Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Viertes Kapitel.

Frohes Wiedersehen

Kurz nach Marienblümchens Weggang aus Saint-Lazare war auch die Wölfin in Freiheit gesetzt worden. In ihrem Gemüte hatte sich durch den Aufenthalt daselbst eine vollständige Wandlung vollzogen, sie hatte ihr früheres Leben verachten lernen; jetzt schwebte ihr ein Leben in Ehren und Arbeit, wie es Marienblümchen ihr geschildert hatte, vor, und ihr einziges Ziel war, sich mit Martial vorm Altare als Christin trauen zu lassen, um dann als seine von Gott und den Menschen anerkannte Ehefrau einsam und verborgen mit ihm im Walde zu leben. Begreiflich, daß all ihr Sinnen und Trachten sich darauf richtete, mit Martial so schnell wie nur möglich zusammenzutreffen. Nun hatte sie aber seit einer Reihe von Tagen gar keine Nachricht mehr von ihm erhalten. Sie meinte, am sichersten zu gehen, wenn sie ihn auf der Seine-Insel suchte, und falls sie ihn dort nicht fände, dort auf ihn zu warten. Sie fuhr nach der Asnières-Brücke, und während die Seraphim mit Marienblümchen am Seine-Ufer unfern vom Gipsofen auftauchte, passierte sie etwa eine Viertelstunde vorher die Brücke. Da nun Martial sich in seinem Boote nicht sehen ließ, sie herüberzuholen, wendete sie sich an den in der Nähe aufhältlichen Fischer Ferot, einen silberhaarigen Greis, der vor der Tür seiner Hütte, mit dem Ausflicken von Netzen beschäftigt, saß. Schon von weitem rief sie ihm zu, sein Boot zur Ueberfahrt fertig zu machen.

»Ach, Sie sinds, Mamsell?« antwortete er, »guten Tag, guten Tag! Hab Sie ja lange nicht gesehen, aber heute überzusetzen, geht nicht an, geht wirklich nicht an, Mamsell!« – »Aber, Vater Ferot, warum denn nicht?« – »Ja, sehen Sie, Mamsell, mein Junge hat das Boot mitgenommen und ist mit nach Saint-Ouen zum Wettfahren . . . Am ganzen Ufer ist kein Boot heute aufzutreiben.« – »Aber ich muß hinüber, Vater Ferot.« – »Ja, Mamsell, es wird eben nicht gehen! Und auf Martial werden Sie auch nicht rechnen dürfen, denn soviel ich weiß . . .« – »Was wissen Sie?« rief die Wölfin, den Greis am Kragen packend, »ist er etwa krank?« – »So krank, daß er sich nicht rühren kann!« – »Aber dann hätte ers mir doch geschrieben, Ferot!« – »So? Wenn er sich nicht rühren kann?« – »Aber auf der Insel ist er doch?« – »Nun, was ich weiß, will ich Ihnen erzählen,« erwiderte Ferot, »denn sehen Sie, der Martial, wenn er auch ein Hitzkopf ist, ist doch ein guter Kerl, und es wäre wirklich jammerschade, wenn er durch die schlimme Alte, seine Mutter, oder durch seinen noch schlimmern Bruder ins Unglück geraten sollte!«

»Ferot, Ferot!« rief die Wölfin, »erzählen Sie, erzählen Sie! Sie sehen ja doch, daß mich der Schlag zu rühren droht!« – »Ist das ein Mädel, ist das ein Mädel!« rief Ferot; »lassen Sie mich doch bloß nachdenken! Also erstens muß ich Ihnen sagen, daß Martial mit seiner Familie schlechter steht als je, so daß ich mich gar nicht wundern würde, wenn sie ihm mal eins versetzten. Drum tuts mir ja auch so leid, daß ich gerade jetzt mein Boot nicht da habe, denn wenn sie etwa denken sollten, die drüben würden Sie holen, so sind Sie arg auf dem Holzwege!«

