Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Siebentes Kapitel.

Nachricht über allerhand Figuren des Romans.

Ein paar Tage nach diesen Vorgängen begab Rudolf sich in das Haus in der Rue du Temple. Wie der Leser weiß, hatte er, um der List Ferrands ein Gegengewicht zu schaffen, aus einem Gefängnisse in Deutschland Cecily, die unwürdige Frau seines Negerarztes David, eine gewandte und kluge Kreolin, nach Paris bringen lassen. Der Leser weiß ferner, daß diese Kreolin durch Frau Seraphim als Ersatz für Luise Morel in Jakob Ferrands Haus gekommen war. Rudolf wollte sich in der Rue du Temple erkundigen, wie die Dinge in Ferrands Hause seitdem standen . . . Frau Pipelet eilte ihm mit den Worten entgegen: »Ach, Herr Rudolf, wieviel haben wir Ihnen zu erzählen! Denken Sie sich nur, gestern ist auch die Frau Burette von der Polizei abgeholt worden! Sie scheint außer ihrer Pfandleihe noch andere Geschäfte getrieben zu haben, man hat gehört von Hehlerei, Einschmelzen von Gold und Silber undsoweiter, und was das allerschlimmste ist, ihr alter Freund und Gönner, der Rotarm, der das Haus gepachtet und im einzelnen abvermietet hat, ist auch verhaftet worden . . .« Und nun erzählte sie, was sich bei Rotarm ereignet hatte . . .

»Rotarm?« dachte Rudolf bei sich, »Rotarm verhaftet, und die Eule tot? Nun, die hat ein besseres Schicksal wirklich nicht verdient . . . Die arme Marienblume ist wenigstens gerächt worden . . . Aber,« setzte er laut hinzu, »wie stehts mit Cecily und mit dem Notar?«

»Als wir zu ihm kamen, mochte es ungefähr sieben Uhr sein. Ich sagte dem Pförtner, er solle mich bei ihm melden, ich sei mit der Person da, über die schon Frau Seraphim mit ihm gesprochen. Der Pförtner stutzte und fragte mich, ob mir nichts darüber bekannt sei . . . O, Herr Rudolf, das ist eine gar schlimme Sache . . . Die Seraphim ist auf einer Landpartie, die sie mit einer jüngeren Person – wie gesagt wird, einer Verwandten von ihr – ertrunken.« –

»Ertrunken? Auf einer Landpartie? Jetzt im Winter?« fragte Rudolf verwundert. »Und Ferrand? Ist ihm Cecilys Schönheit aufgefallen?« – »Bei unserm Eintritt ist er, wie erschrocken, aufgesprungen, wahrscheinlich vor Verwunderung über Cecilys elsässischen Anzug. Ohne ihm Zeit zum Besinnen zu lassen, sagte ich ihm, er möchte verzeihen, daß meine Nichte in ihrer Landestracht käme; sie sei aber gerade angekommen, und ich sei nicht in den Verhältnissen, gleich für einen andern Anzug zu sorgen. Es möchte sich auch wohl deshalb der Mühe nicht lohnen, weil wir doch bloß kämen, um ihm zu danken für seine Bereitwilligkeit, das Mädchen in seinem Hause aufzunehmen. Dann drückte ich meine Besorgnis aus, Cecily möchte ihm am Ende gar nicht gefallen?« –

›Und warum sollte das der Fall sein?‹ versetzte der Notar, der sich wieder gesetzt hatte und uns über seine Brille hinweg angaffte. ›Wenn Ihre Nichte mir verspricht, arbeitsam, brav und nett zu sein, vor allen Dingen nie den Fuß aus meinem Hause zu setzen, dann will ich mich ihrer annehmen und sie zu mir ins Haus nehmen.‹ Darauf sagte Cecily, sie wolle doch lieber in ihre Heimat zurück, und der Notar sagte, mit Gewalt wolle er sie nicht halten; ein Dienstmädchen zu finden, sei nicht schwer, wir könnten es halten, wie wir wollten. Ich redete ihr nun zu, sie solle sich doch nicht sperren, ein guter Dienst in so reputierlichem Hause sei nicht alle Tage zu haben, und wenn sie sich nicht zureden ließe, würde ich mich weiter nicht um sie kümmern . . . Darauf entschloß sie sich, wenn auch sichtlich mit schwerem Herzen, zum Bleiben, bedang sich aber aus, in zwei Wochen wieder abziehen zu dürfen, wenn das Heimweh sie gar zu sehr befallen sollte. Sie nahm nun das sehr bescheiden bemessene Draufgeld des alten Knickers, und wir gingen . . .« – »Sehr gut, Frau Pipelet,« sagte darauf Rudolf, »da haben Sie, was ich Ihnen versprochen habe, für den Fall, daß es Ihnen gelänge, das arme Ding, das mir eine Last ist, gut unterzubringen.«


