht in schreckliche Falten. »Du, Mörderchen«, fuhr sie fort, »das aber versprichst du mir, hörst du? Wenn uns der Balg noch einmal vor die Augen kommt, dann packen wir sie und schleifen sie mit. Auch ihre Fratze will ich ölen, damit sie sich nichts mehr drauf einbilden kann.« – »Du, Eule«, erwiderte Bakel, »soviel sage ich dir, du wirst noch meine Kalle vor Gott und dem Pfaffen, denn deine Ideen und deine Courage suchen ihresgleichen. Du arbeitest geschickter als alle Männer, die ich kenne.«

Da wandte Tom sich an Schuri. »Sagt mal, Freund, wir wollten uns hier mit einem guten Bekannten treffen. Mit Euch hat er hier zu Nacht gegessen. Ihr müßt ihn doch also kennen. Sagt uns doch, wohin er sich von hier begeben hat.« – »Ich kenne den, nach dem Ihr fragt, bloß von den Prügeln her, die er mir vor etwa zwei Stunden verabfolgt hat, als ich einem Mädel ein paar verabfolgen wollte.« – »Und vorher hattet Ihr ihn nicht gesehen?« – »Mit keinem Blicke. Wir trafen uns in dem Hausflur von Rotarms Bude.« – »Frau Wirtin«, rief Tom, »noch eine Flasche von Ihrem Besten!« Dann stand er auf und setzte sich mit Sarah neben Schuri, dem solche Aufmerksamkeit ebenso sehr schmeichelte wie verwunderte. »Ihr habt den Mann, sagt Ihr, vor Rotarms Hause getroffen?« fragte Tom den Schurimann weiter. – »Ja, doch«, versetzte dieser, sein Glas austrinkend. – »Rotarm? Rotarm?« sagte Tom, »ein wunderlicher Name!« – »Auch ein sonderbarer Kerl in unserer Gesellschaft. Einer, der Meiches bekaspert.« – »Das verstehe ich nicht«, sagte Tom ärgerlich; »was meint Ihr mit dem Kauderwelsch?« – »Wie es scheint, sind Sie des Jenischen nicht mächtig?« erwiderte Schuri, »er schmuggelt, heißts, hintergeht Zoll und Steuer. Aber Ihr Freund versteht Jenisch wie ein Alter, trotzdem er sagt, daß er Fächermaler sei, also ein anständiges Gewerbe treibt. Der Rotarm, wie gesagt, ist ein Schmuggler. Ich verrate ihn nicht, man brauchts auch nicht, macht er doch selbst gar kein Hehl daraus. Und kriegen kann ihn doch kein Polizist und Gendarm.« – »Was mag Rudolf bei solchem Menschen zu suchen haben?« fragte Sarah. – »Ja, danach hab ich das Mädel fragen wollen,« erwiderte Schuri, »das bei uns die Schalldirne heißt, weil sie sehr gut singt. Sie hatte sich in Rotarms Bude geflüchtet, und ich hatte sie verfolgt. Statt nun sie zu fassen, bin ich an den Herrn Rudolf geraten, der mir sakrisch mitspielte. Mohrenelement! Kann der Kerl zuhauen! Er hat mir übrigens versprochen, mich in dieser Fertigkeit zu unterrichten.« – »Aber Rotarm«, fragte Tom wieder, »was ist das für ein Mensch?« – »Rotarm? Hm, einer, der alles verkauft, was nicht verkauft werden soll, und alles macht, was nicht gemacht werden soll. Ich meine, was die Polizei zu verkaufen und zu machen verbietet. Es ist halt sein Geschäft – nicht wahr, Frau Ponisse? Wohl an zwei Dutzend Mal hat man bei ihm schon das ganze Haus durchsucht, aber gefunden noch keine Stecknadel!« – »Ja, der Rotarm ist ein gar gewiegter Wicht«, meinte die Wirtin; »wie es heißt, soll unter seinem Hause ein Gang bis zu den Katakomben hinausführen.« – »Welche Nummer hat Rotarms Haus?« – »Es liegt in der Rue des Poix und hat die Nummer 13. Bekannt ists doch in der ganzen Pariser Altstadt.« – »Danke schön! Werde mir die Adresse aufschreiben. Finden wir Herrn Rudolf nicht, dann will ich mich bei Rotarm nach ihm erkundigen,« erwiderte Tom; und während er das sagte, schlug es drüben auf dem Rathause zwölf.

Bakel und Eule verließen die Kaschemme.


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