Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Viertes Kapitel.

Im Spital

Marienblume war, wie dem Leser erinnerlich sein wird, nach ihrer Errettung durch die Wölfin in das Landhaus des Doktor Griffon gebracht worden, der im städtischen Bürgerspitale angestellt und ein sehr gelehrter Herr war, im Kreise seiner Kollegen als ein »Fürst der Wissenschaft« galt und diesen Ruf der neuen Richtung, die er vertrat, der Vivisektion, zu verdanken hatte. Ihm war jede Kranke nichts anderes als ein »Versuchsobjekt«, neue Heilmethoden und Heilmittel zu erproben. Um zur richtigen Erkenntnis über Wert oder Unwert derselben zu gelangen; um den Uebergang von einer alten zu einer neuen Kurweise zu ermitteln, pflegte er eine bestimmte Anzahl von Kranken in Behandlung zu nehmen zur Hälfte nach der bisherigen, zur Hälfte nach der neuersonnenen Weise; dann stellte er fest, wieviel nach der einen, wieviel nach der andern geheilt und »draufgegangen« waren; das Verfahren, das die Minderheit von Todesfällen aufwies, bekam den Vorzug und wurde im Spitale eingeführt.

Führen wir nun den Leser in den großen Saal des Krankenhauses, der ein im höchsten Grade betrübendes Bild bot. Längs der großen, düstern Mauern, in denen sich hier und da wie in einem Stockhause vergitterte Fenster befinden, stehen zwei Reihen Betten, die durch eine an der Decke hängende Lampe matt erhellt werden. Es herrscht eine so unreine, mit allerhand Krankheitsmiasmen angefüllte Luft, daß neue Patienten gemeinhin erst eine Art Staupe durchmachen müssen, bis sie sich an den Aufenthalt gewöhnen. Das typische Zeichen für den Aufenthalt ist eine fahle Blässe.

Die nächtliche Stille wird häufig durch Aechzen, Wehklagen, schwere Seufzer oder banges Gestöhn unterbrochen. Tritt einmal völlige Stille ein, so hört man noch immer die eintönigen, taktmäßigen Schwingungen der Uhrenpendel, die die für schlaflose Kranke so entsetzlich langsam hinschleichende Zeit verkünden.

Unter den Frauen, die in diesem Saale weilen, befand sich die Tochter jener unglücklichen Frau von Fermont, die durch die Schlechtigkeit und Habsucht des Notars Ferrand um ihr ganzes Vermögen gekommen war.

Klara, die schon fast eine Woche im Spitale lag, zeigte trotz der von ihrer Krankheit – schleichendes nervöses Fieber – angerichteten Verheerungen in ihrem holden Antlitz noch immer die Spuren seltener Schönheit. Sie hatte die Nacht in heftigen Schmerzen zugebracht und war eben in einen leichten Schlummer gesunken, als Doktor Griffon zu ihrem Bette trat, begriffen auf seinem Inspektionsgange, bei dem ihn nicht bloß seine Assistenzärzte, sondern auch ein Gefolge von Studenten der Medizin zu begleiten pflegten.

Aber das dadurch hervorgerufene Geräusch hatte Klara nicht geweckt. Erst als Doktor Griffon sie leicht an der Achsel berührte, fuhr sie auf, nicht wenig erschrocken, die vielen Männer um ihr Bett herumstehen zu sehen, darunter nicht wenige in noch recht jugendlichem Alter. All ihre Kräfte in einen einzigen Angst- und Schreckensruf zusammenfassend, stöhnte sie: »Mutter, Hilfe! Hilfe, Mutter, Hilfe!«

Da ging die Tür des Saales auf, und eine tief in Schwarz gekleidete Dame trat in Begleitung des Spitaldirektors und eines älteren Herrn über die Schwelle. Die Dame war keine andere als die Marquise von Harville, der Herr der Graf von Saint-Remy.

»Ich bitte Sie dringend,« sagte Frau von Harville, »geleiten Sie mich zu dem Fräulein von Fermont.« – »Fräulein von Fermont,« versetzte der Direktor, »befindet sich im Bett Nummer 17 dieses Saales.« – »O, über das unglückliche Kind,« rief Frau von Harville, vom tiefsten Schmerze ergriffen, »daß ich sie hier finden muß, ist geradezu gräßlich.«

