Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Zehntes Kapitel.

Schuri und Martial.

Dem Leser wird es nach diesen Szenen begreiflich erscheinen, daß Schuri, als er von dem traurigen Gange seines neuen Freundes nach Bicêtre hörte, wo sich derselbe von Mutter und Schwester verabschieden sollte, es sich nicht nehmen ließ, ihn bis ans Tor zu begleiten und dort in einem Fiaker auf ihn zu warten.

»Mut, mein Lieber!« tröstete er ihn, als er ihn, bleich vor Entsetzen über das dort Erlebte, durch das Tor zurückkommen sah, »Mut! Du hast doch gewiß alles mögliche getan, was ein guter Sohn solcher Mutter gegenüber irgend tun kann. Es stand nicht in deiner Macht, von dem Schicksal, das deine Schwester und Mutter über sich heraufbeschworen haben, das geringste abzuwenden. Jetzt mußt du an deine Frau und deine Geschwister denken, die du daran gehindert hast, in die sündigen Fußstapfen deiner Eltern und deiner anderen Geschwister zu treten. Zudem wenden wir ja schon heute abend Paris den Rücken. Du wirst kaum noch einmal etwas sehen oder hören von alledem, was dich jetzt so in Betrübnis und Kummer setzt.«

»Rede, was du willst, Schuri,« antwortete Martial, »meine Mutter bleibt's doch, und meine Schwester desgleichen.«

»Freilich, freilich; aber es läßt sich doch einmal nichts daran ändern, und in Dinge, die unabänderlich sind, muß man sich fügen. Was bleibt anders übrig? Mit Leichen kann man nun einmal nicht rechnen, und auch nicht rechten.«

»Ja, ja,« versetzte Martial, »es mag dir auch nicht leicht ankommen, mir Trost zuzusprechen, hast du doch selbst Ursache zu Kümmernis mehr denn genug!«

»Na, wenn wir erst mal aus Paris weg sind, dann wird wohl die Betrübnis von mir weichen,« antwortete Schuri.

»Wir hoffen ja ebenfalls, daß alles besser werden wird, wenn wir erst Paris hinter uns haben,« erwiderte Martial.

»Hm,« sagte Schuri, der ein paar Augenblicke geschwiegen hatte, worauf ihn ein unwillkürlicher Schauder überlief, »wenn ich nur erst weg bin!«

»Wir wollen heute abend fahren – du doch auch?« fragte Martial, »oder hast du dich etwa anders besonnen?«

»Ich? Daß ich nicht wüßte,« sagte Schuri.

»Na, was bedeuten dann deine Reden?«

Schuri gab eine Zeitlang keine Antwort; dann raffte er sich gewaltsam auf und sagte:

»Ich will dir etwas sagen, Martial . . . du wirst wohl die Achseln zucken, aber sagen muß ich es nun doch einmal . . . Sollte mir etwas zustoßen, dann wird es dir ein Beweis dafür sein, daß ich mich nicht geirrt habe.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Als Herr Rudolf,« sagte Schuri, »uns fragte, ob wir mitsammen nach Algier gehen möchten, und ob wir dort als Farmnachbarn leben möchten, da habe ich dich und deine Frau nicht täuschen mögen . . . Ich habe euch beiden gesagt, was ich gewesen bin.«

»Reden wir nicht mehr davon!« erwiderte Martial, »du hast deine Strafe verbüßt und bist nun genau soviel wert wie jeder andere Mensch. Daß du aber, wie auch ich, lieber weit weg vom Schusse bist, begreife ich vollständig; denn hier mag es leicht einmal dem oder jenem einfallen, dir mit einem Vorhalte wegen deiner Vergangenheit zu kommen, und so etwas hört man nicht gern . . . Mir kann es wegen meiner Angehörigen genau so gehen, trotzdem ich doch sicherlich nicht verantwortlich gemacht werden kann für das, was jene auf ihrem Kerbholze haben. Zwischen uns beiden ist ja die Vergangenheit begraben. Also mach dir weiter keine Gedanken, wir rechnen drauf, daß du kommst und mitfährst, genau so, wie du auf uns rechnen darfst.«

