Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Siebenter Teil.

Erstes Kapitel.

Saint-Lazare.

Frau von Harville hatte sich, ohne Ahnung von dem in ihrem Hause sich abspielenden Drama, nach Saint-Lazare, dem Pariser Weibergefängnis, begeben, wo sie, gewissen Andeutungen zufolge, die ihr durch die Herzogin von Lucenay gegeben worden, die beiden, durch Ferrands Habgier in das tiefste Elend geratenen Frauen aus der besten Gesellschaft des Landes zu finden rechnete. Eine Aufseherin, schon in reiferem Alter, Armand mit Namen, wurde ihr zugeteilt.

»Da die Frau Marquise wünscht, ihr solche unserer Gefangenen zu nennen, die sich durch gute Aufführung und aufrichtige Reue hervortun, so meine ich, sie auf ein Mädchen von etwa siebzehn Jahren aufmerksam machen zu sollen, die ich weniger für sündhaft, als für vom Schicksal verfolgt halte, und die wohl noch auf gute Wege zu leiten wäre.« – »Und warum ist sie im Gefängnisse?« – »Sie ist auf den Elysäischen Feldern erwischt worden. Bekanntlich ist es den Dirnen verboten, sich an gewissen öffentlichen Orten bei Tage zu zeigen, und da hierzu auch die Elysäischen Felder gehören, ist sie festgenommen und hierher gebracht worden.« – »Was für einen Eindruck macht sie?« – »O, Frau Marquise, sie hat ein richtiges Madonnengesicht, und als sie eingeliefert wurde, trug sie noch ihre ländliche Tracht, was sie besonders interessant machte. Sie ist kaum erst drei Tage hier, und schon hat sie einen seltsamen Einfluß auf alle Gefangenen erlangt; man nimmt nicht bloß Anteil an ihr, sondern empfindet Achtung, ja mehr, fast Verehrung für sie. Auch für mich, Frau Marquise, bildet sie einen Gegenstand besonderer Teilnahme, und ich bin doch gewissermaßen blasiert gegen alles, was sich an den hierher gebrachten Mädchen als auffällig erweist. Ich glaube nicht daran, daß sie aus freiem Willen sich zur feilen Dirne erniedrigt hat. Man hat ja doch oft genug schon erfahren, daß Not und Niedertracht die Mädchen in solches Elend hineinstürzen. Sie ist auch sehr still und ruhig, und das verwundert hier auch, weil sich sonst alles hier durch Lärm und Schimpf zu betäuben sucht. So ist seit etwa vier Wochen ein wildes Geschöpf hier untergebracht, das den Spitznamen Wölfin führt und wohl zwanzig Jahre alt sein mag, ein großes, kräftiges Geschöpf. Das junge Ding, von dem ich Ihnen erzähle, mochte gestern nichts essen und bot ihr Brot aus. Die Wölfin verlangte es auf der Stelle für sich. Nun haben wir aber noch ein anderes Geschöpf hier, das verwachsen und trotzdem seit einigen Monaten in anderen Umständen ist. Mit dieser Person hatte unsre schöne Novize Mitleid und gab ihr das Brot, trotzdem die andere zu schimpfen anfing, und da sie sehr bösartig ist und gleich immer mit dem Messer droht, getraute sich niemand, die Partie der kleinen Schalldirne zu nehmen.«

»Wie nennen Sie das Mädchen?« fragte Frau von Harville. – »Schalldirne. Unter diesem Namen ist sie eingeliefert worden. Meines Wissens bedeutet er in der unter diesem Volke üblichen Sprache dasselbe wie Sängerin. Das junge Ding soll nämlich wunderschön singen, und ihrer Stimme nach zu schließen, die einen höchst melodischen Klang besitzt, mag dies auch der Fall sein.« –

