Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Drittes Kapitel.

Das Experiment.

»Lieber Morel,« redete der Arzt ihn nun an, »ich dächte, Sie hätten nun genug gearbeitet! Wie lange solls denn noch dauern, bis Sie das Geld beisammen haben wollen? . . . Sie vergessen ja ganz, zu rechnen! In acht Wochen haben Sie ja oft genug soviel Geld zusammengebracht. Nicht wahr? Na, sehen Sie, diesmal hat es sich auch wieder gemacht. Da haben Sie die dreizehnhundert Franks, die Sie brauchen, um Ihre Tochter Luise zu retten . . . Der Juwelier hat sie eben hergeschickt und läßt Ihnen dabei sagen, Sie möchten nun einmal acht Tage Rast machen, denn so fleißig wie Sie könnte kein Mensch, ohne seiner Gesundheit zu schaden, arbeiten!«

Der Arzt zählte Morel die dreizehnhundert Franks auf den Tisch.

»O, dann ist mein Kind gerettet!« rief Morel, gierig das Geld einstreichend, »aber nun muß ich auf der Stelle zu dem Notar rennen, damit ich mit dem Gelde nicht etwa zu spät komme, denn der Mann hat nie Rücksicht, nie Schonung gekannt.« Er sprang auf und rannte auf die Tür zu . . .

Da rief der Doktor laut: »Herein!« Er war in der gespanntesten Erwartung, da von dem ersten Eindrucke, den der Steinschneider hatte, dessen Heilung abhängig sein konnte . . . Kaum war das Wort über seine Lippen, als auch die Tür aufging, zu der Morel hinausrennen wollte, und Luise auf die Schwelle trat.

Ganz verblüfft fuhr Morel zurück und ließ das Geld aus den Händen auf die Dielen rollen. Ein paar Sekunden gaffte er Luisen an, denn er hatte sie noch immer nicht erkannt, schien sich aber zu bemühen, Licht in sein Gedächtnis zu bringen. Langsam trat er ihr dann näher, betrachtete sie aber noch immer mit Scheu und offenkundiger Unruhe, während Luise, zitternd vor Erregung, kaum die Tränen zurückhalten konnte. Der Arzt, aufmerksam alle Bewegungen im Gesichte des Kranken verfolgend, winkte ihr, sich noch ruhig zu verhalten.

Da beugte sich Morel zu seiner Tochter, fing an, bleich zu werden, fuhr sich mit beiden Händen über die von Schweiß triefende Stirn und machte einen Versuch, sie anzusprechen. Aber die Stimme erstarb ihm auf den Lippen, seine Blässe nahm zu, er gaffte sie wie versteinert an, dann blickte er sich scheu um, wie aus einem Traume erwachend . . .

»Gut so, gut!« sagte der Arzt leise zu Luisen, »das ist ein recht gutes Zeichen! Wenn ich nun wieder Herein sage, dann sinken Sie ihm in die Arme und nennen Sie ihn Vater!«

Morel legte die Hände wieder über der Brust zusammen, begaffte sich von Kopf bis zu Füßen, wie wenn er sich überzeugen wollte, daß er es auch wirklich noch sei, auf sein Gesicht trat eine peinvolle Unsicherheit, statt die Augen auf seine Tochter zu richten, schien er sich ihren Blicken vielmehr entziehen zu wollen, endlich aber hub er mit leiser Stimme zu sagen an:

»Nein! Nein! Kein Traum! Oder doch ein Traum? Wo bin ich? – Nicht möglich! – Es ist doch ein Traum! Denn sie – sie ist es nicht!« – Und als seine Blicke auf die über die Dielen rollenden Geldstücke fielen, fuhr er fort: »Und dieses Gold – ich besinne mich nicht – Aber – bin ich wach oder nicht? – Mir geht alles im Kreise herum – ich getraue mich nicht, hinzusehen – Ich schäme mich – das ist doch meine Luise nicht!«

Da rief der Doktor zum andern Male Herein! – Und Luise sagte, tief ergriffen, während ihr die Tränen über die Wangen rannen, und dem Vater in die Arme sinkend, als eben ihre Mutter, Lachtaube, Frau Georges, Germain und Herr und Frau Pipelet hereintraten: »Aber, Vater, so erkenne mich doch! Ich bin ja deine Luise, deine Tochter!«

»Herrgott!« rief Morel, während Luise ihn mit den Armen umschlungen hielt, »wo bin ich denn eigentlich? Was will man von mir? Was ist vorgegangen? Das kann ja kein Mensch für möglich halten! Das kann ich unmöglich glauben!«

Nach einer Pause nahm er Luisens Kopf zwischen die Hände und blickte sie unverwandt an. Dann rief er, während seine Brust sich höher und höher hob: »Luise!« – Der Doktor aber sagte mit zuversichtlicher Betonung: »Er ist gerettet! Er ist gerettet!« –

Jetzt trat auch Morels Frau vor ihn hin und redete ihn an: »Mein lieber, lieber Mann! Mein lieber, armer Mann!«

Morel aber erwiderte: »Ja, das ist meine Frau! Und nun erkenne ich auch mein Kind, meine Luise!«

Da rief Lachtaube lustig: »Na, und mich, lieber Herr Morel, mich werden Sie doch auch erkennen? Sehen Sie doch nur: Sind nicht all Ihre Freunde da?«

Da nahm auch Germain das Wort: »Ja, sehen Sie doch nur recht, Herr Morel! Es sind all Ihre guten Freunde gekommen, Ihnen wieder einmal recht herzlich guten Tag zu sagen!«

»O, sehe ich denn recht?« rief jetzt Morel, die Hände über den Kopf schlagend, »das ist doch das liebe Fräulein Lachtaube! Und der junge Mann dort ist doch kein anderer als Herr Germain!« Auf seinem Gesichte prägte sich aber ein solches Staunen aus, daß alle fast wieder erschrocken wären. Nur der Doktor winkte beruhigend, er wußte, daß Morels Verstand jetzt unversehrt bleiben werde, nachdem die schwere Krisis überwunden war.