»Darauf rechne ich nicht . . . Aber Martial ist noch auf der Insel? He?« rief das Mädchen. – »Aber lassen Sie mich doch ausreden! Heute morgen sagte ich zu der Witwe: ›Wo steckt denn Martial? Ich habe ihn wohl schon drei Tage nicht gesehen. Ist er etwa in der Stadt? Sein Boot liegt ja drüben noch immer angebunden.‹ – Darauf guckt mich die Witwe groß an und erwidert: ›Drüben auf der Insel liegt er krank, und an seinem Aufkommen zweifelt jeder, der ihn sieht . . . Ich glaube auch nicht mehr dran.‹ – Da dachte ich bei mir: Wie mag das wohl zugehen? Vor drei Tagen war er noch blitzmunter . . . Da sah ich, daß die Witwe wieder weg wollte . . . Ich rufe ihr nach: Wohin denn, Nachbarin, wohin?«

Aber die Wölfin, von namenloser Angst und Wut befallen, hörte schon nicht mehr auf ihn, sondern war schon ein weites Stück an der Seine entlang unterwegs. Ohne auf ihre Umgebung zu achten, rannte sie weiter, bloß beherrscht von der Sorge um ihren Liebsten, und so gewahrte sie auch nicht, daß zwei Männer an ihr vorbeischritten . . . Es waren der Graf von Saint-Remy, der am linken Seine-Ufer, fast dicht an der Stelle, wo sich die Wölfin jetzt befand, sein Landhaus hatte, und Doktor Griffon.

Durch die Weiden und Pappeln hindurch konnte die Wölfin das Dach der Hütte sehen, wo ihr Martial jetzt vielleicht im Sterben lag! Ein lautes Ach! ausstoßend, warf sie Schal und Haube von sich, streifte ihr Kleid vom Leibe und sprang im Unterrocke, ohne sich zu besinnen, in den Fluß, um nach der Insel hinüber zu schwimmen. Da ertönte von der andern Seite der Insel ein lautes Angstgeschrei zu ihr herüber . . . ein Schrei aus Todesverzweiflung . . . Die Wölfin erschrak . . . Der Schrei erklang von neuem, aber schwächer, wie bittend, krampfhaft, aus sterbender Brust . . . Dann war alles totenstill . . .

Der Graf und der Doktor, die die Wölfin an ihrem Beginnen nicht hatten hindern können, hatten die Angstrufe vernommen und blieben erschrocken stehen . . . »Die Arme ertrinkt doch,« sagte der eine. Aber sie sorgten sich ohne Grund, denn Martials Geliebte schwamm wie ein Otter, und nach wenigen Armstößen gelangte das mutige Mädchen ans Ufer. Schon hatte sie wieder Grund unter den Füßen und hielt sich, um aus dem Wasser zu steigen, an einem der eingerammten Pfähle, die am Ausgange der Insel eine Art Staket bildeten, als plötzlich, vom Strome getragen, der Leib eines jungen Bauernmädchens herantrieb. All ihre Kraft zusammenraffend, packte die Wölfin den treibenden Menschenleib und hob ihn auf die Achseln, trug ihn aus dem Wasser ans Land und bettete ihn auf dem Uferrasen . . .

»Mut, Mut!« rief Graf von Saint-Remy ihr zu, der mit dem Doktor Griffon das mutige Werk mitangesehen, »warten Sie! Wir eilen über die Asnières-Brücke und kommen Ihnen mit einem Boote zur Hilfe.« – Kurz darauf führte der Strom eine andere Leiche hinweg, ohne daß die Wölfin sie bemerkte: es war die Haushälterin des Notars, die verschwinden zu lassen Niklas ebenso großes Interesse hatte wie Notar Ferrand selbst. Niklas hatte sie ins Wasser geschleudert, als er sich in das andere Boot hinüber gerettet hatte, und ihr durch einen Schlag mit dem Ruder den Garaus gemacht.