»Na ja doch,« erwiderte Schuri, »zwischen uns beiden mags ja stimmen; aber wie ich schon zu Herrn Rudolf gesagt habe, dort oben,« – und dabei zeigte er gen Himmel – »dort oben gibts etwas, mit dem wir nicht rechnen können – und ich – Martial – ich habe nun doch einmal einen Menschen um sein Leben gebracht.«

»Das ist ja allerdings eine böse Sache, mein Lieber,« sagte Martial, »aber du bist im Augenblicke der Tat eben auch nicht Herr über dich gewesen, warst vielleicht gar von Sinnen . . . Bei dir liegts aber noch insofern anders – und das bringt doch die Wage bei dir ins Gleichgewicht – du hast andern Menschen wiederum das Leben gerettet –«

»Weißt du, Martial, wenn ich von dem Unglück, das mich betroffen, rede, so habe ich dazu einen ganz besonderen Grund. Sonst plagte mich zuweilen ein gar häßlicher Traum – der Feldwebel erschien mir darin, der, den ich umgebracht habe – lange Zeit bin ich von dem Traume verschont geblieben – gestern ist er aber wiedergekommen.«

»Ach, geh! Das ist doch bloßer Zufall.«

»Ganz sicher nicht. Denn jedesmal wenn ich von dem Feldwebel träume, dann geschieht mir irgend ein Unglück,« antwortete Schuri.

»Aber rede doch nicht, Freund – wer wird sich denn mit solchen Geschichten abgeben?«

»Laß gut sein! Mir sagt ein eigentümliches Gefühl, daß ich Paris wohl nicht verlassen werde.«

»Schwatze doch bloß nicht! Du gehst nicht gern von dem Herrn weg, der dein Wohltäter in so hohem Maße geworden ist, dein Gang mit mir nach Bicêtre hat dir auch den Kopf warm gemacht: da ist's doch eben erklärlich, daß einem solches Zeug mal träumt, besonders wenn man es schon früher dann und wann geträumt hatte.«

Aber Schuri schüttelte den Kopf und legte das Gesicht in bedenkliche Falten . . . »Ich hab' dasselbe geträumt, gerade am Tage vor Herrn Rudolfs Abreise . . . und heute trifft es sich ebenfalls wieder so, daß Traum und Abreise zusammenstimmen.« – »Heute?« fragte Martial. – »Jawohl! Gestern habe ich jemand in seinen Palast geschickt, weil ich nicht selbst hingehen mochte – denn er hatte es mir verboten – der Fürst, hieß es, reise heute vormittag in der elften Stunde ab und werde durch die Charentoner Vorstadt fahren . . . Falls wir rechtzeitig in Paris ankommen, werde ich mich, um ihn noch einmal – gewiß das letzte Mal im Leben – zu sehen, dort aufstellen.«

»Ich begreife freilich, Schuri, daß du dem Herrn sehr anhänglich bist, ist er doch ein gar zu gütiger Herr.«

»Anhänglich?« wiederholte Schuri, tief ergriffen . . . »das ist das richtige Wort schwerlich – wenigstens drückt es nicht halb das aus, was ich empfinde. – Müßte ich auf der Erde liegen bei Schwarzbrot und Wasser, ja müßt ich sein Hund sein, mir wär alles recht – wenn ich bloß in seiner Nähe bleiben dürfte! Aber – er mags nicht – er mags nicht – und daß es nicht sein kann, das geht mir wider den Strich – das kann ich nicht verwinden – nun und nimmer! Verstehst du?«

»Er hat dich auch immer sehr reich bedacht, Schuri – und das spricht doch eben auch mit!«

