Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Dritter Teil.

Erstes Kapitel.

In der Rue du Temple.

Noch am selben Tage, an dem die Besprechung des Barons Graun mit Murph stattgefunden, bei trübem Wetter, in der dritten Nachmittagsstunde, begab sich Rudolf in die Rue du Temple. Die Stube des Portiers lag am Fuße einer finstern, feuchten Treppe. Selbst bei Tage mußte eine Lampe brennen, um die dunkle Höhle zu erhellen. Rudolf trug eine Kleidung, die ihn wie einen Kommis im Werkeltagsanzuge erscheinen ließ. Mit dem Wunsche, das Zimmer anzusehen, das in dem Hause zu vermieten stand, trat er in die durch eine Lampe, die hinter einer mit Wasser gefüllten Glaskugel stand, matt erhellte Stube. Schon daran hätte sich erkennen lassen, daß der Pförtner dem edlen Schuhmacherhandwerk angehörte; allen Zweifel hieran hob aber der häßliche Ledergeruch, welcher in der Stube herrschte, und die große Menge alten Schuhzeugs, das der ausbessernden Hand des Pförtners harrte.

Pipelet – wie der flickschusternde Pförtner hieß – war im Augenblick nicht zur Stelle, sondern wurde durch seine Frau vertreten, die ganz sicher die häßlichste, schmutzigste, keifigste, giftigste aller Pariser Pförtnerfrauen der damaligen Zeit war.

»Das Zimmer, nach welchem Sie fragen,« entgegnete die Frau mürrisch auf Rudolfs Frage, »liegt im vierten Stock, kann aber momentan nicht besichtigt werden, denn mein Mann ist ausgegangen.« – »Wenn Sie nichts dawider haben,« versetzte Rudolf, »werde ich ein Weilchen warten. Ich möchte das Zimmer gern haben. Stadtteil und Straße gefallen mir, und das Haus auch, denn soviel man sehen kann, wird es sehr sauber gehalten. Ich möchte auch gleich fragen, ob Sie die Aufwartung für mich übernehmen möchten.« – Frau Pipelet fühlte sich durch die Lobreden über die Wirtschaft, die im Hause herrschte, nicht wenig geschmeichelt, und erklärte, für 6 Franks monatlich die Aufwartung gern besorgen zu wollen. Auf Rudolfs Frage, wie teuer das Zimmer sei, erwiderte Frau Pipelet: »Mit Schlafkabinett 150 Franks. Es ist das äußerste. Herr Rotarm, der Wirt, ist ein sehr genauer Herr. Er wohnt in der Rue des Poix und hat auch ein Restaurant in den Champs-Elysées.« – »Ich denke, das Haus gehört einem Herrn Bourdon?« – »Das kann sein,« versetzte Frau Pipelet, »wir haben es aber nur mit Herrn Rotarm zu tun, der die Mieten einkassiert, auch über die baulichen Veränderungen, die hin und wieder vonnöten sind, das entscheidende Wort spricht.« – Um sich ganz in das Vertrauen der Pförtnersfrau einzuschleichen, bat er sie, aus der nächsten Destillation eine Flasche vom »Besten« mit drei Gläsern zu holen, und gab ihr dazu ein Hundertsousstück. Darob funkelte die Nase der Biederfrau flugs in allem Glanze des Schnapsdurstes, und mit den Worten: »Ihnen muß man ja auf der Stelle gut sein,« verließ sie die Stube.

Als Rudolf allein war, konnte er nicht umhin, sich mit dem wunderlichen Zufalle zu befassen, der ihn abermals mit Rotarm zusammenbrachte. Was ihn am meisten wunderte, war, daß Germain sich ein ganzes Vierteljahr in diesem Hause hatte aufhalten können, ohne von Bakels Komplizen entdeckt zu werden, die doch mit Rotarm in Verbindung standen. Da pochte ein Briefträger ans Fenster und gab mit der Bemerkung, daß er drei Sous zu fordern habe, zwei Briefe herein. Ein Brief, stark nach Moschus riechend, war an Frau Pipelet gerichtet und zeigte auf dem roten Siegel zwei Buchstaben: C. R., mit einem Helm darüber auf einem gesternten Schilde des Kreuzes der Ehrenlegion. Die Adresse war mit fester Hand geschrieben. Rudolf schloß hieraus, daß sie von keiner Frauenhand herrühre. Der andere Brief war nur mit einer Oblate zugemacht; er trug die Aufschrift: »An Herrn Zahnarzt Cäsar Bradamanti,« in offenbar entstellten Buchstaben. Rudolf meinte, er müsse einen traurigen Inhalt haben, zumal an einigen Stellen deutliche Spuren von Tränen auf dem gewöhnlichen grauen Papiere zu sehen waren.

