Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Fünftes Kapitel.

Das Porträt.

Auf einem der Boulevards in der Nähe des Observatoriums ging Tom Seyton, der Bruder der Gräfin Sarah Mac Gregor, auf und nieder, als er der Eule ansichtig wurde, aus deren Strohtasche die Spitze der Mordwaffe hervorguckte, die bislang Bakel bei sich geführt hatte, und die Seytons Blicke entgangen war . . . »Eben schlägts drei,« sagte sie, »ich komme also pünktlich.« – »Folgen Sie mir!« sagte Seyton und führte sie durch ein ödes Gäßchen unfern der Straße Cassini. An einem Drehkreuze in seiner Mitte blieb er stehen, schloß eine Pforte auf und hieß sie hier warten. Darauf verschwand er. Die Eule ging mit sich zu Rate . . . »Hoffentlich läßt er mich hier nicht zu lange stehen,« sagte sie bei sich, »denn ich muß, um die Mäklerin abzufertigen, mit Martials bei Rotarm sein. Meinen Dolch habe ich ja! Aha! Da guckt sich der Spitzbube um! Geschieht mir schon recht, warum habe ich ihn nicht in der Scheide gelassen! Na, vielleicht kann er mir dieser Mäklerin gegenüber Dienste tun! 30 000 Franks, das war ein feiner Fang heute! Da ist doch ein bißchen mehr abgefallen als bei dem Halunken von Notar, der sich keinen Sou abzwacken ließ . . . Da konnte ich schön drohen: es half alles nichts! Der hatte keine Furcht, als ich ihm sagte, seine Haushälterin hätte mir doch das Mädchen, das jetzt die Schalldirne sei, überantwortet, sondern schalt mich eine Lügnerin und schlug mir die Tür vor der Nase zu . . .« – Sie sah sich scheu um und bemerkte, daß am Ende der Allee eine Dame auftauchte . . . »Aha!« sagte sie, »die bleiche Frau wieder, die mit dem langen schwarzen Duckmäuser im Weißen Kaninchen war . . . Hm, da heißts auf dem Posten sein!«

Die nahende Person war tatsächlich die Gräfin Sarah, auf deren Gesicht all jene Verachtung zum Ausdrucke kam, die von vornehmen Leuten gemeinhin gegen Leute niedrigen Standes empfunden wird, die sie als Werkzeuge oder Mitschuldige nicht entbehren können. Ihr Bruder hatte sich geweigert, die bisherige Rolle weiter zu spielen, und sich bloß dazu noch verstanden, seine Schwester zu diesem Zusammentreffen mit der Eule zu begleiten, lehnte aber jede Beteiligung an den Plänen, die sie neuerdings geschmiedet hatte, entschieden ab. Rudolf wieder an sich zu ziehen dadurch, daß sie die ihm ihrer Meinung nach teuren Bande zerriß, war ihr nicht geglückt. Nun dachte sie, ihren ehrgeizigen Traum so zu verwirklichen, daß sie ihn auf unwürdige Weise hinterging: es sollte ihm eingeredet werden, die ihm von Sarah geborene Tochter sei nicht tot, und eine Waise für ihrer beider Kind ausgegeben werden. Dazu hatte sie Ferrand bestimmen wollen, der sich aber, wie dem Leser bekannt ist, geweigert hatte, ihr dabei zu helfen, statt dessen, und zwar aus Furcht vor der Aussage der Eule einerseits, aus Besorgnis vor dem Ansinnen der Gräfin anderseits, beschlossen hatte, die Schalldirne verschwinden zu lassen. Die Gräfin aber, nach wie vor der Meinung, daß sich Ferrand noch bestechen oder einschüchtern lassen werde, sobald sie ein junges Mädchen gefunden hätte, das zu solcher Rolle sich eigne, hatte ihren Plan keineswegs aufgegeben . . . Sarah eröffnete das Gespräch mit der Eule ohne weiteres durch die Frage, ob sie ihr ein Mädchen nachweisen könne, das von frühester Jugend an verwaist sei, ein hübsches, einnehmendes Gesicht und ein sanftes Gemüt habe, auch nicht über 17 Jahre alt sein dürfe . . . »So etwas wird wohl so leicht nicht zu finden sein,« erwiderte die Eule, die Gräfin verblüfft anstarrend . . . »Man wird sich in den Findelhäusern umsehen müssen . . . »antwortete die Gräfin. – »Es käme auf den Preis an, der sich dabei verdienen ließe,« meinte die Eule . . . »schaut ein ordentliches Stück Geld dabei heraus, dann ließe sich schon darüber reden.« – »Nun, ich zahle Ihnen, was Sie fordern, wenn mir die Person recht ist, die Sie mir zuführen,« versetzte die Gräfin. – »Das läßt sich hören,« sagte schmunzelnd die Eule; »mir fällt gleich ein Mädel ein, das sich eignen könnte – kennen Sie die Schalldirne?« – »Wer ist das?« fragte die Gräfin ihrerseits. – »Die wir aus Bouqueval abgeholt haben,« sagte die Eule. – »Von der kein Wort,« rief die Gräfin zornig, »die bleibt ganz außer Betracht, verstehen Sie?« – »Na, warum denn? Sie paßt doch für Sie, wie gemacht! Wenn sie aus Saint-Lazare entlassen wird, könnten Sie sie, meiner Meinung nach, gar wohl verwenden. Sie ist noch keine 17 Jahre alt, ist hübsch, hat ein zutrauliches Wesen und weiß sich auch zu bewegen . . . Vor zehn Jahren, als sie mir der Schuft Ferrand überantwortete, war sie knapp sechs Jahre alt, und Tournemine, der auf die Galeeren gekommen ist und sie zu mir brachte, hat mir ausdrücklich gesagt, das Mädel sei ganz sicher ein Kind, das beseitigt und für tot erklärt werden solle . . .«