Die Rosen auf Lachtäubchens Gesicht verblichen mehr und mehr, und ihr niedliches, ehedem so frisches, rundes Gesicht wurde immer länger, ihr ehedem so heiterer, lebensfroher Zug im Gesicht war noch ernster als bei der letzten Begegnung mit ihrer ehemaligen Zellengenossin vor dem Gefängnisse von Saint-Lazare. – »Ach, wie freue ich mich, Sie wieder einmal zu sehen, lieber Herr Nachbar,« sagte sie zu Rudolf, als sie ihn aus Pipelets Wohnung heraustreten sah . . . »ich habe Ihnen viel, gar viel zu erzählen.«

»Sagen Sie mir doch vor allen Dingen, wie es Ihnen geht, liebe Nachbarin?« antwortete Rudolf, »noch immer so lustig wie einst? Nein, nein! Sie sind blaß – Sie arbeiten gewiß zuviel . . .« – »Nicht doch, Herr Rudolf! Was mir schadet, ist nicht die Arbeit, denn an sie bin ich gewöhnt; aber der Gram, der Gram, der ist die Ursache zu meiner Veränderung . . . Ach, wenn ich den armen Germain sehe, dann könnte ich vergehen vor Kummer.« – »Er ist wohl recht niedergeschlagen?« – »Freilich, freilich! Sie können wohl denken, daß ein so kreuzbraver Mensch, wie er, unter soviel Bösewichtern die Hölle auf Erden hat! Der Fron, in dessen Abteilung er sitzt, hat ihm schon wiederholt geraten, er möchte nicht so stolz tun; aber Germain kann es nicht über sich bringen, mit Schurken und Verbrechern sich abzugeben, und so fürchte ich, daß es über kurz oder lang noch ein gar schlimmes Ende mit ihm nehmen werde . . . Aber immer denke ich bloß an mich, und Sie wollten doch von der Schalldirne einiges hören . . .« –

Rudolf sah sie verwundert an. – »Nun, ich habe sie vorgestern gesehen, als ich die Luise in Saint-Lazare besuchen wollte.« – »In Saint-Lazare? Das ist doch nicht möglich!« – »Und doch, Herr Nachbar! Sie war es, und keine andere.« – »Da müssen Sie sich doch aber geirrt haben!« – »Nein, ich erkannte sie auf der Stelle, trotzdem sie in Bauerntracht war.« – »Und doch müssen Sie sich geirrt haben!« – »Nicht doch! Aber wenn Sie so bestimmt behaupten, sie sei es nicht gewesen, müssen Sie sie doch auch kennen!« – »Freilich kenne ich sie.« – »Nun, so steht es außer Zweifel, daß sie von Ihnen gesprochen hat, als sie mir von einem Herrn solchen Namens erzählte.« – »Und was erzählte sie?« fragte Rudolf gespannt. – »Ich erzählte ihr, wie es Luisen und Germain erginge, habe aber kein Wort dabei von Ihnen gesagt. Sie aber sagte gleich, daß nur ein Mensch bereit sein würde, den beiden Unglücklichen zu helfen, und das wäre ein edler, junger, sehr vornehmer Mann . . . Natürlich fragte ich sie sogleich nach dem Namen, und da sagte sie, der Herr hieße Rudolf . . .«

