Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Fünfter Teil.

Erstes Kapitel.

Die Milchfrau.

Unter einem Schuppen stand ein Wägelchen, mit einem Esel davor, und drei Kinder waren damit beschäftigt, das geringe Mobiliar abzuladen, das die Bäuerin, die bei Frau Dubreuil ihren Dienst antreten wollte, eben in den Hof gefahren hatte. Die Frau mochte etwa 40 Jahre alt sein und hatte ein grobes Gesicht mit schroffem, resolutem Ausdruck. Sie ging noch in Trauer. Ihr ältester Knabe mochte zwölf Jahre alt sein.

Kaum hatte sie Marien erblickt, als sie einen Schreckensruf ausstieß, mit von Unwillen verzerrten Zügen auf sie zustürzte und die im Hofe beschäftigten Arbeiter mit den Worten aufmerksam machte: »O, das ist ja eine von den Dirnen, die den Mörder meines armen Mannes genau kennen. Ich habe sie wenigstens zwei Dutzend Mal mit ihm zusammen gesehen, kaufte sie doch immer von mir für einen Sou Milch, wenn ich an der Straßenecke vom Weißen Kaninchen hielt. Sie weiß es, wie der Bösewicht heißt, der meinen armen Mann niedergestochen hat, gehört sie doch mit zu der Banditenclique, die in dieser Spelunke ihr Wesen treibt . . . Warte, Balg, mir sollst du nicht entgehen!«

Klara, durch diesen unvermuteten Angriff gegen Marien aufs äußerste verblüfft, war sprachlos. Als aber die Bäuerin immer heftiger und böser wurde, wies sie sie mit den Worten zurecht: »Dir muß der Kummer den Verstand getrübt haben. Wovon du sprichst, läßt sich ja nicht zusammenreimen.« – »Aber ich irre mich doch nicht, liebes Fräulein!« erwiderte trotzig die Frau; »nein! Sehen Sie doch nur, wie bleich das elende Weibsstück geworden ist! Aber warte nur! Die Polizei soll dir die Zunge schon lösen! Und wenn du dir einbildest, daß ich dich laufen lassen werde, so bist du arg auf dem Holzwege. Du kommst nicht aus meinen Händen, und wenn ich dich an den Haaren zur Bürgermeisterei schleifen sollte!«

»Unverschämte Kreatur!« rief da Klara außer sich vor Entrüstung, »geh auf der Stelle deines Weges! Wie kannst du dich unterstehen, meiner armen lieben Freundin, meiner Schwester, solchen Schreck einzujagen?«

»Die Ihre Schwester, gnädiges Fräulein?« rief die Bäuerin und schüttelte den Kopf; »eine Dirne, die ich monatelang in Alt-Paris habe herumlaufen sehen? und Ihre – Schwester?«

Unter den Arbeitern wurde lautes Murren laut, das sich wider Marien richtete. Natürlich stellten sie sich auf die Seite der zu ihrer Klasse gehörigen Bäuerin. Klara aber, der vor diesen Kundgebungen angst wurde, rief den Leuten zu: »Schafft die Frau hinweg! Es kann nicht anders sein, als daß ihr der Gram den Verstand verwirrt hat. Marie, sei ihr nicht böse! Die arme Frau weiß wirklich nicht, was sie spricht.«

Marie stand bleich, stumm, außer stande, ein Glied zu rühren, da und bemühte sich umsonst, sich von den Händen der stämmigen Frau frei zu machen. – »Gut, Fräulein,« sagte diese, »Sie weisen mir die Tür? Nun, dann kommt, ihr armen Waisen, packt alles wieder auf den Wagen, wir wollen uns anderswo Brot suchen, der liebe Gott wird uns schon nicht verlassen. Aber das Frauenzimmer nehmen wir mit zur Bürgermeisterei, denn sie muß uns den Namen des Schurken sagen, der euren Vater umgebracht hat. Kennt sie doch die ganze Bande! Und wenn Sie sich trotz Ihres Reichtums mit solchen Kreaturen befassen, dann,« rief sie hohnlachend, »brauchen Sie wahrlich nicht so hart gegen arme Leute, wie uns, zu sein.«

Eben ging Frau Dubreuil über den Hof, nachdem sie den Pavillon einer Musterung unterzogen hatte . . . »Ach, Mutter,« rief Klara ihr zu, »nimm doch Marien in Schutz gegen die Frau hier« – dabei zeigte sie auf die Bäuerin – »O, wenn du wüßtest, was sie über Marien alles geredet hat!«

»Aber was soll das heißen?« fragte Frau Dubreuil, sich besorgt umschauend, nachdem sie Mariens erschrecktes Gesicht betrachtet hatte. – »Nun, Madame,« sagten die Arbeiter, »Sie werden gewiß das Rechte finden!« – »Liebe Madame,« rief die Witwe, Mariens Arm loslassend, »ich erkenne Ihre Güte gewiß an; aber ehe Sie mich mit meinen Kindern aus dem Hause weisen, nehmen Sie doch die Dirne hier ins Verhör. Sie wirds nicht ableugnen können, daß sie im Weißen Kaninchen als Kellnerin war.« – »Jesus, Marie! Hörst du, was die Frau sagt?« rief Frau Dubreuil in höchster Verwunderung. – »Na, so rede doch! Bist du die Schalldirne oder nicht?« fragte die Milchfrau. – »Ja,« antwortete die Unglückliche leise, ohne die Frau Dubreuil anzusehen, »ja, so hat man mich dort genannt!« –

