Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Fünftes Kapitel.

Armut

In der ärmlich eingerichteten Dachstube des Hauses Rue du Temple Nr. 47, die von einem durch zwei Holzspäne auf einem viereckigen Brettchen gehaltenen Talglichte spärlich erhellt wird, saß an dem viereckigen, plump gearbeiteten, von Fett und Talg bedeckten Arbeitstische der Steinschneider Morel, vor sich eine Handvoll Diamanten und Rubinen von bewunderungswürdiger Größe und seltenem Glanze. In der Stube ist es bitterkalt. Den Mann hat Schwäche befallen. Von Zeit zu Zeit schüttelt ihn ein heftiger Schauder. – Sieben Personen hausen in dem kleinen Raume. Eine kranke Frau mit ihrer achtzig Jahre alten, in Blödigkeit versunkenen Mutter und fünf Kindern, von denen das älteste kaum zwölf Jahre alt ist. Auf einem Strohsack liegen Mädchen und Knaben zusammen, mit ärmlichen Lumpen auf dem Leibe.

Morels Frau Magdalene ist 36 Jahre alt, hat ein vergälltes, gelbes Gesicht, das durch ein blaues Tuch, das sie um die Stirn geschlungen hat, noch mehr verunschönt wird. Ihr Gesichtsausdruck ist matt und kraftlos, er verrät, daß Magdalene zu jenen weichlichen Naturen gehört, die den Kampf scheuen und sich lieber in alles fügen, statt sich zusammenzuraffen. Ueber ein grobes, zerrissenes Betttuch, mit dem er die Frau zugedeckt, hatte er noch ein paar Kleidungsstücke gelegt, die so alt und geflickt waren, daß kein Pfandleiher sie hätte nehmen mögen. Auf diese schreckliche Armut wirft das Talglicht seinen flackernden Schein. Durch die Dachritzen pfeift der Wind. Mit unwillkürlicher Angst heften sich die Augen all dieser armen Menschen, von der blöden Großmutter bis zum jüngsten Kinde herab, auf den Steinschneider, ihre einzige Hoffnung, ihre einzige Hilfe. In ihrer Selbstsucht sehen sie ihn als Ursache ihrer Not an, da er nicht mehr Kraft genug hat, für sie zu arbeiten. Die Kranke klagt über Durst. Morel fährt aus dem Schlummer und blickt zu ihr hin.

Er ist ein Mann von vierzig Jahren, mit einem offnen, klugen, aber durch Not und Trübsal abgezehrten Gesicht, das von einem grauen, struppigen Barte, der schon seit Wochen kein Messer gesehen, überwuchert ist. Er hat als Kind die Blattern gehabt, wovon noch Narben über Narben zeugen. Seine kahle Stirn ist von Runzeln gefaltet, seine Augenlider sind durch übermäßiges Wachen gerötet. Sein rechter Arm zeigt als Folge der fortwährenden Drehung des Schleifsteins eine starke Entwicklung der Muskeln, während sein linker Arm und seine linke Hand stark abgezehrt und kraftlos sind, haben sie doch immer nur die Facetten der Diamanten am Schleifsteine zu halten gehabt.

»Warte, Frau,« sagt er, »ich will dir was zu trinken bringen!« Er ging zum Dache hin, goß aus dem dort stehenden Kruge, nachdem er die Eiskruste gelöst, von dem kalten Wasser eine Tasse voll und reichte sie der Frau, die gierig die Hände danach ausstreckte. Aber er schien sich zu besinnen und sagte nach einer Weile: »Nein, Frau, es könnte dir schaden, bei deinem Fieber . . . wir wollen es erst ein bißchen abstehen lassen.« – »Mir schaden?« wiederholte die Frau verbittert, »das wäre ja nur gut, denn um so schneller gehts zu Ende und befreit dich von meiner Last. Es bleiben dir dann bloß die Kinder noch, denn die Mutter kanns ja doch auch nicht mehr lange machen.«