»Das ist's nicht, was bei mir von Einfluß ist – das nicht! Sondern bloß, weil er zu mir gesagt hat, ich hätte ein Herz im Leibe und auch Ehre . . . Zu einer Zeit, wo ich wild war wie eine Bestie, und wo ich mich selbst als den elendesten Auswurf betrachtet habe, da hat er mir gezeigt, daß noch immer etwas Gutes in mir steckte, weil ich eben Reue nach meiner Strafe fühlte, weil ich mich, ohne zu stehlen, in die schwerste Not gefunden habe, und immer darauf bedacht gewesen bin, mir auf ehrliche Weise meinen Lebensunterhalt zu verdienen, ohne dabei jemand nachzustellen oder übel zu wollen . . . ohne Rücksicht darauf, daß mich alle Welt für einen ausgemachten Spitzbuben gehalten hat . . . und das konnte doch sicher nicht eben ermutigend oder anspornend wirken.«

»Freilich, ein aufmunterndes Wort zur rechten Zeit tut einem von Zeit zu Zeit not und kann Wunder wirken.«

»Nicht wahr, Martial? Nun, mir hat das Herz unter meiner Bluse schier gehämmert, als mir Herr Rudolf solche Worte sagte . . . und seitdem, Martial, seitdem wäre ich für alles, was gut und recht ist, durchs Feuer gegangen . . . Trifft sich solche Gelegenheit, dann wird die Welt ja sehen . . . Und wem verdanke ich es, daß es so gekommen ist? Einzig und allein dem Herrn Rudolf!«

»Gerade weil du tausendmal besser geworden bist, als du warst, gerade darum dürftest du dich nicht mit derlei trüben Gedanken befassen . . . Was du geträumt hast, hat gar nichts zu sagen . . .«

»Nun, wollen sehen, wollen sehen! . . . Absichtlich suche ich Unglück freilich nicht auf, denn ein größeres Unglück, als Herrn Rudolf im Leben nicht wiederzusehen, gibt es für mich nicht, zumal seitdem ich Hoffnung haben durfte, für immer bei ihm zu bleiben . . . Auf meine Art und Weise wäre ich natürlich bereit und zur Stelle gewesen, bin ich ihm doch nicht bloß mit Worten zugetan, sondern mit Leib und Seele . . . Denn sieh, Martial, neben ihm bin ich doch nur ein Wurm; nicht selten aber können doch auch die Kleinsten einem Großen von recht gutem Nutzen sein . . . Sollte solcher Fall einmal eintreten, so möchte ich es mir nie verzeihen, daß er auf mich als Hilfe in der Not nicht zurückgegriffen hat.«

»Wer weiß! Vielleicht sehen Sie ihn doch einmal wieder . . .«

»Glaube das nicht, Martin! Nein, das wird nimmer der Fall sein! Hat er mir nicht schon das Versprechen abgenommen, daß ich niemals den Versuch machen solle, ihn wieder aufzusuchen? Hat er nicht dabei hinzugesetzt, daß ich ihm keinen größeren Gefallen tun könnte? Nun, Martial, ich habs ihm versprochen und muß es nun auch halten, wenn es mir auch noch so schwer ankommt.«

»Bist du erst mal überm Mittelmeere, dann wirst du auch langsam drüber wegkommen lernen, Schuri! Wir werden dort allein und in Ruhe leben, wie ein paar getreue Freunde und gute Nachbarn . . . bis auf die paar Flintenschüsse, die es von Zeit zu Zeit gegen die Araber setzen dürfte . . . Na, dawider haben weder ich noch meine Frau etwas einzuwenden . . . meine Frau hat Mut . . . darum hieß man sie ja hier auch die Wölfin.«

»Mit den Flintenschüssen, Martial,« erwiderte Schuri, seiner Beklommenheit einigermaßen ledig werdend, »dürfte wohl ich mich zumeist zu befassen haben . . . Ich bin nicht verheiratet und bin Soldat gewesen . . .«

»Und ich, Schuri, hab gewildert . . . war sogar ein gefürchteter Wildschütz!« sagte, nicht ohne Stolz, Martial.