»Was Sie mir von der Person erzählen, rührt mich ungemein. Was soll aber geschehen, um ihre Freilassung durchzusetzen? Ich will für die Zukunft des Mädchens sorgen.« – »Bei Ihrer Stellung und Ihren Bekanntschaften, Frau Marquise, kann es Ihnen nicht schwer fallen, das Mädchen in Freiheit zu setzen; das kommt ja lediglich auf den Polizeipräfekten an, und bei ihm wäre die Empfehlung von angesehener Seite sicher entscheidend. Wenn ich mich nicht sehr irre, so empfindet das Mädchen, das durch irgendeinen Zufall aus ihrer früheren Not gerissen worden, eine wahre Liebe, die ihr nun zum Glück einerseits, zur Qual anderseits geworden ist. So trat ich gestern Abend, als ich in den Schlafsaal kam, an das Bett des Mädchens. Sie lag im festen Schlafe, hielt beide Hände über der Brust gefaltet, und da hörte ich auf einmal von ihren Lippen den Namen: Rudolf.«

Frau von Harville dachte im ersten Augenblick an den ihr bekannten Fürsten, sagte sich aber gleich, daß ein Großherzog von Gerolstein mit solchem Mädchen nichts gemein haben könne, und sprach zu der Aufseherin: »Mich hat der Name überrascht, da er zufällig auch einem Verwandten von mir gehört; aber es interessiert mich, wie gesagt, was Sie von dem Mädchen erzählen . . . Vielleicht könnte ich sie schon heute sehen?« – »O gewiß! Ich will sie gleich holen, sofern Sie es wünschen. Man könnte sich dabei auch gleich nach Luise Morel erkundigen, die in einem andern Teile des Gefängnisses untergebracht worden ist.« – »Sehen Sie zu, es zu ermöglichen,« antwortete die Marquise, worauf die Aufseherin sie verließ.

»Sonderbar!« sprach die Marquise bei sich, »welch ungewöhnlichen Eindruck der Name Rudolf auf mich gemacht hat, als ich ihn aus dem Munde dieser Frau hörte . . . Aber ich bin doch eine rechte Törin. Zwischen ihm und diesem Mädchen kann doch gar keine Beziehung walten!«

An der Gefängnisuhr schlug es zwei. Es war die Stunde, in welcher sich die gefangenen Mädchen und Frauen im Hofe ergehen durften. Sie waren alle gleichmäßig gekleidet in lange Röcke aus blauem Wollenstoffe, die durch einen Gurt mit eiserner Schnalle festgehalten wurden. Dazu trugen sie schwarze Hauben.

Das Mädchen, das den Spitznamen Wölfin führte, hatte sich zu der Schalldirne auf eine Bank gesetzt. Eine Weile saß sie in mürrischem Schweigen da. Endlich fragte die letztere: »Was hatten Sie von mir gewollt?« – »Ich? Weiter nichts,« erwidert die andere, »als daß es so nicht weiter zwischen uns gehen kann. Ich lasse mir solche Unverschämtheiten nicht bieten, wie Sie es ja eben erst getan, indem Sie der Mont-Saint-Jean Brot gaben, das Sie mir zuerst weggenommen.« – »Ach! Das trifft doch gar nicht zu,« erwiderte die andere, »Sie haben bloß etwas gegen mich. Und ich weiß doch gar nicht, was ich Ihnen zu Leide getan haben könnte.« – »Angetan hast du es mir,« rief die Wölfin grimmig: »daß ich nicht mehr so rabiat sein kann wie sonst, das ist's, was dich mir verhaßt macht.« – Sie unterbrach sich, streifte den Kleidärmel zurück und zeigte auf den kräftigen weißen Arm, in den ein blauer Dolch, zur Hälfte in ein Herz hineingestoßen, geritzt war, darunter die Worte: Tod den Feigen! So gilts Martial fürs Leben!