»Nun ja doch, ich habe mich für dieses Mädchen interessiert. Es wundert mich aber, daß sie in Paris sein soll. Das kann nicht sein. Jedenfalls zwingt mich die Mitteilung, mich auf der Stelle von Ihnen zu verabschieden. Halten Sie nach wie vor Germain und Luisen gegenüber reinen Mund über den Schutz, den ihnen unbekannte Freunde gewähren. Die Zeit, wann davon gesprochen werden kann, kommt schon. Aber vorläufig muß das Geheimnis noch gewahrt bleiben. – Wie geht's der Familie Morel?« – »Besser, Herr Rudolf, viel besser. Die Frau hat sich ganz erholt, und die Kinder erholen sich auch . . . Wie mag es aber mit dem Vater der unglücklichen Leute, die Ihnen soviel verdanken, gehen?« – »Wie ich gehört habe, auch besser. Gestern habe ich vom Arzte gehört, daß sich die lichten Augenblicke häufiger einstellen, und daß sich infolgedessen Hoffnung fassen ließe, daß es wieder gut mit ihm werden würde.« – »Gott gebe, daß Sie die Wahrheit sprächen, Herr Rudolf!« antwortete Lachtaube mit schwerem Seufzer . . . »Leben Sie wohl, Herr Nachbar!« – »Adieu, liebe Freundin! Auf baldiges Wiedersehen!«


Rudolf konnte nicht fassen, wie es kommen könne, daß seine kleine Freundin Madame Georges verlassen, und eilte in seine Wohnung, um gleich einen Boten nach Bouqueval hinauszuschicken. Gerade als er in die Rue Plumet einbog, sah er vor seinem Palais einen Extrapostwagen halten. Murph kam von der Reise nach der Normandie zurück, die er dorthin unternommen, um die Pläne der Stiefmutter der Marquise von Harville und ihres Helfershelfers Bradamanti zu durchkreuzen. Murphs Gesicht strahlte vor Freude . . . »Gute Nachrichten, königliche Hoheit!« rief er, als er mit Rudolf allein war; »die Elenden sind entlarvt und Herr von Orbigny ist gerettet. Aber Sie haben mich gerade noch zur rechten Zeit weggeschickt; kam ich eine einzige Stunde später, dann war ein neues Verbrechen vollbracht.« – »Und die Marquise von Harville?« – »Sie ist außer sich vor Freude darüber, daß sie Ihrem Rate so rasch Folge geleistet hat.« – »Und Polidori?« – »Er war auch diesmal der Helfershelfer! Aber diese Stiefmutter ist ja das richtige Ungeheuer! Was ich diesem Polidori gegenüber habe anstellen müssen, das geht weit über die bisherigen Rollen, die ich als Kohlenträger usw. gespielt habe.« – »Und wo ist er?« – »Ei, ich habe ihn mithergebracht! Denken Sie, eine Reise in solcher Gesellschaft! Zwölf Stunden neben einem Subjekte, das ich mehr als sonst jemand auf Erden hasse! Es kam mir so vor, als ob ich neben einer Natter säße!« – »Und wo hast du ihn abgesetzt?« – »In der Rue des Veuves. Dort ist er sicher bewacht. Ich ließ ihm die Wahl, entweder sofort der Polizei überliefert zu werden, oder in der Rue des Veuves Ihre weitere Entscheidung abzuwarten. Dann besann er sich nicht eben lange.« – »Gut! Besser, wir haben ihn unter der Fuchtel! Murph, du bist ein Goldmensch! Aber erzähle mir, wie es zugegangen. Ich brenne vor Ungeduld.« –

»Ich hatte weiter nichts nötig, als den mir von Ihnen erteilten Weisungen auf den Buchstaben zu gehorchen. Sie haben eben wieder einmal gute Menschen gerettet und böse bestraft . . . Lesen Sie den Brief der Marquise von Harville, den sie mir mitgegeben hat; er wird Sie von allem unterrichten.«

Rudolf las mit fliegender Hast:

»Königliche Hoheit! – Wieviel bin ich Ihnen schon schuldig, und jetzt noch meines Vaters Leben! Ich preise Gott, der mein Herz so lenkte, daß ich Ihrem Rate unverzüglich folgte und mit schnellster Post nach Aubiers reiste. Dort erfuhr ich, daß mein Vater seit mehreren Tagen sehr krank sei und daß meine Stiefmutter mit einem Arzte aus Paris angekommen sei. Ich zweifelte keine Sekunde, daß der letztere kein anderer als Polidori sei, und wollte sogleich zum Vater. Aber sein alter Diener war nicht mehr auf dem Schlosse. Ein Intendant, der mich in meine Zimmer geleitete, erzählte es mir und sagte, er wolle mich gleich der Stiefmutter melden. Aber schon kam sie selbst. So falsch sie ist, so schien meine unvermutete Ankunft sie doch in Unruhe zu setzen . . . ›Ihr Vater ist auf Ihren Besuch nicht vorbereitet, Madame,‹ sagte sie. – ›O, ich muß ihn aber gleich sprechen; es ist ein schreckliches Unglück geschehen: mein Mann ist durch eine maßlose Unvorsichtigkeit ums Leben gekommen. Ich konnte infolgedessen nicht länger in Paris bleiben, sondern möchte die erste Trauerzeit beim Vater verleben. Warum bin ich gar nicht benachrichtigt worden, daß Papa so ernstlich erkrankt ist?‹