»Du hast aber Frau, Bruder und Schwester, und bei den beiden vertrittst du Vaterstelle. Wer nur seine eigene Haut zu Markte trägt, der legt keinen hohen Wert darauf . . . Kommt's also zu Flintenschüssen, dann trete ich ein, verstanden?«

»Nein. Flintenschüsse sind unser beider Sache! davon gehe ich nicht ab – unter keinen Umständen!«

»Donnerwetter, nein! Beduinen scheren dich nicht, sondern einzig und allein mich!«

»Na, wenn du so redest, dann gefällst du mir besser als bisher, hörst du, Freund Schuri? . . . Nun, wir werden beide, wie gesagt, wie ein Paar Brüder leben, und wenn dich die Lust dazu anwandelt, kannst du uns ja dein Herz ausschütten, bis ich mal an die Reihe damit komme; denn mir fehlts auch nicht an Kummer, verlaß dich drauf! Oder meinst du, ich könnte im Leben den heutigen Tag vergessen, der meine Mutter und Schwester auf dem Blutgerüste gesehen hat? Glaub' mir, mir werden ihre beiden Gestalten auch oft genug im Traume erscheinen, wie ich sie gestern zum letzten Male gesehen habe . . . Wir sind einander in zuviel Hinsichten verwandt, Schuri, als daß wir uns zusammen nicht ganz wohl fühlen sollten . . . Keiner von uns beiden wird der Gefahr den Rücken wenden; wir werden eben halb Bauern, halb Soldaten sein . . . An Jagdgründen fehlts drüben in Algier nicht. Warum sollten wir also nicht ein paar Nimrode werden? . . . Willst du für dich allein hausen, so ist dir auch nichts im Wege; wir bleiben trotzdem gute Freunde und getreue Nachbarn. Paßt's dir anders besser, nun, so hausen wir zu dritt oder, die Geschwister mitgerechnet, zu fünft. Dann magst du, wenn es dir recht ist, die beiden Kinder und wenn noch andere kommen, auch die miterziehen helfen, kannst so etwas wie Onkelstelle bei ihnen vertreten, weil wir nun doch einmal Brüder sind . . . Nicht wahr, das leuchtet dir ein?« – Nach diesen Worten reichte Martial dem Kameraden treuherzig die Hand . . .

»Mir soll's so recht sein, lieber Martial,« sagte Schuri, »aber denke daran, daß Gram leicht umbringt – aber – daß es bei mir heißt: entweder er oder ich, auch dem bösen Gesellen Gram gegenüber . . .«

»Na, dir wird er nicht an den Kragen können,« sagte Martial und schien lachen zu wollen; aber es mochte ihm doch nicht recht gelingen; drum setzte er hinzu: »Zwischen uns soll's drüben in Algier heißen: Brüder – durch Rudolfs Gnaden . . . das soll unser Gebet für ihn sein!«

»Bei deinen Worten, Martial, wird's mir in der Tat wohler zumute!« sagte Schuri, und Martial fragte ihn: »Nicht wahr? Und nun denken wir nicht weiter mehr an den schlimmen Traum?«

»Versuchen will ich es ja,« erwiderte Schuri.

»Um vier Uhr also holst du uns ab? Vergiß nicht, daß um fünf schon die Post abgeht.«

»Topp!« antwortete Schuri, »aber sieh da! Wir sind ja gleich in Paris . . . Laß die Droschke halten! Ich will zu Fuß bis zur Charentoner Linie gehen und versuchen, ob ich Herrn Rudolf noch einmal werde sehen können.«

Der Wagen hielt, und Schuri stieg aus . . .

Martial rief ihm noch einmal nach . . . »Also nicht vergessen! Punkt vier!«

Schuri hatte vergessen, daß es der Tag nach Mittfasten war, sonst hätte er sich kaum gewundert über das wunderliche, häßliche Schauspiel, das ihm wurde, als er über einen Teil des äußern Boulevards ging in der Absicht, zur Charentoner Linie zu gelangen.


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