»Können Sie das lesen?« fragte die Wölfin.– »Ja, aber so etwas ist doch schrecklich!« erwiderte, sich abwendend, die Schalldirne. – »Als mir mein Liebster Martial mit rotglühender Nadel diese Worte in den Arm stach, meinte er, ich sei eine mutige Dirne. Wüßte er, wie ich mich seit ein paar Tagen benehme, stieße er mir sein Messer in den Leib, wie dieser Dolch da in dies Herz gestoßen ist. Und recht hätte er, denn es steht geschrieben: Tod den Feigen! und ich bin eine feige Memme geworden.« – Nach einer Pause fuhr sie fort: »Noch hatte ich vor niemand den Nacken gebeugt, und mit Recht nennt man mich die Wölfin, denn manches Weib, und auch mancher Mann trägt von mir Spuren an sich . . . und nun, nun soll man von mir sagen dürfen: ein schwaches Ding wie du hätte mich untergekriegt?« Wieder schwieg sie eine Weile, und wieder sprach sie dann weiter: »Ich hab auch niemand bisher beneidet; und nun passierts mir, daß ich dich um deine fromme Fratze, um dein sogenanntes Madonnengesicht beneide! Mich hat nie was gerührt . . . und Tränen in meinen Augen gesehen zu haben, kann sich noch kein Mensch, weder Mann noch Weib, rühmen. Sehe ich aber dich bloß mit einem Auge an, dann fängt es mir weich ums Herz zu werden an, und das ist feige: ich weiß es, und das Gewissen quält mich deshalb so, daß ich schon drei Tage lang an Martial kein Wort zu schreiben wage . . . Du verdirbst mir den Charakter, Dirne, und damit muß es sein Ende haben, denn ich will bleiben, was und wie ich war, und mag nicht Spott über mich kommen lassen.«

»Sie haben schlimmen Groll auf mich,« sagte die Schalldirne. – »Gewiß, du wirst mir gefährlich, und ginge das vierzehn Tage so weiter, dann möchte ich verdienen, nicht mehr Wölfin, sondern Lämmchen genannt zu werden. Und dafür bedanke ich mich schönstens, denn mein Liebster brächte mich auf der Stelle um! Kurzum, ich mag mit dir nicht mehr zusammenkommen und werde darum ansuchen, in eine andere Abteilung gebracht zu werden. Sollte man mirs verweigern, dann vollführe ich irgend einen schlimmen Streich, daß ich in die Strafabteilung geschafft werden muß.«

Die Schalldirne merkte recht gut, daß ihre Kameradin noch nicht völlig verdorben war, sondern sich gegen die besseren Regungen ihres Herzens noch mit aller Kraft sträubte . . . »Die beste Art, meinem Wohltäter dankbar zu sein, ist doch wohl die, meinen Mitmenschen, solange sie noch hören wollen, den Rat zu geben, den er mir gegeben.« Und schüchtern griff sie nach der Hand der Wölfin, die sie aber mit finsterm Mißtrauen maß, und dann sagte sie: »Wölfin, ich will Ihnen sagen, daß Sie nicht feige sind, sondern ein gutes Herz haben, denn nur mutige und edle Herzen werden durch anderer Menschen Unglück gerührt.« –

Rauh erwiderte darauf die Wölfin: »Von irgend was anderm als Feigheit ist in dem Falle keine Rede, gar keine! Und noch heute Abend lege ich mich in einem andern Moderloche von Kerker auf meine Pritsche, oder ich sorge dafür, daß ich in die Strafabteilung komme . . . Bald werde ich ja doch in Freiheit sein. Dem Teufel oder meinetwegen auch Himmel sei dafür Dank!«