›Es war Herrn von Orbignys Wunsch,‹ erwiderte die Stiefmutter. – ›Das glaube ich nicht,‹ rief ich, ›ich will mich von der Wahrheit selbst überzeugen,‹ sagte ich und wollte gehen, sagte mir wohl im nächsten Augenblicke, solche Ueberraschung könne dem Vater leicht gefährlich werden; bekämpfte aber diese Furcht, denn ich hatte ja so triftigen Grund, diese kalt berechnende Frau des schlimmsten für fähig zu halten, zumal sie mit diesem Polidori, dem Mörder meiner Mutter, hier war; und so schob ich die Frau beiseite und eilte in meines Vaters Zimmer. O, königliche Hoheit, den Anblick, der sich mir dort bot, werde ich mein Lebtag nicht vergessen: unkenntlich, bleich, abgemagert, mit dem Ausdruck des tiefsten Leidens in allen Zügen, lag mein Vater in seinem Armsessel. Neben ihm stand Polidori, eben damit beschäftigt, in eine Tasse aus einem Fläschchen Tropfen zu gießen. Als er mich so unvermutet erblickte, setzte er das Fläschchen wieder auf den Kamin, statt meinem Vater den Trank zu reichen. Instinktiv griff ich nach dem Fläschchen und schob es in meine Tasche. Es entging mir nicht, daß die Stiefmutter und Polidori darüber heftig erschraken. Ich gratulierte mir zu meinem Entschlusse, trotzdem ich fürchten mußte, daß der Schurke, ohne meines Vaters und der Wartefrau zu achten, das äußerste gegen mich unternehmen werde, da er sein Verbrechen ja so gut wie entdeckt sah . . .

Ich fühlte, daß mir Unterstützung vonnöten sei, und klingelte. Mein Kammerdiener trat ein. Ich sagte ihm, er solle gleich meine Sachen aus dem Wirtshause holen, wo ich abgestiegen sei. Murph wußte, daß ich ihn sogleich sehen müßte, wenn ich mit solchem Bescheide ins Wirtshaus schickte . . . Nun war ich beruhigt, denn ich konnte mich Murphs binnen wenigen Minuten versichert halten . . . Papa war so verwundert, daß er nur mühsam Worte finden konnte. Endlich fragte er, und zwar fast verdrießlich: ›Was führt dich her, Clemence?‹ – Die Stiefmutter nahm an meiner Stelle das Wort und sagte: ›Liebes Männchen, du weißt doch, daß dir die geringste Erschütterung von Nachteil sein muß. Wenn die Anwesenheit deiner Tochter dich stört, so reiche mir deinen Arm, ich will dich ins Nebenzimmer führen.‹

Ich erriet die Absicht meiner Stiefmutter, hatte aber nicht nötig, mich dawider zu verwahren, denn im selben Augenblicke trat Sir Walter Murph auf die Schwelle . . . Die Stiefmutter war vor Schreck außer sich; Polidori stand wie an den Boden gewurzelt, und mein durch die Krankheit erschöpfter Vater war einer Ohnmacht nahe . . . Sir Walter riegelte die Tür ab, durch die er eingetreten war, vertrat den Weg zu der ins Nebenzimmer führenden Tür, um Polidori an der Flucht zu verhindern, und richtete voll tiefster Hochachtung das Wort an meinen Vater: ›Herr Graf,‹ sagte er, ›gebieterische Notwendigkeit diktiert mein Handeln. Wie Ihnen dies Subjekt hier bestätigen kann, ist mein Name Walter Murph. Ich stehe in Diensten des Großherzogs von Gerolstein und bekleide den Rang eines Geheimrats . . .‹ – ›Aber was wollen Sie hier bei mir?‹ fragte mein Vater ängstlich. – ›Sir Walter Murph,‹ nahm ich an seiner statt das Wort, ›will im Verein mit mir ein Schurkenpaar entlarven, dessen Opfer Sie beinahe geworden wären.‹ – Ich gab Sir Walter Murph das Fläschchen, das ich vom Kamine genommen hatte. – ›O, ein alter Bekannter,‹ sagte Sir Walter, mit einem Blicke auf das Fläschchen, ›der Schurke dort wird mir nicht zu widersprechen wagen, wenn ich Ihnen sage, Herr Graf, daß in dem Fläschchen ein langsam, aber sicher wirkendes Gift enthalten ist. Sie werden nun die Gefahr, in der Sie schwebten und der Sie durch Ihrer Tochter Liebe entrückt sind, nicht länger bezweifeln.‹