Als die Marquise, dem Direktor auf dem Fuße folgend, sich der Männergruppe näherte, die das Bett der jungen Dulderin umstand, drängte der Graf von Saint-Remy sich zu Doktor Griffon und sprach im lebhaftesten Unwillen: »Sie werden das arme Kind ums Leben bringen, denn was Sie jetzt vorhaben, ist ja geradezu ein Mord an ihm!« – »Aber, lieber Saint-Remy, so lassen Sie sich doch sagen . . .« – »Und ich wiederhole, daß Ihr Verhalten grausam im höchsten Maße ist! Frau von Fermont gilt mir als meine Tochter, und ich verbiete Ihnen, sich ihr zu nähern. Wenn Sie auf Ihrem Willen bestehen, so werde ich Sorge tragen, daß sie auf der Stelle aus dem Saale getragen wird.«

»Aber, mein lieber Freund, so lassen Sie sich doch belehren! Das Fräulein ist an einem schleichenden Fieber erkrankt. Ich wollte die Gelegenheit nicht ungenützt vorbeigehen lassen, sondern an ihr ein neues Heilmittel, Phosphor, versuchen. Sie dürfen mir hierin unter keinen Umständen entgegen sein, denn Sie entziehen unserer ärztlichen Wissenschaft eines der interessantesten Versuchsobjekte.«

»Wären Sie kein faktischer Narr,« entgegnete Saint-Remy, »so würde ich Sie als den ärgsten Barbaren dieses Jahrhunderts betrachten.«

Clemence hörte diesen Disput zwischen den beiden Männern mit wachsender Unruhe an; aber die jungen Studenten standen in so dichtgedrängter Schar um das Bett der Patientin herum, daß der Spitaldirektor sich gezwungen sah, mit lauter Stimme zu sagen: »Platz, meine Herren, Platz für die gnädige Frau Marquise von Harville, die sich herbemüht hat, um unserer Nummer Siebzehn einen Besuch zu machen.«

Infolge dieser Aufforderung traten sämtliche Herren respektvoll zurück . . .

»Herr Direktor,« wandte Graf von Saint-Remy sich an diesen, »die Dame wird von Gott hierher gewiesen! Gleich mir, hat sie innigsten Anteil an dem Geschick des jungen Mädchens und seiner Mutter genommen. Mir wollte es indessen nicht gelingen, über den Verbleib der beiden unglücklichen Personen etwas zu ermitteln. Sie war glücklicher in dieser Hinsicht, denn sie hat sie gefunden und gerade noch rechtzeitig, um einen der unerhörtesten Auftritte von Barbarei zu verhindern. Meine Herren, ich beschwöre Sie, sich zu entfernen,« wandte er sich an die Begleiter Doktor Griffons, »nicht wenige von Ihnen werden eine Schwester haben. Denken Sie sich diese an die Stelle dieses armen Kindes von sechzehn Jahren, und Sie werden von keinem geringeren Abscheu erfüllt werden als ich . . . Sobald Fräulein von Fermont wieder zu klarem Bewußtsein gelangt ist, werde ich Sorge tragen, daß sie aus dem Spitale gebracht wird, wie ich schon Ihrem Herrn und Meister zu sagen die Ehre hatte.« –

»Ich will mich nicht dawider auflehnen,« antwortete Doktor Griffon, »aber ich bedinge mir aus, sie in Behandlung zu behalten, denn sie leidet an einem Fieber, über das wir Aerzte noch immer im Dunkeln tappen. Ich leide unter keinen Umständen, daß mir solches wertvolle Objekt unter den Händen verschwindet.«

»Geht Ihnen denn die Wissenschaft wirklich über alles?« rief der Graf, »so daß Sie der strengsten Humanitätsgesetze abwendig werden können?«

»Aber, lieber Graf,« erwiderte Doktor Griffon, »was soll denn aus der ganzen Heilwissenschaft werden, wenn wir keine Experimente mehr machen sollen? . . . Wo bildet anders sich der Arzt als am Krankenbett? Sie versprechen mir also, mich nicht um mein schleichendes Fieber zu bringen?«

»Unter der Bedingung, Doktor,« antwortete Saint-Remy, »daß das Mädchen transportabel ist.« – »O, ganz gewiß ist das der Fall.« – »Nun, dann entfernen Sie sich mit Ihren Herren!«

»Meine Herren,« wandte sich der Doktor zu seinen Jüngern, »so leid es mir tut, Sie um ein geradezu vorzügliches Studienobjekt zu verkürzen, kann ich doch zu meinem Leidwesen nichts daran ändernd. Ich behalte mir aber vor, Sie über den Verlauf der Krankheit regelmäßig zu unterrichten.«

Nach diesen Worten setzte Doktor Griffon an der Spitze seines Gefolges seinen Inspektionsgang fort und ließ den Grafen von Saint-Remy mit der Marquise von Harville allein zurück bei Fräulein Klara von Fermont.


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