»Und wenn Sie frei sind, wohin gedenken Sie sich dann zu begeben?« fragte Marienblümchen schüchtern. – »Na, wohin denn, als heim, zu den Meinigen? Ich bin in der Rue Pierre Lescot einquartiert, hab meine selbständige Wohnung und auch mein eignes Mobiliar.« – »Und Martial wird sich wohl recht freuen. Sie wiederzusehen?« fragte Marienblümchen in der Hoffnung, die Wölfin länger bei sich festzuhalten, wenn sie einen interessanten Gegenstand aufs Tapet brächte . . . »Na ja, na ja,« rief die Wölfin, »er lag noch krank, als ich abgeführt wurde, an einem Fieber, das ihn befallen hatte, weil er immer auf dem Wasser zu hausen gewöhnt war. Siebzehn Tage und Nächte hab ich den Fuß nicht von seinem Lager gesetzt, hab mein halbes Mobiliar verkauft, um Geld für Arznei und alles übrige zu haben. Aber ich darf jetzt auch sagen, daß er seine Genesung allein mir zu danken hat.«

»Und wo ist er jetzt? Was treibt er?« – »Er wohnt dicht am Wasser, an der Asnières-Brücke.« – »Und was für einen Beruf hat er?« – »Er ist Fischer. Hat aber irgend ein feiger Kerl Händel mit einem andern, so ficht Martial sie aus, denn er ist mutiger als ein Tiger. Sein Vater hat Verdruß mit der Polizei gehabt. Martial hat eine Mutter, zwei Schwestern und einen Bruder. Den letzteren hätte er freilich lieber nicht; denn dem, wie auch der Schwester, ist die Guillotine sicher.«

»Wo haben Sie denn Martial kennen gelernt?« fragte Marienblümchen. – »In Paris. Dort wollte er die Schlosserei erlernen, kam aber mit keinem Meister zurecht und ging wieder zu seinen Eltern. Dann fing er an, auf der Seine zu räubern. Ich wohne nicht bei ihm, sondern er kommt regelmäßig nach Paris, um bei mir zu nächtigen. Bei Tage besuche ich ihn wohl auch einmal draußen in Asnières. Dann bummeln wir ein bißchen in den Wald hinaus. Na, er wildert auch dann und wann. Vor etwa Jahresfrist hieß es, er habe einem Wildschütz eine Kugel auf den Pelz gebrannt, nachdem dieser ihn angeschossen hatte. Bewiesen ist's dem Martial ja nicht, aber er mußte doch die Gegend verlassen, und da hat ers wieder in Paris mit der Schlosserei versucht; und dann sind wir miteinander zusammengekommen.«

»Und Ihre Eltern, Wölfin?« – »Habe von Vater und Mutter nicht viel Gescheites vernommen. Vater war Tagelöhner und lebte mit einem Weibstück zusammen, das mit Apfelsinen handelte: die Mutter war dem Vater schon beizeiten mit einem Korporal durchgegangen. Die andere war keine böse Sieben, aber Vater bekam sie doch dick und ließ ihr das bißchen Mobiliar, das wir hatten, um in die weite Welt zu gehen. Wiedergesehen habe ich ihn nicht seitdem. Nun zog die Stiefmutter, wie ich sie nannte, zu einem Dachdecker, der aber immer besoffen war. Oft habe ich ihn zusammen mit der Stiefmutter verprügelt; als ich aber ins sechzehnte Jahr ging, da hieß es: Nun mußt du auch Geld verdienen, Mädel; mit dem Dienen ist's nicht. Laß dich auf der Sittenpolizei einschreiben, du bist ja stark und gesund; wenn du es mit dem Mannsvolke hältst, verdienst du immer noch das meiste Geld. Und so bin ich geworden, was ich jetzt bin, eine, für die man den Namen Freudendirne beliebt.«

Marienblümchen war zwar recht jung in eine verderbte Atmosphäre geraten, hatte aber in den letzten Wochen so reine Luft geatmet, daß sie durch die Reden der anderen in wahre Herzensangst gestürzt wurde. Sie kämpfte aber die Bewegung nieder und sagte schüchtern: »Ich möchte Ihnen was sagen, werden Sie aber bloß nicht bös!« – »Nun, sprich, wir wollen sehen, geschwatzt ist ja nun mehr als genug worden; aber auf eine Weile mehr kommts schließlich nicht an, da wir uns doch wahrscheinlich zum letzten Male unterhalten.« – »Und so sagen Sie mir doch, Wölfin, fühlen Sie sich glücklich?« – »O, warum sollte ich nicht?« – »Ihr Schicksal möchten Sie nicht mit einem andern vertauschen?« – »Ich? Was für ein anderes Schicksal sollte mir winken?«