Mein Vater ließ den Blick von seiner Frau auf Polidori, von diesem auf mich, von mir auf Sir Walter Murph gleiten. Er war außer sich vor Schreck, denn er konnte noch immer nicht fassen, was um ihn her vorging und was mit ihm seither vorgegangen war. Auf seinem Gesichte las ich den schweren Kampf, der sein Herz zerriß. Zweifellos kämpfte er wider den gräßlichen Argwohn an, der in seinem Herzen aufstieg, noch widerstrebte es ihm, seine zweite Frau solcher Schlechtigkeiten für fähig zu halten, endlich schlug er die Hände vor das Gesicht und seufzte tief und schwer . . . Ich mußte, koste es was es wolle, dieser Situation ein Ende machen, sollte ich meinen Vater nicht in Gefahr für seine Gesundheit setzen . . . Sir Walter erriet meine Gedanken. Er wollte aber im Herzen meines Vaters jeden Zweifel ausrotten und sagte: ›Bloß noch ein paar Worte, Herr Graf! Für den schweren Schlag, den Ihnen die Erkenntnis bereiten muß, in der zweiten Frau, der sie immer mit Liebe angehangen haben, eine böswillige Heuchlerin, eine Natter an ihrem Busen gewärmt zu haben, wird Ihnen die Liebe Ihrer Tochter reichen Ersatz schaffen . . . Und wenn ich also spreche, so dürfen Sie mir glauben, daß ich es nicht wagen würde, ständen mir nicht gewichtige Beweise zu Gebote – Beweise, die erdrückender Art sind und für die Sie durch die Antworten des ehrlosen Subjektes, das Ihnen als Arzt dienen sollte und ihr als Mordbube gedient hat, den Beweis erhalten werden . . . Hast du dich nicht der Zuchthausstrafe, die die Gerolsteiner Justiz über dich verhängt hat, durch die Flucht entzogen? Hast du dich nicht in der Rue du Temple unter dem falschen Namen Bradamanti verborgen gehalten? Hast du dort nicht das schändlichste Gewerbe betrieben? Hast du nicht die erste Frau des Grafen von Orbigny vergiftet? Und hat dich nicht vor drei Tagen des Grafen jetzige Frau aufs Schloß hergeholt, um ihren Mann durch dich vergiften zu lassen? Seine königliche Hoheit der Großherzog ist in Paris und wird dir dein Urteil sprechen. Gestehst du jetzt die Wahrheit ein, so hast du keine Begnadigung, sondern höchstens eine Strafmilderung zu gewärtigen . . . Weigerst du dich, mir nach Paris zu folgen, so hast du nur zu wählen zwischen sofortiger Auslieferung, die dem Großherzog nicht verweigert werden wird, oder sofortiger Verhaftung durch die Polizei des Landes. Dies Fläschchen hier bricht dir den Hals! Und nun tue, was dir beliebt!‹