Mit einer so wildbewegten Stimme, daß die Eule unwillkürlich zurückwich, rief die Gräfin: »Was sagen Sie? Jakob Ferrand hat Ihnen das Kind überantwortet?« – »Ja doch, ich sage es ja,« antwortete die Eule, »was regt Sie dabei so auf? Als Tournemine sie mir brachte – es sind gerade zehn Jahre her, – da sagte er: Nimm den Balg! Laß ihn leben oder bring ihn um die Ecke, mir ist's gleich: so oder so, 1000 Franks sind dabei zu verdienen.« – »Vor zehn Jahren, sagen Sie?« – »Ja doch.« – »Es war ein hübsches blondes Mädchen?« – »Jawohl, mit tiefblauen Augen – also eine Rarität als Blondine,« erwiderte die Eule. –

Sarah sank auf die Knie und hob die Hände zum Himmel auf . . . »Gott! O, Gott!« rief sie, »deine Wege sind wahrlich unerforschlich, und ich beuge mich vor deiner Weisheit! O, sollte mir solches Glück noch beschieden sein! Doch nein, nein! Ich kann nicht daran glauben . . . denn ich verdiene nicht, daß es mir zuteil würde!« – Die Eule stand da, wie an die Erde gewurzelt und war kaum imstande, der Gräfin zu folgen, als diese sie jetzt dazu aufforderte.

Sarah ging raschen Schrittes vor ihr her, bis sie das Ende der Allee erreicht hatte, wo ein paar Stufen zur Glastür eines prächtig möblierten Arbeitszimmers führten. Dorthin führte Sarah ihre Begleiterin und riegelte hinter sich die Tür zu, trat zu einem Sekretär, nahm ein Kästchen aus Ebenholz heraus und stellte es auf einen mitten im Zimmer stehenden Tisch. Das Kästchen war bis an den Rand mit Juwelen gefüllt, daß der Eule schier die Augen übergingen. Sarah war so ungeduldig, auf den Boden des Kästchens zu gelangen, daß sie Hals- und Armbänder und Diademe, die von Smaragden, Topasen, Rubinen und Diamanten in allen Farben spielten, auf den Tisch warf . . .