Aufs äußerste erschöpft, kniete die Wölfin neben dem geretteten Mädchen in das Gras und sah ihr ins Gesicht . . . »Die Schalldirne!« rief sie plötzlich, ganz erschrocken . . . »ist das aber ein seltsamer Vorgang!« Eine Weile fand sie vor Staunen keinen Gedanken. Dann sann sie weiter: »Wollte ich nicht eben noch dem Martial alles von ihr erzählen, was sie mir im Kasten drin gesagt und getan! Ach, das arme Ding! Wie kommt sie bloß in die Seine! Nein! Daß ich sie nun tot finden muß! Aber ich irre vielleicht? Vielleicht lebt sie noch!« Und sich dichter über das Mädchen beugend, legte sie das Ohr auf dessen Herz und meinte, ihren Atem zu hören . . . »Gott, ach Gott!« lallte sie, »sollte ich sie im letzten Augenblicke noch gerettet haben! Ja ja, sie lebt! O, ist das aber eine Freude für mich!« und wieder nach einer Weile sinnierte sie weiter: »Und mein Mann? Vergesse ich ihn ganz über der Dirne? Und wenn nun er, statt ihrer, im Sterben läge? Habe ich nicht eben gehört, daß seine Mutter und sein Bruder imstande wären, ihn zu ermorden!« – Nicht daran zweifelnd, daß die Witwe Martial und deren Tochter so schlecht nicht sein könnten, der vom Ertrinken Geretteten Beistand und Hilfe zu weigern, rannte sie nach der Hütte hin.

Niklas hatte sich mit seiner Mutter und Schwester, als Martials Liebste auf den höchsten Punkt der Insel gelangte, bereits zu Rotarm auf den Weg gemacht, in der festen Meinung, den Doppelmord glücklich vollführt zu haben, und gleichzeitig mit ihm war ein Mann, der hinter dem Gipsofen ungesehen Zeuge des gräßlichen Vorganges gewesen war, dahinter vorgekrochen; und dieser Mann war kein anderer als Notar Ferrand . . . Kaum hatte er seinen Schlupfwinkel verlassen, als Graf von Saint-Remy mit Griffon über die Asnières-Brücke gingen, um auf dem Niklasschen Boote, das sie von weitem gesehen, zur Insel hinüber zu fahren.

Zu ihrer nicht geringen Verwunderung fand die Wölfin die Tür der Hütte, in der Martials hausten, verschlossen. Marienblume war noch immer ohnmächtig. Die Wölfin legte sie auf den Rasen und ging um die Hütte herum. Sie wußte, in welcher Stube Martial zu nächtigen pflegte, und erschrak nicht wenig, als sie den Fensterladen mit Blech verschlagen und durch zwei Eisenstangen verbarrikadiert fand . . . Auf der Stelle erriet sie den Zusammenhang und rief mit aller Kraft »Martial, Martial!« – Keine Antwort.

Erschrocken darüber, daß sich nichts in der Hütte regte, rüttelte sie an den Eisenstangen vor dem Fenster, schlug gegen die Mauer, schlug an die Tür. Endlich gab ihr ein schwaches, ein paarmal wiederholtes Klopfen Antwort . . . Da sah die Wölfin eine große Leiter hinter einem Fensterladen des untern Saales stehen. Als sie heftig an dem Laden rüttelte, fiel ein Hausschlüssel auf die Erde, den die Witwe Martial dort versteckt hatte . . . Sie versuchte, ob der Schlüssel zur Tür paßte, und als sie sah, daß dies der Fall war, rief sie freudig: »Warte, warte, Martial! Jetzt befreie ich dich! Im Augenblick bin ich bei dir!« Als sie in die Küche trat, hörte sie die Kinder rufen, die im Keller eingesperrt waren und sobald die Wölfin aufgeschlossen hatte, ihr entgegen sprangen . . . »Ach!« riefen sie, »liebe Wölfin, rette doch den armen Martial, der oben verhungern soll, und den die böse Mutter seit zwei Tagen oben in der Kammer eingesperrt hält.« – »Ist er verletzt?« fragte die Wölfin. – »Nein, soviel wir wissen, nicht.« – »Nun, so komme ich ja gerade noch zur rechten Zeit,« erwiderte die Wölfin, zur Treppe eilend; aber kaum war sie ein paar Stufen hinaufgeeilt, so kehrte sie um und sagte: »Ach, und die arme Schalldirne vergesse ich ganz? Amandine, mach sogleich Feuer an und trage mit deinem Bruder ein armes Mädchen an den Kamin, das ich aus der Seine gerettet habe, knapp vorm Ertrinken . . . Sie liegt unten in der Laube.«

Mit zwei Sätzen waren die Kinder in der Laube, und die Wölfin am Ende des Ganges, der zu Martials Stube führte . . . Mit einem wuchtigen Axthiebe zertrümmerte sie die Tür . . . und bleich, fast kaum noch imstande, sich zu bewegen, sank Martial in die Arme der Geliebten.