»Nun also,« riefen die Arbeiter, »wenn sie es gesteht!« – »Na, und nun wird sie auch weiter zugeben, daß sie mit dem Mörder meines armen Mannes oftmals geredet hat. Ich weiß es, daß sie ihn kennt, einen jungen blassen Menschen, der immer die Zigarre im Munde hat, in Bluse und Holzschuhen, mit langem Haar . . . He! Kennst du ihn oder nicht? Gib Antwort, oder ich schüttle dich, daß dir Hören und Sehen vergehen soll!«

»Ich habe in Alt-Paris freilich wohl mit dem Menschen, der Ihren Mann umgebracht hat, hin und wieder einmal reden können; aber wen Sie meinen, weiß ich nicht, gibts doch dort mehr als einen Mörder!« – »Was sagt das Mädchen?« rief Frau Dubreuil entsetzt, »mit Mördern hat sie gesprochen?« – »Mit wem verkehren denn solche Geschöpfe, wie sie eins ist, anders?« sagte die Bäuerin. –

Frau Dubreuil, durch eine so unvermutete Enthüllung, die Mariens letzte Worte bestätigt worden, aufs höchste überrascht, wich mit Abscheu vor ihr zurück und zog Klara mit Gewalt an sich, die ganz trostlos und im höchsten Grade erschrocken war, auch all die Anklagen, die gegen dieses Mädchen von der Bäuerin erhoben wurden, nicht verstand. Mit Tränen in den Augen sah sie die Freundin, stumm, wie eine Verbrecherin vor ihren Richtern, dastehen.

»Komm, meine Tochter, komm!« sagte Frau Dubreuil, »das ist kein Umgang für dich! Aber wie hat sich bloß unsre liebe Frau Georges ihrer annehmen können? . . . Wie hat sie zulassen können, daß meine Tochter . . . Aber nein! Das ist ja geradezu gräßlich! So etwas läßt sich ja gar nicht denken! Sie muß doch aufs erbärmlichste getäuscht worden sein! Wie kannst du es, als ein so verworfenes Geschöpf, wagen, dich mit meiner Tochter auf du und du zu stellen? Ins Gefängnis gehörst du, aber nicht unter ehrliche Leute!«

»Jawohl, ins Gefängnis gehört sie,« riefen die Arbeiter, »denn sie kennt den Mörder!« – »Ist am Ende gar seine Mitschuldige!« riefen andere. – »Siehst du,« schrie die Bäuerin, Marien die Faust unter die Nase haltend, »es gibt doch noch eine Gerechtigkeit!« – »Euch, brave Frau,« sagte Frau Dubreuil zu der Bäuerin, »werde ich nun nicht wegschicken, im Gegenteil! Dankbar werde ich Euch sein für den Dienst, den Ihr mir und meinem Kinde durch die Entlarvung dieses schlechten Geschöpfes geleistet habt!«

Mit diesen Worten ging sie weg und zog Klara hinter sich her. Die Arbeiter machten Miene, Marien zu ergreifen. Schon reckten sich rohe Fäuste nach ihr, um sie zur Bürgermeisterei zu schleppen; da bahnte sich Frau Georges einen Weg durch die Menge . . . »Ihr Bösen! Schämt Ihr Euch nicht, solche Gewalttat gegen ein unglückliches Kind zu verüben!«

»Sie ist doch eine . . .« riefen die Arbeiter. – »Sie ist meine Tochter!« erklärte Frau Georges; »und wenn Ihr wissen wollt, wie es sich um sie verhält, dann fragt unsern lieben Herrn Laporte, den Ihr doch gewiß alle liebt und verehrt! Er schenkt niemand sein Wohlwollen, der es nicht verdient!«

Diese schlichten Worte gingen den Arbeitern sehr zu Herzen, denn Abbé Laporte wurde in der ganzen Gegend fast wie ein Heiliger verehrt. Frau Georges nahm Mariens Arm und wollte mit ihr weggehen, die Arbeiter räumten bereitwillig das Feld, aber die Bäuerin trat einen Schritt vor und sagte resolut zu Frau Georges:

»Ich lasse das Mädchen nicht aus dem Garne, bis sie beim Bürgermeister angegeben hat, wie der Schurke heißt, der meinen armen Mann ermordet hat, und wo er zu finden ist.« – »Liebe Frau,« versetzte Frau Georges, »hier braucht meine Tochter keine Aussage zu machen, und wenn das Gericht sie vernehmen will, wird es meine Tochter schon zu finden wissen. Bis dahin hat jedoch niemand ein Recht, sie zu verhören.«

Wenige Minuten nach diesem Auftritte kam Peter mit dem Wagen, und Frau Georges stieg mit Marien ein, um nach Bouqueval zurückzukehren.


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