»Haben Sie denn noch nie in Ihrem Leben Luftschlösser gebaut, Wölfin? Ich sollte meinen, in solchem Aufenthaltsorte, wie dem hier, wäre das schließlich ein naheliegendes Zerstreuungsmittel.« – »Nein, Luftschlösser habe ich nie im Leben gebaut.« – »Aber Sie sind doch Ihrem Martial gut? Nun, möchten Sie nicht versuchen, ihn von dem schlechten Lebenswandel abzubringen und einem guten zuzuführen? Könnte es sich nicht vielleicht treffen, daß ein vornehmer Herr, der Gefallen am Wohltun fände, ihm einen Posten als Jäger oder Wildhüter gäbe? so daß er als rechtschaffener Mensch sein Brot hätte – unter der Bedingung vielleicht, daß er Sie zu seiner Frau nähme?« – »Du willst dich wohl über mich lustig machen? He?« – »Aber wieso denn?« sagte die Schalldirne; »läge es denn so sehr aus dem Bereiche der Möglichkeit, daß Sie dann ein kleines Häuschen zu eigen hätten, worin Sie als ehrsame Hausfrau schalten und walten könnten, statt jetzt entweder in Saint-Lazare oder irgendwo versteckt zwischen bösen Menschen zu leben?« – »Aber so etwas kann ja nicht sein! Es liegt ja ganz aus dem Bereiche der Möglichkeit.« – »Aber Frau Martial, meine ich, möchte sich doch weit hübscher anhören als die Wölfin! Nicht?« –

Die Schalldirne merkte recht wohl, daß ihre Kameradin sich rege zu interessieren anfing, und war sehr erfreut darüber. Lächelnd fuhr sie fort: »Und wenn sich nun jemand fände, der bereit wäre, Ihnen solch ruhiges, arbeitsames Leben für das jetzige Elend in dem Straßenschmutze von Paris zu ermöglichen, wäre er nicht alles göttlichen Segens wert?«

Kaum hatte die Wölfin das Wort Paris gehört, als sie auch sogleich aus der Welt der Luftschlösser in die Wirklichkeit zurückgeführt wurde . . . Den Kopf emporwerfend, strich sie mit der Hand über die Stirn und erhob sich drohend, um mit zorniger Stimme zu rufen: »Ha! Sagte ich es dir nicht, daß ich dir nicht trauen, daß ich nicht auf dich hören dürfte? Warum sprichst du all dies Zeug? Doch nur, um mich am Narrenseile zu führen, um mich zu quälen! Wie kannst du dir einfallen lassen, mir solche Dinge vorzufaseln? Woran werde ich hinfort denken, als an ein Glück, das für mich nie existieren kann? Wird mir das Leben hinfort nicht vorkommen wie eine Hölle? Und wessen Schuld wird das sein als deine?« –

»Aber, Wölfin,« rief Marienblümchen, ohne sich einschüchtern zu lassen, »jeder ist eines ehrlichen Lebens würdig, der sich seiner befleißigt, und das ist doch wahrlich so schwer nicht!« – »Aber wozu führt es? und wozu frommt es?« fragte mürrisch die Wölfin. – »Sie dürfen mich nicht für so frivol halten, Wölfin,« sagte Marienblume voll Mitleid, »daß ich solche Hoffnungen in Ihnen wecken würde, wenn ich nicht wüßte, daß es einen Mann gäbe, der Ihnen gern die Mittel gewähren würde, zu einem ehrlichen Lebenswandel zurückzukehren.« –