Der Elende war seiner Sprache nicht mächtig. Sir Walter Murph packte ihn und führte ihn hinaus, wo er ihn durch die Dienerschaft fesseln ließ. Als er wieder ins Zimmer trat, war die Gräfin aus der Ohnmacht, in die sie durch die unerwartete Fügung der Ereignisse gestürzt war, wieder erwacht. Aber Sir Walter übte keine Schonung gegen sie, sondern befahl ihr, binnen einer Stunde das Schloß zu verlassen, wenn sie nicht Bekanntschaft mit der Polizei machen wolle . . . In einem Zustande halb der Wut, halb des Entsetzens taumelte die Frau aus dem Zimmer. Auch mein Vater kam bald nachher wieder zu sich. Ihm erschien alles, was um ihn her vorgegangen war, wie ein grauenvoller Traum. So verblendet und nachsichtig er bisher gegen seine zweite Frau gewesen war, so hart und unbarmherzig verhielt er sich jetzt. Er wollte sie den Gerichten als Mörderin überliefern, ich riet ihm aber davon ab, um solchen Skandal zu vermeiden, und sagte ihm, er solle es dabei bewenden lassen, daß er sie für immer aus seiner Nähe verbanne . . . Schließlich willigte er darein . . . Ich habe meinen Vater fernerhin veranlaßt, heute noch Aubiers zu verlassen,« las Rudolf weiter, »und habe ihn nach Fontainebleau gebracht, wo wir seine Genesung abwarten wollen. Dann wird er sich nach Paris begeben, aber nicht in meinem Hause wohnen, denn nach dem grausigen Ereignis, das meinen Mann hingerafft hat, ist auch mir der Aufenthalt dort verleidet . . . Empfangen Sie nochmals meinen Dank für die Unterstützung, die Sie mir haben angedeihen lassen, und versichern Sie auch Sir Walter Murph meines tiefgefühltesten Dankes.

Ihre Clemence von Harville, geb. Orbigny.

Nachschrift. Noch eins, was ich Ihnen längst schon hätte mitteilen sollen! Im Gefängnisse Saint-Lazare, wo ich zufolge Ihrer Weisung die Gefangenen besuchen sollte, habe ich ein unglückliches Mädchen angetroffen, für das Sie sich ehedem interessierten. Die Unglückliche wird Ihnen, wenn Sie sich weiterhin für Sie interessieren, selbst erzählen, auf welche Weise, durch welches Zusammentreffen widriger Umstände sie der freundlichen Stätte entrissen worden ist, wohin Sie sie geführt hatten, und wie sie den Weg in das Gefängnis gefunden hat, wo sie als milder Engel ihren segensvollen Einfluß geltend zu machen verstanden hat . . .«

»Ich verstehe nicht,« sagte Rudolf bei sich, »wie das alles zusammenhängen mag . . . welch neues Unglück mag über die arme Marienblume hereingebrochen sein? Schicke auf der Stelle einen reitenden Boten nach Bouqueval, lieber Murph, und schreibe der Frau Georges, daß sie sofort nach Paris kommen möge . . . Sage auch Graun, er solle mir die Erlaubnis zum Besuche des Gefängnisses Saint-Lazare verschaffen. Wie mir Frau von Harville mitteilt, ist das Mädchen dort eingesperrt; doch nein! Lachtaube teilt mir doch eben mit, sie habe sie mit einer älteren Frau aus dem Gefängnisse gehen sehen . . . Sollte das etwa Frau Georges gewesen sein? Wer weiß! Und wohin mag die Arme dann geraten sein?«

»Geduld, Hoheit, Geduld!« sagte Murph, »ehe es Abend wird, soll alles offenbar sein. Wir werden morgen das Verhör mit dem Schurken Polidori anstellen, der, wie er sagt, Ihnen wichtige Aufschlüsse zu geben hat, sie aber niemand als Ihnen selbst geben will.« – Rudolf machte eine abwehrende Gebärde . . . »Warum sollten Sie mit dem Manne nicht reden wollen? Drohen Sie ihm mit der Polizei und den Gerichten Frankreichs . . . die Angst vor dem Bagno wird ihm die Zunge am ehesten lösen.« –

Es wurde geklopft, Murph ging hinaus und kam mit zwei Briefen wieder, deren einer für Rudolf bestimmt war . . . Ihn schnell überfliegend, rief er: »Also wie ich ahnte, das Mädchen ist einer neuen Niederträchtigkeit zum Opfer gefallen! Am selben Abend, an dem sie von Bouqueval verschwunden, ist ein reitender Bote zur Frau Georges gekommen mit der Nachricht, ich sei von dem Verbleib des Mädchens unterrichtet und würde sie nach einigen Tagen persönlich zurückbringen. Frau Georges ist aber trotzdem über das Ausbleiben jeder weiteren Nachricht in Sorge und schreibt mir nun, ich möchte sie doch aus dieser Ungewißheit befreien.« – »Seltsam!« – »Aus welcher Ursache mag man das Mädchen aus Bouqueval gebracht haben?« – »Ich vermute, Königliche Hoheit, daß die Gräfin Sarah diesem Vorgange nicht fremd ist,« bemerkte plötzlich Murph. – »Sarah? Und warum denkst du das?« – »Setzen wir den letzten Vorgang in Konnex mit den Verleumdungen, die sie über die Marquise ausgestreut hat . . .« – »Du hast recht, Murph,« antwortete Rudolf, dem nun mancherlei klar wurde, das ihm bisher dunkel gewesen war, »ja, ich verstehe jetzt – Sarah hält hartnäckig an dem Wahne fest, daß sie dadurch, daß sie alle Liebesbande, die mich ihrer Meinung nach fesseln, zerreißt, mich wieder an sich ziehen werde . . . Schicke auf der Stelle Graun zu ihr und lasse ihr sagen, ich hätte von dem Anteil, den sie an dem Raube des Mädchens habe, genaue Kenntnis und würde, wenn sie mir nicht sofort gestände, wohin sie das Mädchen habe schaffen lassen, mich unverzüglich an die Polizei wenden.« – »Sogleich, Königliche Hoheit! Zuvor aber gestatten Sie wohl, daß ich schnell noch sehe, was mir mein Marseiller Agent über das Fortkommen Schuris meldet, dem er nach Algier verhelfen sollte.«