»Wozu solche Worte, Magdalene?« erwiderte Morel dumpf, »ich verdiene sie doch wahrlich nicht! Was ich wohl erwarten darf, ist, daß du mir keinen Schmerz bereitest. Laß mich doch nicht auch noch den Kopf verlieren! Was soll denn aus euch werden, wenn ich nicht mehr sollte arbeiten können? Wäre ich für mich allein, dann machte ich mir keine Sorge, sondern lieber allem ein Ende.« – »Wie kann ich einem so guten Manne, wie dir, noch harte Worte sagen?« – »Du bist ja krank, Frau, und das macht dich verdrossen. Sage mir alles, was du willst, bloß nicht, daß ich von dir erlöst sein wolle.« – »Aber wozu nütze ich dir, lieber Mann?« – »Lassen wir all die Betrachtungen, Frau,« antwortete Morel, »ich will suchen, mich für die Kinder zu erhalten; da, trink, aber nimm nur kleine Schlucke, denn das Wasser ist noch sehr kalt.«

Die Frau nahm die Tasse und trank sie gierig auf einen Zug aus . . . »Ja, Morel,« sagte sie, »du hast recht. daß Wasser ist recht kalt, recht kalt!« – »Ich habe es dir ja gesagt, du bist krank, Frau . . .« – Der Mann zog die Jacke aus und deckte sie der Frau noch auf die Füße. Nun stand er nackt und bloß da, denn er hatte kein Hemd auf dem Leibe . . . »Mann,« sagte die Frau, »du wirst dich erkälten.« – »Nicht doch,« sagte er, »frierts mich, dann ziehe ich die Jacke eben wieder an.« – »Mann, Mann!« wehklagte die Frau, »warum sind wir nur so tief unglücklich und bitterarm? Womit haben wir das verdient?« – »Laß nur gut sein, Frau,« erwiderte er, »es hat ein jedes seine Not und Plage, die Hohen sowohl als die Niedrigen . . .« – »Die gute Mamsell Lachtaube,« wehklagte die Frau, »die schon so oft bei uns gewacht hat, hat gestern zwei Kinder mit zu sich hinüber zum Essen genommen.« – »Das gute, liebe Ding!« rief der Mann, »ja, auch sie kennt die Not, und wie ich immer sage: Wenn nur die reichen Leute wüßten!« – »Was es nur mit der Dame gestern für ein Bewenden hatte, Mann?« fragte die Frau matt. »Sie kam doch so verstört und erschrocken herein. Wozu hat sie gefragt, ob es uns an etwas fehle, wenn sie sich nicht um uns kümmert? Sie muß es doch gesehen haben, woran es uns fehlt! An allem, dächte ich, und doch hat sie nichts von sich hören lassen!« – »Sie sah ja so sanft und lieb aus, wenn sie auch recht aufgeregt war, und kommt doch vielleicht noch wieder.« – »Sage mal, Mann, wann wollte die Mathieu die Steine wieder abholen?« – »Heute morgen. Sie hat mir zehn Rheinkiesel zu schleifen gegeben, die sie für echt ausgeben will, und auf die ich deshalb besondere Sorgfalt verwenden muß. Juwelier Baudouin ist von einer Herzogin mit dem Verkauf ihrer Brillanten betraut worden und will sich mit unechten Steinen behelfen. Die Mathieu besorgt doch für Baudouin alle diese Geschäfte und läßt noch bei vier andern schleifen. Natürlich braucht er auch Zeit, die falschen Steine zu fassen.« – »Und wieviel Geld wirst du heute von der Mathieu bekommen?« – »Gar keins, denn ich habe ja schon 120 Franks auf die Arbeit voraus.« – »Wir haben aber seit gestern schon keinen Pfennig mehr.« – »Ich weiß es wohl,« sagte Morel traurig. – »Und was soll nun werden?« – »Ja, das weiß der liebe Gott!« – »Und die Burette gibt wohl auch nichts mehr?« fragte die Frau. – »Die Burette?« sagte der Mann, »ach, geh doch! Worauf soll sie noch etwas geben? Sind nicht schon alle Habseligkeiten bei ihr versetzt? . . . Sie müßte gerade die Kinder als Pfand nehmen!« rief er verbittert. – »Was soll denn aber werden?« fragte die Frau; »möchtest du nicht noch einmal an den Notar Ferrand dich wenden? Vielleicht hilft er uns?« – »Kein Wort von ihm!« rief Morel, »lieber gehe ich in den Tod!«

Das sonst so milde Gesicht des Steinschneiders zeigte bei diesen Worten einen grimmigen Ausdruck und färbte sich mit leichtem Rot. Schnell war er auf den Beinen und ging in der Stube auf und nieder . . . »Frau,« rief er, »ich bin kein schlechter Kerl, aber diesem Ferrand wünsche ich alles Böse wieder, das er mir getan hat!« – »Was aber soll werden, wenn er dich wegen des Wechsels von 1300 Frks., der doch schon seit einem Vierteljahre verfallen ist, ins Gefängnis sperren läßt? Hält er dich nicht wie einen Vogel am Faden? Ich kann ihn auch nicht ausstehen, den Menschen; da wir aber einmal von ihm abhängen, so müssen wir uns schon drein finden . . .«