Die Eule dachte an ihren Dolch, sie dachte daran, daß sie allein mit der Frau sei, daß sie leicht und sicher entkommen könne . . . und mit der Schlauheit einer Tigerkatze, die sich aus dem sichern Hinterhalt auf ihre Beute stürzt, nahm sie den Umstand wahr, daß die Gedanken der Gräfin sich auf einen einzigen Gegenstand richteten, schlich sie leise um den Tisch herum, der sie von ihrem Opfer trennte . . . Da aber sah sie sich plötzlich gezwungen, einzuhalten. Die Gräfin nahm aus dem Juwelenkästchen, dessen Inhalt nun vor ihr auf dem Tische lag, ein Medaillon heraus und hielt es der Eule mit zitternder Hand hin . . . »Da! Sehen Sie sich das Bild an!« – »Die Schalldirne!« rief die Eule, überrascht von der Aehnlichkeit, »das ist das Mädchen, das Tournemine mir übergeben hat . . . gewiß, gewiß! Das sind dieselben langen Locken, die ich sogleich vom Kopfe schnitt und zu Gelde machte . . .«

Sarah aber hatte keinen Schrei des Schmerzes und Entsetzens, als sie nun hörte, daß das von ihr geborene Mädchen zehn Jahre lang im tiefsten Elend, in der jämmerlichsten Verlassenheit gelebt hatte. Sie fühlte keine Gewissensbisse darüber, daß sie das Kind von den braven Leuten, denen Rudolf es übergeben, hatte rauben und an Verbrecher gelangen lassen. Nicht darum kümmerte sich Sarah, wie es ihrem Kinde im Elend gegangen war, sondern nur die Hoffnung schwellte ihr Herz, daß sie durch dieses Kind noch den Traum ihres Leben erfüllt sehen würde . . . Schon sah sie die Fürstenkrone auf ihrem Haupte glänzen . . . Nur der Ehrgeiz allein beseelte sie, die Mutterliebe war längst in ihr erstickt!

Die Eule, näher und näher schleichend, war bis an den Tisch herangekommen und stand nur noch wenige Schritte von der Gräfin, die sich jetzt setzte und nach einer Feder griff . . . Die Augen der Eule funkelten. Die Gräfin setzte zum Schreiben an . . . »Ich erkläre, daß . . .« Aber sie setzte ab, drehte sich nach der Eule um, die bereits den Griff ihres Dolches gefaßt hatte, und fragte: »Wann wurde Ihnen das Kind übergeben?« – »Im Januar 1827.« – »Und durch wen?« – »Durch Pierre Tournemine, zurzeit im Bagno von Rochefort interniert.« – »Und von wem war es dem Manne übergeben worden?« – »Von einer Frau Seraphim, Wirtschafterin des Notars Jakob Ferrand.«

Die Gräfin schrieb weiter: ». . . daß mir im Februar 1827 durch den jetzt in Rochefort internierten Pierre Tournemine ein Kind übergeben wurde, im Auftrage der Wirtschafterin des . . .«

Weiter aber kam die Gräfin nicht, die Eule hatte ihren Handkorb langsam zur Erde gleiten lassen, hatte die Gräfin mit der linken Hand am Nacken gepackt, hatte sie mit dem Gesicht platt auf den Tisch gedrückt und mit der rechten Hand ihr den Dolch zwischen die Schultern gestoßen . . .

Dieses grausige Verbrechen war so schnell verübt worden, daß das unglückliche Opfer weder einen Schrei ausstieß, noch auch nur einen Laut von sich gab . . . Mit dem Kopfe über den Tisch gebeugt, blieb sie sitzen . . . die Feder entsank ihrer Hand . . . »Wieder eine, die nichts mehr aussagen wird,« flüsterte das schreckliche Weib vor sich hin . . . »wieder eine, die ihre Rechnung abgeschlossen hat!« Sie raffte die Juwelen zusammen, warf sie in ihren Handkorb und ging, ohne sich von dem wirklichen Tode ihres Opfers zu überzeugen, zur Glastür hinaus und die Allee hinunter, nahm bei der Sternwarte eine Droschke und ließ sich auf die elysäischen Felder zu Rotarm fahren.

Seit Bradamantis Reise in die Normandie zum Grafen von Orbigny war der lahme Junge Rotarms wieder in dessen Schenke zum blutenden Herzen. Er stand Wache an der oberen Stiege, um Martials, die noch nicht eingetroffen waren, durch ein verabredetes Signal davon in Kenntnis zu setzen, daß sein Vater nicht allein sei, sondern daß Narziß Borel – derselbe Polizist, den der Leser schon im Weißen Kaninchen kennen gelernt hat, als er die beiden Mörder verhaftete – sich in der Schänke befände.