»Mädchen!« rief die Wölfin erregt, »sollte es dir wirklich ernst um deine Rede sein?« – »Durchaus,« versetzte Marienblümchen, »war ich doch selbst vor einem Vierteljahre arm und verlassen gleich Ihnen in der Welt, und kam da nicht eines Tages eben jener Mann, von dem ich rede, zu mir und erhob mich aus meinem Elend und Jammer durch tröstende Worte und liebreiche Taten? Und was er mir getan, wird er auch Ihnen tun, des bin ich sicher!«

Ihr Gesicht verklärte sich förmlich, als sie diese Worte sprach. Aber die Wölfin wurde an einer Erwiderung verhindert durch den Eintritt der Frau Armand, die Marienblümchen zu der Frau Marquise holen sollte, die in dem kleinen Anstaltssaale auf sie wartete.

»Mein Kind,« sagte Frau von Harville zu ihr, »Frau Armand lobt dein Wesen ja über die Maßen – nur darüber führt sie Klage, daß du ihr so wenig Vertrauen schenkst.«

Das Mädchen ließ den Kopf sinken und erwiderte mit keinem Worte . . . »Auf dein Vertrauen, armes Kind, habe ich nun freilich nicht den mindesten Anspruch und will dir auch keine Fragen stellen; es wird mir aber gesagt, daß ein Gesuch um Freilassung dir bewilligt werden würde, wenn sich eine geeignete Person dafür fände. Ich will es für dich tun, möchte aber zuvor von dir hören, wie du dir dein späteres Leben denkst, und ob du auf gutem Pfade weiterwandeln willst, wie seit der Zeit, da du aus deinen früheren Verhältnissen befreit wurdest.«

Diese freundlichen Worte rührten das Mädchen zu Tränen, und nach einiger Zeit sagte sie: »O, gnädige Frau, so edel Sie sich gegen mich erweisen, so darf ich doch nichts sprechen, weil mich ein schrecklicher Eid verpflichtet, über die Ereignisse, die mich hierher geführt haben, unverbrüchliches Schweigen zu wahren.« – »Hast du Personen, die dir Gutes getan, den Eid geleistet?« – »Ja, einem Herrn, der mir ein großer Wohltäter war, könnten vielleicht Unannehmlichkeiten entstehen, wenn ich spräche.« – »Und kannst du mir sagen, wer dieser Mann ist?« – »Nein, denn ich weiß es ja selbst nicht.« – »Wo hast du ihn denn gesehen?« – »In Alt-Paris,« sagte das Mädchen, die Blicke senkend, »mich wollte in einer Nacht ein böser Mann schlagen, wenn nicht gar niederstechen, und jener andere Mann gewährte mir Schutz und rettete mir vielleicht das Leben. Auf diese Weise habe ich seine Bekanntschaft gemacht.« – »Weißt du seinen Namen? Ist er ein Mann aus dem Volke? Ist er jung oder alt?« fragte die Marquise. – »Als ich ihn zum ersten Male sah, war er wie ein Handwerker gekleidet und führte auch die Sprache eines solchen. Nachher jedoch nicht mehr. Er ist im mittleren Lebensalter, eher darunter, als darüber hinaus. Ich habe ihn immer Herr Rudolf nennen hören und auch nie anders, genannt.«

Die Marquise wurde von glühender Röte übergossen. – »Und einen andern Namen,« fragte sie, »hast du nie von ihm gehört?« – »Nein. Auch nicht in der Meierei, wohin er mich brachte, als er mich aus dem garstigen Hause erlöste, wo ich bis dahin hatte leben müssen.«