»Endlich, endlich habe ich dich wieder, Martial,« rief die Wölfin und trug ihn auf eine im Gange stehende Bank. Dort saß Martial, ein paar Minuten lang matt, mit verstörtem Gesicht um sich starrend, bemüht, sich von den Qualen zu erholen, die er gelitten hatte. Zitternd vor Freude und Angst, ihren Liebsten wiedergefunden zu haben und vielleicht wieder verlieren zu sollen, die Augen in Tränen gebadet, lag die Wölfin auf den Knien und beobachtete alle Bewegungen in Martials Gesicht, der sich allmählich zu erholen schien und in gewaltigen Zügen die reine Luft einsog. – »Jetzt – atme ich, – ich atme. – Mein Kopf wird freier –« sagte Martial, der nun ganz zu sich kam. Dann rief er, als erkenne er jetzt erst den Dienst, den ihm die Wölfin geleistet hatte, im Tone unaussprechlichen Dankes: »Ohne dich hätte ich sterben müssen, meine gute Wölfin.« – »Hast du Hunger?« – »Nein, – ich bin zu matt. Am meisten litt ich unter dem Mangel an Luft. Ich würde erstickt sein, es wäre schrecklich gewesen.« – »Aber deine Hände – deine armen Hände! Diese Wunden! Mein Gott, was haben sie dir getan?« – »Niklas und die Schwester, die mich nicht zum zweiten Mal anzugreifen wagten, hatten mich eingesperrt, um mich verhungern zu lassen. – Ich wollte sie hindern, den Fensterladen zuzunageln – und die Schwester hieb mit dem Beile auf die Hand.« – »Die Unmenschen! Man sollte glauben, du hättest krank werden und sterben müssen. Deine Mutter hatte schon erzählt, du wärst so krank, daß du nie wieder aufkommen würdest. – Deine Mutter – Mann – deine Mutter!«

»Sprich nicht von ihr,« – sagte Martial bitter. – Dann erst bemerkte er die nassen Kleidungsstücke und das seltsame Aussehen der Wölfin und fragte: »Was ist dir geschehen? Dein Haar ist ganz naß? Du bist im Unterrock? Und der ist auch ganz naß?« – »Ich wußte, daß du in Gefahr warst, fand kein Boot –« »Und du bist herübergeschwommen? Meine gute Wölfin!« rief Martial. »Meinetwegen solches Wagnis!« – »O, nicht ich war in Gefahr, sondern ein armes Mädchen, das ich glücklich gerettet, als ich den Fuß auf die Insel setzte.« – »Du hast sie gerettet? Wo ist sie?« – »Unten bei den Kindern.« – »Wer ist das Mädchen?« – »Ach, wenn du wüßtest, welcher Zufall, welcher glückliche Zufall hier gewaltet hat! Sie ist mit mir in Saint-Lazare gewesen und ein Mädchen, wie man ihrer nicht viel findet. – Höre! Ich wollte dich um etwas bitten. Darum war ich hergekommen.«

»Gut! sage, was ich tun soll; aber nur muß ich gleich betonen, ich verlasse Amandine und Franz nicht mehr.« – »Deinen kleinen Bruder und deine kleine Schwester?« – »Ja; ich muß Vaterstelle bei ihnen vertreten, muß für sie sorgen. Man möchte sie zu Spitzbuben machen, und um sie zu retten, werde ich mit ihnen fortgehen – dich nehme ich auch mit.« – »Du willst mich mitnehmen?« rief die Wölfin in freudigem Erstaunen aus. Sie konnte an ein so großes Glück nicht glauben. »Ich soll dich nicht mehr verlassen?« – »Nein, meine gute Wölfin, nie! Du hilfst mir die Kinder erziehen. Ich kenne dich; wenn ich zu dir sage: meine arme kleine Amandine soll ein braves Mädchen werden, sprich mit ihr in diesem Tone, so wirst du eine gute Mutter für sie sein, ich weiß es.« – »Ach, ich danke dir, Martial, ich danke dir.«