»Ach, und uns dürfen Sie doch nicht vergessen!« sagte jetzt Anastasia, die nun mit Alfred hinzutrat, »uns alte Bekannte aus der Pförtnerstube werden Sie doch sicher noch nicht vergessen haben! Pipelet und seine Frau? Wie? Wir sind und bleiben Freunde auf Leben und Tod,« setzte sie lachend hinzu, »sagen Sie kein Wort, mein lieber Morel, sondern freuen Sie sich mit uns über den schönen Tag, den uns der liebe Herrgott alle mitsammen erleben läßt!«

»Pipelet? Alfred und seine Frau bei mir?« stammelte Morel, noch immer nicht ganz Herr seiner Stimme, »soviel Menschen hier beisammen, um mich zu begrüßen? Das ist mir aber doch nicht mehr passiert, seit ich denken kann! – Aber, aber – du bist es doch, Luise? Bists doch wirklich?«

»Jawohl, mein armer Vater, ich bins,« erwiderte Luise, »und da ist auch die Mutter, und dort deine guten alten Bekannten – und von uns allen wird keiner dich mehr im Stiche lassen, sondern wir wollen alle, alle recht glücklich und fröhlich zusammen sein.«

»Glücklich?« wiederholte Morel, »aber wartet! Da muß ich mich erst besinnen . . . Ist es mir doch, als hätte man dich ins Stockhaus abführen wollen? Luise – wie verhält es sich damit?«

»Du hast recht, Vater,« antwortete Luise, »man hatte mich ins Gefängnis abgeführt, und das hatte dir so schrecklich, schrecklich leid getan! Aber, Vater, man hat mich freisprechen müssen, und so bin ich wieder freigelassen worden, und niemand, niemand kann deiner Luise etwas nachreden.«

»O, ich besinne mich jetzt weiter,« sagte Morel wieder, »es war doch noch ein Mann dabei im Spiele . . . Ja, richtig, ein Advokat, ein Notar, Ferrand hieß er, jetzt weiß ich es – was ist mit ihm?«

»Vater, der böse Mensch ist von seinem Schicksal ereilt worden: er ist tot, schon seit Wochen tot.«

»Der tot?« fragte Morel, »ist's auch wahr, Kind? O, wenns wahr ist, dann – dann können wir glücklich sein, oder zum wenigsten noch einmal glücklich werden – er war ein gar böser, böser Mensch!« – Dann schwieg er eine Weile. Dann rief er plötzlich: »Aber wo stecke ich denn eigentlich? Das ist doch die Wohnung nicht, in der ich mit euch zusammen gehaust habe?«

»Nein, freilich ist's nicht Ihre Wohnung,« entgegnete der Arzt, nun wieder das Wort nehmend, »aber Sie waren gefährlich krank geworden, und da war es notwendig, Ihnen einen Aufenthalt auf dem Lande vorzuschreiben . . . Darum sind Sie hier! Sie litten an einem hitzigen Fieber und redeten irre.«

»Richtig! Auf das letztere besinne ich mich!« antwortete Morel, »das war jedoch vor meiner Krankheit. Ich redete gerade mit meiner Tochter . . . und . . . wer war es denn noch? Es war doch noch jemand da . . . wer war das gleich? . . . O, jetzt fällts mir ein: ein sehr edler Herr wars, ein Herr namens Rudolf . . . der verhinderte, daß man mich verhaftete . . . Was aber von da ab vorgegangen, weiß ich nicht mehr . . . Nein, auf alles Weitere kann ich mich nicht mehr besinnen.«

»Das erklärt sich leicht,« antwortete der Doktor, »es war Ihnen eben das Gedächtnis geschwunden, aber der Anblick Ihrer Tochter, Ihrer Frau und Ihrer alten Bekannten hat Ihnen die Besinnung wiedergegeben.«

»Aber bei wem bin ich denn jetzt? Wem gehört denn dieses Haus, worin ich mich jetzt befinde?«

»Sie wohnen bei einem guten Freunde des Herrn Rudolf, von dem Sie eben sprachen,« erwiderte Germain schnell; »in der Annahme, daß Ihnen eine Luftveränderung gut tun werde, hat man Sie hierher gebracht.«

Daß er irrsinnig gewesen, darauf besann sich – wie das ja vielfach bei Geisteskranken der Fall ist – Morel nicht im geringsten . . . Was soll ich nun weiter noch berichten? Nur kurze Zeit noch währte es, dann stieg Morel, geführt von seiner Frau und seiner Tochter, in Begleitung eines Assistenzarztes, den Doktor Herbin aus Fürsorge mit nach Paris schickte, in einen Fiaker und verließ Bicêtre, ohne die geringste Ahnung davon, daß er wochenlang in der Abteilung für Geisteskranke zugebracht hatte . . .


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