Borel war ein kräftiger Mann von annähernd vierzig Jahren, mit frischem glattrasiertem Gesicht und listig funkelnden Augen. Zwischen ihm und Rotarm ging es ziemlich scharf her . . . »Wir haben Sie im Verdacht, Rotarm,« sagte Borel, »daß Sie uns nur an der Nase herumführen, um desto sicherer im trüben fischen zu können. Aber wenn sich das als Tatsache herausstellt, dann haben Sie keinerlei Schonung zu erwarten. Das wollen Sie sich vor Augen halten.« – »Woher das Mißtrauen? Habe ich der Polizei nicht eben erst den Ambroise Martial, einen der schlimmsten Verbrecher von Paris, in die Hände geliefert?« – »Aber Ambroise Martial war ebenso gewarnt, wie wir unterrichtet worden, und wäre ich nicht so klug gewesen, eine Stunde vor der anberaumten Zeit den Vogel auszunehmen, wäre er uns doch sicher entwischt.« – »Herr Borel, Sie werden mich doch nicht solches Doppelspiels zeihen wollen?« rief Rotarm in heller Entrüstung. – »Nun, Rotarm, daß Sie uns alle Tage einen Fang versprechen, aber Ihr Versprechen nie halten, das habe ich nun schon gemerkt. Und die Geduld reißt zuletzt auch mir . . . verstehen Sie?« – »Nur ein wenig Geduld noch, lieber Herr Borel, und ich werde Ihnen auch die anderen Glieder des Stammes Martial überliefern,« erwiderte Rotarm, »vielleicht auch die Eule mit drein geben . . . Dann wäre doch wohl alles Mißtrauen gegen mich aus der Welt?« – »Sie wollen also nicht gelten lassen, daß Sie das Gelichter zu dem neuen Verbrechen, an dem es arbeitet, angestiftet haben?« – »Wahrhaftig nicht! Die Eule kam her und schlug mir vor, die Mäklerin hierher zu locken; sie hätte durch meinen lahmen Jungen in Erfahrung gebracht, daß der Steinschneider Morel nur immer echte Steine verarbeite, und daß die Frau also immer sehr bedeutende Werte in ihrem Strickbeutel trüge . . . Ich hab mich drauf eingelassen, riet aber der Eule, die Martials bei der Sache hinzuzuziehen und auch Barbillon, weil ich die Absicht hatte, Ihnen bei dieser Gelegenheit die ganze Bande in die Hände zu spielen.« – »Und von Bakel, wie er in euren Kreisen heißt, von dem gefährlichen Kerl, der immer mit der Eule zusammen steckt, haben Sie nichts gehört?« – »Gar nichts,« versetzte dreist der Schenkwirt, der seine guten Gründe zu dieser Lüge hatte, war doch Bakel zurzeit gerade in einem seiner Keller eingesperrt. – »Es herrscht die Gewißheit, daß der Kerl neue Mordtaten auf seinem Gewissen hat . . . Gelänge dieser Fang . . .« – »Wir wissen seit Wochen nicht, was aus ihm geworden ist,« erklärte Rotarm. – »Es wird Ihnen sehr übel angerechnet, daß Sie sich von seiner Fährte haben abbringen lassen!« erwiderte Borel, »und weiter: In der Rue du Temple Nr. 17 wohnt eine Frau Burette, Pfandleiherin, die Ihre Hehlerin sein soll?« – »Wer hat Ihnen denn diesen Floh ins Ohr gesetzt, Herr Borel?« rief Rotarm in heller Entrüstung, »warum nehmen Sie bei dem Weibe keine Haussuchung vor?« – »Nun, den Grund kennen Sie, Rotarm, denn täten wir es, so möchten wir die Vögel verscheuchen, die Sie uns schon lange auf die Leimrute liefern wollten!« – »Es wird vielleicht keine Stunde mehr dauern, dann ist Ihnen der Fang sicher, Herr Borel,« sagte Rotarm, »und es wird keine sonderliche Mühe machen, denn es sind drei Weiber dabei. Immerhin dürfte es geraten sein, ein paar Leute in Bereitschaft zu halten, denn gerade die Feigsten werden zuweilen zu Hyänen, wenn sie merken, daß es Ihnen an den Kragen geht.« –


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