Eine seltsame Ahnung sagte der Marquise, daß der Mann kein anderer sei als der Fürst . . . »Ich sehe,« sagte sie, »daß Frau Armand mir über dich die Wahrheit gesagt hat. Nun erzähle weiter, wie es sich mit dem Eide verhält, von dem du sprachst.« – »Vor einem Vierteljahr etwa hat mich Herr Rudolf, wie schon gesagt, auf die Meierei gebracht, zu einer lieben braven Frau, die mir mehr war wie eine Mutter und die im Verein mit einem edlen Geistlichen mich aus der Unwissenheit erlöste, in der ich seither gelebt hatte.« – »Dorthin kam dieser Herr Rudolf wohl recht oft?« fragte die Marquise, die bei allen Eigenschaften, die sie besaß, doch Weib war und Rudolf zu innig liebte, um nicht Eifersucht gegen das Mädchen zu fühlen. »O nein,« antwortete jene, »Herr Rudolf war im ganzen bloß dreimal draußen in der Meierei, solange ich dort war.« – »Aber aus welchem Grunde hast du denn das Bauerngut, wo du dich so wohl fühltest, verlassen?« – »Vor ein paar Tagen,« sagte das Mädchen, das jetzt am ganzen Leibe bebte, »ging ich, wie es zwischen uns üblich geworden war, mit dem Herrn Geistlichen bis zur Pfarrei. Der Weg führt durch einen Wald, aber es war mir dort noch nie etwas zugestoßen. An jenem letzten Abend überfiel mich dort eine böse Frau, in deren Gewalt ich schon früher gewesen, und die mir mit zwei anderen, einem Mann und einem Jungen, aufgelauert hatte. Ich wurde gebunden und in einen Wagen geschleppt. Dort wollte mich die Frau, die unter dem Namen Eule in der Verbrecherwelt lebt, so häßlich machen, wie sie sagte, daß es jedem Menschen ein Ekel sein solle, mich bloß anzuschauen, und langte ein Fläschchen aus ihrer Tasche, worin Vitriol war.«

»Jesus, du Aermste!« rief die Marquise; »aber wer hat dich vor solchem gräßlichen Schicksale bewahrt?« – »Der Mann, der mit dem Weibe zusammen war, ein Blinder, der auf den Namen Bakel hört.« – »Und der nahm dich in Schutz?« – »Es kam zwischen den beiden zu einem Kampfe um meinetwillen, in dem es dem Manne gelang, sich des Fläschchens zu bemächtigen. Er schleuderte es aus dem Wagen. Es war eine stockfinstre Nacht. Nach einer Stunde etwa hielt der Wagen, wenn ich nicht irre, auf der Straße, die über die Ebene von Saint-Denis führt. Dort wartete ein Mann zu Pferde . . . ›So?‹ rief er den Leuten entgegen, ›habt ihr das Balg endlich erwischt?‹ – ›Ja,‹ versetzte die Eule, fuchswild, daß sie mich, wie sie sagte, nicht habe fürs Leben zeichnen können. Sie sagte zu dem Manne, wenn er mich durchaus los sein wolle, sei es doch das gescheiteste, mich unter die Wagenräder zu schmeißen und totzufahren: da würde dann jedermann an ein Unglück glauben, das in solch stockfinstrer Nacht jedem passieren könne, der sich in solcher Finsternis auf der Heerstraße noch herumtreibe . . . Aber der Reiter verwies ihr solche Reden und sagte, er wolle nicht, daß mir an meinem Leibe ein Schaden getan werde . . .«

»Aber das sind ja ganz gräßliche Dinge,« rief die Marquise, voll Entsetzen die Hände über den Kopf schlagend.

»Daraufhin sagte die Eule, sie wolle mich zu einem gewissen Rotarm bringen, der draußen auf den Feldern unter der Erde eine Kneipe hielte. Dort gäbe es verschiedene sichere Keller, wo ich von niemand gesehen werden könnte und auch niemand mehr sehen würde . . . Das war dem Manne recht. Er gab der Eule Geld und versprach ihr noch mehr, sobald ich aus dem Rotarmschen Keller geholt würde. Er ritt nun schnell fort. Als die beiden, der Blinde und das Weib, wieder allein waren, fragte der Blinde: ›Du, sage mal, willst du denn das Ding ersäufen? Du weißt doch, daß in Rotarms Keller die Seine austritt!‹ – ›Ja,‹ sagte die Eule, ›ersaufen soll das Balg; dann bin ich sie los. Ich hätt sie schon früher um die Ecke bringen müssen.‹«