»Wir leben als rechtschaffene Leute; wir finden Arbeit, verlaß dich darauf, und wir wollen arbeiten wie Sklaven. Die Kinder sollen wenigstens nicht werden wie ihr Vater und ihre Mutter. Aber was ist dir? was hast du?« – »Martial, es ist zu viel! Eben darum wollte ich dich ja bitten, mit dir in den Wald zu ziehen, hinfort dort leben als deine ehrsame Frau – als die Frau eines mit einer einträglichen Stelle bekleideten ehrlichen Mannes!«

Martial sah sie nun seinerseits mit Verwunderung an, denn er verstand ihre Reden nicht. »Was faselst du von einer Stelle?« – »Du sollst Waldhüter werden.« – »Und bei wem?« – »Die Gönner des Mädchens, das ich gerettet habe, wollen dich damit versorgen.« – »Ach, das wäre ja großartig,« rief Martial, »der Franz ist zwar noch nicht völlig verdorben, aber doch so lange bei den andern Geschwistern gewesen, daß es ihm im Walde besser gefällt als in der Stadt. Amandine könnte dir in der Wirtschaft zur Hand gehen, und ich gebe gewiß einen Jäger ab so gut wie irgend einer, der eine Büchse führen kann, bin ich doch kein schlechter Wilddieb gewesen. Du aber wärst meine Hausfrau, gute Wölfin, und dann hätten wir Kinder, was fehlte uns noch? Hat man sich einmal an den Wald gewöhnt, so fühlt man sich darin wie zu Hause; man könnte hundert Jahre da leben, ohne daß man Langeweile fühlte. Aber bin ich nicht ein Narr? Du hättest von solch schönem Leben lieber nichts sagen sollen – es erweckt Sehnsucht und kann einem doch nichts nützen!«

»Wenn die arme, kleine Schalldirne sich täuscht, so liegt es an den andern, denn sie sah ganz aus, als glaubte sie, was sie sagte. Uebrigens sagte mir die Aufseherin, als ich das Gefängnis verließ, ihre Gönner, die gar vornehme Leute wären, hätten auch ihre Freilassung bewirkt, doch wohl ein Beweis dafür, daß sie auch halten kann, was sie mir versprochen hat.« – »Ich weiß aber nicht,« sagte Martial, indem er rasch aufstand, »was wir eigentlich denken.« – »Was meinst du?« – »Das junge Mädchen liegt unten vielleicht im Sterben, und statt ihr beizustehen, sitzen wir da und schwatzen.« – »Beruhige dich, Franz und Amandine sind bei ihr, und wenn es schlimmer mit ihr geworden wäre, wären sie sicher heraufgekommen. Aber du hast recht, wir wollen zu ihr gehen; du mußt sie sehen, verdanken wir doch ihr all unser Glück!« Martial stützte sich auf den Arm der Wölfin und ging die Treppe hinunter.

Marienblume, von Franz und Amandinen neben das Feuer in der Küche getragen, lag noch immer ohne Bewußtsein, als der Graf von Saint-Remy mit dem Doktor Griffon aus Niklas' Boot stiegen, auf dem sie vom andern Ufer herübergekommen waren. Der Doktor nahm sich der Ohnmächtigen sofort an. Er war ein hagerer, bleicher Mann von hoher Figur mit Glatze. Sein Gesicht verriet Kälte, aber auch nicht ungewöhnlichen Verstand . . . »Eine hervorragende Schönheit!« sagte der Graf, das Mädchen mit traurigem Blicke betrachtend, »und noch so jung!« – »Das Alter hat nichts zu sagen,« erwiderte der Arzt rauh, »auch nicht das Wasser, das sich in den Lungen schon angesammelt hat.« – »Glauben Sie, das Mädchen noch retten zu können?« – »Viel Hoffnung ist nicht vorhanden,« versetzte Doktor Griffon, »sind doch die Extremitäten schon kalt!«