»Und was wird dir mitgeteilt?« fragte Rudolf nach einer kleinen Weile. –

»Schuri hat in Marseille geraume Zeit auf ein Schiff nach Algier warten müssen und dann, als ihm die Zeit zu lang wurde, erklärt, er wolle nach Paris zurückreisen.« – »Nun, warten wir ab, was uns weiter von ihm bekannt wird,« erwiderte Rudolf, »schicke sofort Graun zur Gräfin oder erkundige dich selbst in Saint-Lazare, was aus dem armen Kinde geworden ist.«

Nach Verlauf einer Stunde kam Graun von dem Gange wieder, völlig außer Fassung . . . »Was ist Ihnen denn, Graun?« rief Rudolf ihm entgegen, »haben Sie die Gräfin gesprochen?« – »Königliche Hoheit, etwas Entsetzliches . . . – »Sprechen Sie! Sprechen Sie!« drängte ihn Rudolf. – »Die Gräfin ist niedergestochen worden, Königliche Hoheit!« – »Graun! Sind Sie von Sinnen?« – »Noch lebt sie, aber der Arzt zweifelt an ihrem Aufkommen,« erwiderte Graun. – »Und wer hat dies Verbrechen begangen?« rief Rudolf, »es läßt sich ja kaum fassen!« – »Man weiß nichts näheres,« berichtete Graun, »aber es hat sich jemand ins Zimmer der Gräfin geschlichen und viel Juwelen geraubt . . .« – »Ziehen Sie sofort nähere Erkundigungen ein, Graun, und halten Sie sich stündlich auf dem Laufenden!«

Murph kam bald darauf von Saint-Lazare wieder . . . »Vernimm, ehe du mir mitteilst, was du erfahren,« sagte Rudolf, »daß Sarah einem Raubmorde erlegen ist . . . und daß ihr Leben in der äußersten Gefahr schwebt . . .« – »Entsetzlich, königliche Hoheit,« rief Murph und setzte nach einer kleinen Pause hinzu: »Sie hat wohl viel verschuldet, Hoheit, aber solches Ende wäre doch zu schrecklich!« – »Und wie steht's mit dem Mädchen?« fragte Rudolf gespannt. – »Sie ist gestern, wie es heißt, auf Verwenden der Marquise von Harville, in Freiheit gesetzt worden.« – »Das kann doch nicht sein,« versetzte Rudolf, »die Marquise schreibt mir ja, daß ich die weiteren Schritte tun solle, die dem Mädchen zu seiner Freiheit verhelfen könnten.« – »Und doch ist es so, wie ich sage. Das Mädchen ist seit gestern nicht mehr im Gefängnisse. Eine ältere Frau ist mit dem Freilassungsbefehl dagewesen, und mit ihr hat das Mädchen das Gefängnis verlassen.« – »Das hat mir allerdings auch Lachtaube schon gesagt. Aber wer kann diese ältere Frau sein? Und wohin mögen sie zusammen gegangen sein? . . . Es häuft sich wirklich Geheimnis auf Geheimnis . . . Vielleicht könnte Gräfin Sarah uns den Schlüssel dazu geben. Nun setzt sie aber der Zustand, in dem sie sich befindet, außer Möglichkeit, irgendwelche Aussage zu machen . . . Wenn sie bloß das Geheimnis nicht mit in das Grab nimmt!«


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