Frau Pipelet kam mit einer Flasche Likör und drei Gläsern zurück . . . Rudolf gab ihr die beiden vom Briefträger dagelassenen Briefe . . . Einen Blick auf den nach Moschus duftenden werfend, sagte sie: »Oho! Fein satiniertes Papier? Ist am Ende gar ein Liebesbrief. Aber – wer könnte sich herausnehmen . . .« sie schwieg ein Weilchen; dann rief sie: »Richtig, Jetzt hab ichs! Von dem Kommandanten kommt er, von niemand sonst! Der andere? Hm, der interessiert mich wenig; er gehört dem windigen Zahnbrecher im dritten Stocke . . . Sie könnten mir doch den an mich gerichteten vorlesen, junger Herr! Wollen Sie so liebenswürdig sein?« – »Sehr gern,« antwortete Rudolf, dem es nicht unlieb war, auf diese Weise zu erfahren, mit wem die Frau in Briefwechsel stand . . . »Morgen um elf Uhr wird man in den beiden Stuben Feuer anmachen, die Spiegel putzen, die Kappen von den Stühlen abziehen. Hierbei ist aber darauf zu achten, daß die Vergoldung an den Möbeln nicht beschädigt werde! Sollte ich noch nicht da sein, wenn um ein Uhr ein Fiaker kommt und nach mir als Herr Karl fragt, so soll man die Dame in die Wohnung hinaufgehen lassen, aber die Schlüssel wieder mit hinunter nehmen und mir behändigen, wenn ich selbst komme.«

Rudolf begriff auf der Stelle, um was es sich handelte, trotzdem der Brief nicht besonders geschickt gefaßt war. Er fragte die Frau: »Wer wohnt denn im ersten Stock?« – Darauf legte die Alte den gelben, dürren Finger auf ihre Hängelippe und antwortete mit einem Lächeln, das schelmisch sein sollte: »Hm, Liebesaffären, Liebesaffären!« Sie schien erst weiter nichts sagen zu wollen, besann sich dann aber anders und fuhr fort: »Was ich davon weiß, kann ich Ihnen ja sagen, zumal es nicht eben viel ist. Es mag etwa sechs Wochen her sein, da sah sich ein Tapezier das erste Stockwerk an, das gerade zu vermieten stand, fragte, was es kosten solle, und kam alsbald mit einem stattlichen jungen, blonden Herrn wieder, den er als Kommandant anredete. Der Herr trug das Kreuz der Ehrenlegion und sehr feine Wäsche, auch einen kleinen zierlichen Schnurrbart. Ihm gefiel alles, und am andern Tage wurde der Vertrag mit Rotarm geschlossen. Der Tapezier bezahlte die Miete auf ein halbes Jahr voraus und möblierte die Wohnung auf das feinste. Als alles fertig war, kam der junge Herr wieder, erklärte sich in jeder Hinsicht zufrieden und sagte zu Alfred, meinem Manne: ›Ich werde nicht allzu oft hier sein, nehme aber an, daß Sie alles imstande halten und, wenn ich Ihnen meine Ankunft anzeige, die nötigen Vorkehrungen treffen werden?‹ – ›Selbstverständlich, Herr Kommandant!‹ erwiderte mein Mann, forderte dafür monatlich zwanzig Franks, aber der junge Herr handelt wie ein Jude, und so haben wir uns auf zwölf Franks monatlich geeinigt.« – »Ist der Herr seitdem schon dagewesen?« fragte Rudolf. – »Das ist eben das Merkwürdige an der ganzen Geschichte. Es scheint, als wenn der junge Herr Kommandant niederträchtig an der Nase herumgeführt würde. Schon dreimal hat er wie heut geschrieben und befohlen, Feuer anzumachen und die Betten zu überziehen, da eine Dame kommen werde; aber wer niemals kommt, das sind die – Damen!«