»Aber, Gott im Himmel,« rief die Marquise, »was hast du denn diesem schlimmen Weibe angetan?«

»Ich? nicht das geringste, gnädige Frau; aber seit meiner frühesten Kindheit verfolgt sie mich mit maßloser Erbitterung. Der Mann sagte aber: ›Daß du das Mädel ersäufst, leide ich nicht; zu Rotarm wird sie auf keinen Fall gebracht. Du holst Rotarm auf die Felder hinaus und läßt sie von ihm zur Wache bringen. Da wird sie als Dirne nach Saint-Lazare gebracht, und wir sind sie los.‹ – ›Soll sie auf der Wache sagen, wir hätten sie geraubt? Da gehts doch uns an den Kragen!‹ – ›Das wird sie schon bleiben lassen,‹ sagte der Mann, ›entweder sie gelobt mir beim Andenken ihrer Mutter, reinen Mund auf der Wache zu halten und sich abführen zu lassen, oder sie wird zu Rotarm geschafft und mag dann in seinem Keller ersaufen oder sich von den Ratten fressen lassen.‹«

»Und du hast den Schwur geleistet?« – »Ja. Ich hatte zu große Furcht vor solchem Tode und dachte auch noch immer mit Entsetzen, daß es der Eule wieder einfallen könne, mir mit Vitriol das Gesicht zu verbrennen.« – »Das erklärt allerdings dein Schweigen, du wolltest die schlechten Menschen nicht der Polizei in die Hände liefern. Aber du hättest doch auch denken müssen, daß die Leute, die sich deiner mit solcher Liebe annahmen, um deinetwillen in schwerer Sorge sein mußten!« – »Ach, ich habe in meinem ersten Schrecken nicht bedacht, daß mich mein Eid verhindern würde, ihnen Nachricht zukommen zu lassen. Aber, nicht wahr? das bricht doch den schrecklichen Eid nicht, wenn ich Sie bitte, an die liebe Frau Georges in Bouqueval zu schreiben, sie solle sich um meinetwillen nicht sorgen? Freilich dürften Sie nichts davon sagen, wo ich sei, denn über meinen Aufenthaltsort zu schweigen, habe ich geschworen.«

»Kind, sofern du auf meine Bitte hin aus diesem Gefängnis freigelassen wirst, so hast du wohl kaum noch von diesen beiden Verbrechern etwas zu fürchten. Du wirst dann schon morgen wieder nach Bouqueval fahren können. Dort kannst du dich mit deinen Wohltätern beraten, inwiefern du dich durch deinen Eid gebunden zu erachten hast. Der Geistliche, von dem du sprichst, wird dir die rechte Auskunft schon geben.«

»O gnädige Frau, womit verdiene ich all die Liebe und Güte, die Sie mir zuteil werden lassen? Und wie kann ich mich dafür dankbar erweisen?« – »Dadurch, daß du dich nach wie vor eines guten Wandels befleißigst. Daß ich für dich nichts weiter tun kann, tut mir leid; aber es wäre ja unrecht von mir, deinen früheren Freunden dieses Vorrecht kürzen zu wollen.«

Die Tür ging auf, und Frau Armand kam hereingestürzt . . . »Gnädige Frau Marquise,« sagte sie zögernd, »ein Bote mit einer schrecklichen Nachricht . . .« – »Wer? Was?« rief die Marquise. – »Herr von Lucenay! Kein anderer als er ist unten und will Sie auf der Stelle sprechen. Es sei etwas Furchtbares, das er Ihnen mitzuteilen habe.«

»Führen Sie mich auf der Stelle zu ihm!« befahl die Marquise, Marienblümchen als eine Beute namenlosen Schreckens allein lassend.


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