In diesem Augenblicke kam Martial herein, auf den Arm seiner Liebsten gestützt, die sich den karierten Umhang seiner Schwester umgenommen hatte. Als der Graf ihn sah, fragte er, wer der Mann sei . . . »Mein Mann,« antwortete die Wölfin, auf Martial einen unbeschreiblichen Blick voll Stolz und Liebe heftend. – »Ei, Sie haben eine recht mutige Frau,« sagte der Graf zu Martial, »ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie sie dies junge Mädchen da aus dem Wasser gefischt hat!« – »Das wohl,« antwortete Martial, »brav und unerschrocken ist sie, das muß man sagen, hat sie mich selbst doch auch eben aus höchster Not gerettet!« – »Aber, Mann, was ist denn mit Ihren Händen geschehen? Die sind ja ganz zerhackt!« –

Doktor Griffon sah sich um, ließ sich die Hände Martials zeigen und hieß ihn sie auf- und zumachen . . . »Zum Glück,« sagte er, »ist keine Sehne verletzt. Der Mann wird die Hände also wieder brauchen können.« – »Gott sei Dank!« rief die Wölfin; »und das Mädchen unten? Sie kommt doch mit dem Leben davon? Wie? . . . Es wäre ja gräßlich, könnten wir ihr nicht einmal danken für alles, was wir ihr schulden!« Und zu Martial gewandt, sagte sie: »Da sieh! Hier liegt sie, und ihr verdanke ich es, daß ich jetzt andere Anschauungen vom Leben und von meinem Verhältnis zu dir habe . . . Sie hat mir erst den Gedanken eingegeben, her zu dir zu gehen und dir alles zu sagen, wie es mir ums Herz ist . . . Und nun fügt es der Zufall, daß ich sie aus Todesgefahr erretten mußte!«

»Das Mädchen ist unser guter Engel,« erwiderte Martial, »und sie sieht ja auch aus wie ein Engel so schön! Nicht wahr, Herr Doktor, der Tod wird sie noch nicht holen?« – »Ich kann Gewisses darüber noch nicht sagen,« erwiderte Griffon, »vor allem muß ich wissen, ob sie hier bleiben kann, und hier die rechte Pflege finden wird?« – »Hier?« rief die Wölfin, »in solcher Mörderhöhle?« – »Still!« rief Martial, ihr mit der Faust drohend. – »Freilich,« sagte der Doktor zu dem verwundert dreinschauenden Grafen, »das Haus steht nicht im besten Rufe, und es sollte mich freilich wundern . . .« – »Sie sind also gewalttätigen Menschen zum Opfer gefallen?« fragte der Graf den Verletzten . . . »wer hat Sie denn so zugerichtet?« – »Ich bin in einer Schlägerei verwickelt gewesen,« sagte Martial ausweichend, »und dabei verletzt worden . . . aber,« setzte er hinzu, »daß das Mädchen hier bleibt, wird schwerlich angehen, denn ich bleibe auch nicht hier und will auch meinen Bruder und meine Schwester nicht hier lassen . . . wir werden der Insel auf Nimmerwiedersehen den Rücken wenden . . .«

»Ach, wie schön! wie schön!« riefen Franz und Amandine wie aus einem Munde . . . »Und wann wollen Sie weg?« fragte der Doktor, »das ohnmächtige Mädchen bedarf noch der größten Schonung. Es wäre deshalb wohl gut, wenn wir ein sicheres Obdach für sie fänden . . . Wie wäre es mit dem Hause, Herr Graf, das Sie mir angewiesen haben? Die Gärtnersfrau mit ihrer Tochter würden gute Pflegerinnen abgeben, und Sie haben, scheints, selbst Interesse genug für die Arme, daß Sie hin und wieder wohl nach dem Rechten sehen würden?«

Der Graf zollte diesem Plane aus vollem Herzen Beifall, und eine halbe Stunde später befand sich Marienblume, noch immer ohnmächtig, im Hause des Arztes und unter der Obhut der Gärtnersfrau desselben und der Wölfin, die nicht eher von ihr weichen wollte, als bis sie sie außer Gefahr wußte.


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