»Aber der Herr kam?« – »Ja. Das erste Mal war er ganz vergnügt und wartete zwei volle Stunden. Beim zweiten Male kam wenigstens ein Dienstmann mit einem Billet an Herrn Karl . . . ›Herr Kommandant,‹ sagte ich, als ich ihm das Billet behändigte, ›heute scheints wieder nichts zu werden.‹ – Da guckte er mich groß an, machte den Brief auf, las ihn und sagte: ›Daß heute niemand kommen werde, habe ich ja schon vorausgewußt.‹ Beim dritten Male dachte ich wirklich, daß es zu etwas kommen werde; mit freudestrahlendem Gesichte kam der Kommandant und schien seiner Sache mehr als sicher zu sein. Nicht lange, so fuhr ein Fiaker vor, der Kutscher sprang vom Bocke und öffnete den Schlag; wir sahen eine Dame mit einem Muff auf den Knien und einem schwarzen Schleier vor dem Gesicht. Sie hielt das Taschentuch vor den Mund, und mir war es, als ob sie weinte. Kaum hatte auch der Kutscher den Schlag heruntergelassen, als sie sich zu ihm beugte und ein paar Worte sprach, worauf er verwundert den Schlag wieder zuwarf. – Beide Hände vor das Gesicht drückend, legte sie sich in den Wagen zurück, ich aber konnte mich in meinem Versteck nicht mehr halten, sondern rannte zur Tür und fragte den Kutscher, als er auf den Bock stieg, wohin er fahren solle. – »Dorthin zurück, woher wir kommen.« – »Und wohin ist das?« fragte ich weiter. – »Nach der Rue Saint-Dominique, Ecke der Rue Belle Chasse.«

Bei diesen Worten schreckte Rudolf zusammen, denn einer seiner besten Freunde, der Marquis von Harville, der seit einiger Zeit in Schwermut verfallen war, wohnte in der genannten Straße. War es die Marquise, die auf solche Art ihrem Verderben entgegenrannte? Schöpfte ihr Gemahl Argwohn gegen sie? War etwa diese Untreue seiner Frau der Wurm, der an seinem Herzen nagte? Aber Rudolf kannte doch die Personen, die den Umgang der Marquise bildeten, und besann sich nicht, je einen Menschen darunter gesehen zu haben, auf den das ihm von der Pförtnerin gegebene Signalement des Kommandanten paßte. Konnte nicht auch die Dame, von der jetzt die Rede war, sich in der Rue Saint-Dominique einen Fiaker genommen haben, ohne dort zu wohnen? Was waren sonst für Beweise dafür vorhanden, daß es die Marquise sei? Und doch war es Rudolf nicht möglich, sich eines gewissen Argwohns zu entledigen.

»Seitdem, wie gesagt,« schwatzte die Frau weiter, »haben wir weder den schönen jungen Herrn noch die Dame wiedergesehen; aber nun muß ich doch mal nach meinem Essen sehen; ich habe ein Huhn auf dem Feuer, und mit meinem Alfred ist nicht zu spaßen, wenn er heimkommt und sein gutes Stück Fleisch nicht im Schmortopfe findet.«

Während Frau Pipelet sich ihren häuslichen Angelegenheiten widmete, spukten Rudolf allerhand trübe Gedanken im Kopfe herum. Die Dame, die nun zum drittem Male in dem Hause, dessen Verwaltung Pipelets führten, erwartet wurde, war sicher über den unvorsichtigen Schritt, zu dem sie sich hatte verleiten lassen, in letzter Minute heftig erschrocken und zauderte noch immer, sich zu einem Stelldichein zu begeben. Schließlich mochte sie aber dem unwiderstehlichen Drange nachgegeben haben, war unter Tränen bis an die Tür des Hauses gefahren, wo sie ihren schmachtenden Liebhaber treffen sollte, hatte aber in dem Augenblicke, als sie sich für ihr ganzes Leben unglücklich machen wollte, noch einmal ihr Gewissen schlagen hören und war der Schande abermals entflohen. Und um wessen Willen setzte sie sich ihr aus? Warum nahm sie also solche Gefahr auf sich? Rudolf kannte die Welt und das menschliche Herz. Nach den flüchtigen Andeutungen der Pförtnersfrau meinte er über den Charakter des Seladons, der die Wohnung im ersten Stocke gemietet hatte, völlig im klaren zu sein. Aber Rudolf kannte doch auch die Frau des Marquis, und zwar als eine Dame von Geist, Gemüt und Geschmack. Rudolf wußte, daß ihr Ruf nie auch nur durch den leisesten Hauch getrübt worden war. Er konnte sich unmöglich denken, daß sie hinter diesem Abenteuer stecken solle. – Als die Pförtnerin wieder sichtbar wurde, fragte Rudolf, wer denn eigentlich im zweiten Stocke wohne? – »Eine Frau Burette, die sich ihr Brot auf recht bequeme Weise, durch Kartenlegen nämlich, verdient. Es kommen die vornehmsten Leute zu ihr, und sie läßt sich horrend bezahlen. Uebrigens ist die Wahrsagerei nicht ihr einziges Geschäft.« – »So? Und was treibt sie weiter?« – »Sie gibt Geld auf Pfänder. Mit dem Gesetz verträgt sich das freilich nicht; aber wenn die Menschen immer bloß tun wollten, was gesetzlich erlaubt ist, da könnten wohl gar viele die Hände in den Schoß legen. Das wenigstens ist meine Meinung. Die Burette gibt aber niemals einen Schein aus der Hand, und so hat die Polizei eben gar keine Beweise wider sie in der Hand und muß es sich gefallen lassen, daß sie von der Frau verlacht wird. Ich wünschte Sie könnten einmal sehen, was alles zu der Frau hingeschleppt wird.« – »Treibt die Person etwa noch andere Geschäfte?« – »Nein, nicht daß ich wüßte . . . Darüber weiß freilich niemand Bescheid, was sie in einem kleinen Stübchen vornimmt, zu welchem kein Mensch Zutritt hat außer Rotarm und einem alten einäugigen Weibe, das den Spitznamen Eule führt.«

Rudolf sah die Frau verwundert an, die sich aber dadurch nicht beirren ließ, sondern meinte: »Ein possierlicher Name, nicht wahr?« – »Allerdings. Kommt die Frau oft her?« – »Jetzt hat sie sich sechs Wochen lang nicht sehen lassen, vorgestern war sie aber wieder da. Sie geht ein bißchen lahm.« – »Und was hat sie bei dieser Frau Burette – so nannten Sie sie doch? – zu tun?« – »Ja, wer kanns wissen? Ich habe bloß bemerkt, daß beide – Rotarm sowohl als die Eule – wenn sie in das Stübchen eintreten, immer ein Paket unterm Arme haben, aber keines wieder mit hinausnehmen. Ganz geheuer ists in dem Stübchen nicht, denn immer riechts nach Schwefel, wenn sie drin sind, und fortwährend hört mans dann blasen, als wenn x Blasebälge arbeiteten. Ich denke mir, die Frau Burette hat allerhand Hexenwerk vor. Das denkt auch Herr Bradamanti, der oben im dritten Stock wohnt. O, das ist ein gar gelehrter Herr, dieser Bradamanti! Ein Italiener von Geburt, aber einer, der sich auf alle Kräuter versteht und den Menschen die Zähne auszieht wie das Donnerwetter, auch mit einem Haarwasser handelt, das an jeder Stelle des menschlichen Körpers einen richtigen Pelz hervorzaubert, sobald es, heißt das, genau nach Vorschrift angewandt wird, die nun freilich etwas sehr kompliziert sein soll. Er schneidet auch Hühneraugen und versteht, kranke Magen auszupumpen, und allerhand schöne Künste noch. Seit etwa vier Wochen hat Rotarm ihm seinen lahmen Jungen in die Lehre gegeben, um ihm Zucht und Sitte beizubringen, denn Rotarm hat alles Ernstes Bange, daß der Junge, wenn er ihn weiter so verwildern läßt, noch einmal am Galgen baumelt. Und so unrecht mag er damit wohl auch nicht haben, denn der Junge ist tatsächlich boshaft wie ein Affe und spielt dem ehrlichen Bradamanti manchen Teufelsstreich. Und Bradamanti hat schließlich auch Ursache, den Vorsichtskommissarius zu spielen, denn hin und wieder wird er auch von Mädchen aufgesucht, die unter den Folgen eines zu liebevollen Herzens zu leiden haben . . .«

Die Pförtnersfrau raunte Rudolf ein paar Worte ins Ohr, die ihm ein gewisses Gruseln verursachten . . . »Das sind ja recht garstige Geschichten,« sagte er, »die Sie da erzählen,« und blickte sich entsetzt um, als ob auf dem Hause ein böser Fluch laste . . . »Sind denn solche Schandtaten wirklich möglich?« sagte er halblaut vor sich hin, »und kann ein Mensch dabei so ruhig und gleichgiltig bleiben wie diese alte Frau, wenn sie einem solch gräßliche Dinge mitteilt?« Und wieder gedachte er des Briefes an den Scharlatan, der auf so geringwertiges Papier mit verstellter Hand geschrieben und dessen Adresse zum Teil verwischt war. In den Tränen, die darauf gefallen waren, meinte er den Schlüssel zu einem grausigen Drama zu wittern, und eine Ahnung schien ihm zu sagen, daß die über den Italiener im Umlauf befindlichen schrecklichen Gerüchte des triftigen Grundes nicht entbehrten!


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