»Daß er unsre Tochter entehrt? Nicht wahr? Darauf willst du hinaus?« rief Morel mit bitterer Ironie; »ach! meine armen Kinder! meine liebe, schöne Luise! Wäre sie nicht so schön, dann wäre ich weniger unglücklich, dann hätte der Mann sich nicht bereit finden lassen, mir den Betrag zu leihen! Ich bin ehrlich und fleißig und Baudouin hätte mich mit dem Gelde nicht gedrängt, sondern es mir ratenweis abgezogen; ich hätte mein Kind nicht in Gefahr zu setzen brauchen bei diesem Ungeheuer!« – »Ach, du siehst gleich wieder zu schwarz. Wenn ihr auch der Notar nachstellt, so bleibt doch unsre Luise ein rechtschaffenes und braves Mädchen!« – »Ja, das ist sie, und fleißig ist sie auch. Habe ich es dir nicht oft genug gesagt, daß es mir schrecklich schwer wurde, sie in Dienst gehen zu lassen, als mich das Malheur traf, den einen Diamanten zu verlieren? Uns wäre sie doch die größte Freude gewesen, aber seit sie fort ist, hat uns unser Glück verlassen!«

»Und wenn man denkt, daß einer von den Diamanten, die dort auf deiner Bank liegen, ausreichte, die Wechselschuld zu tilgen und unser Kind von dem Notar weg und wieder zu uns zu nehmen!« sagte die Frau langsam. – »Was nützt es, das immer und immer zu wiederholen? Freilich, wenn ich ein reicher Mann wäre! Aber so müssen wir uns in unser Schicksal fügen,« setzte er mit schmerzlicher Ungeduld hinzu. Da wurde stark an die Tür geklopft, Morel stand verwundert auf und machte die Tür auf. Zwei Männer traten ein: einer war ein magerer, großer Mann mit gewöhnlichem, stark mit Finnen bedecktem Gesicht, der in der Hand einen schweren Knotenstock hielt. Der abgeschabte schwarze Samtkragen des langen, bis oben zugeknöpften, mit Schmutz bespritzten grünen Rockes ließ einen langen, roten, dichtbehaarten Hals sehen. Der andre war kleiner, dick und untersetzt, hatte ein gemeines Gesicht, war aber mit barockem Luxus gekleidet: das Hemd von zweifelhafter Weiße wurde durch Brillantenknöpfe gehalten und auf der verschossenen schottischen Weste, die von einem gelblichen Ueberrock verdeckt wurde, hing eine lange goldene Kette.

»Pfui Teufel,« rief der erstgeschilderte der beiden Männer, der Malicorne hieß, »stinkt's aber hier nach armen Leuten!«

Durch die halboffne Tür guckte das hämische Gesicht des lahmen Jungen, der die beiden Männer die Treppe hinaufgeführt hatte und jetzt lauschte und spionierte.

»Was wünschen Sie hier?« fragte Morel, der sich rasch die Jacke wieder angezogen hatte; über die Grobheit der Männer empört, wollte er ihnen die Tür weisen, da fragte Bourdin, der letzteingetretene der beiden, seinen Ueberrock aufknöpfend und mit seiner goldnen Kette spielend: »Sie sind wohl der Steinschneider Morel?« – »Jawohl.« – »Na, Kamerad,« sagte Malicorne, der andere der beiden, »da werden wir wohl kaum was finden! Denn wäre was da, da wäre der Vogel doch gewiß ausgeflogen, wie Musje Saint-Remy, von dem wir eben kommen.« – »Stimmt, Bourdin, Ungeziefer, wie das hier, klebt immer am Loche.«

»Jesus!« rief Magdalene, »nimm doch deine Steine in acht, Morel! Wer weiß denn, was das für Leute sind! Dann könntest du wieder dafür aufkommen.« – Morel trat an seinen Arbeitstisch und breitete beide Hände, wie schützend, über die Steine, die er in Arbeit hatte. Der lahme Junge sah das von der Tür aus und dachte bei sich: »Seh einer an! Wenn Morel, wie es immer heißt, bloß falsche Steine schliffe, dann hielte er doch die Hände nicht so drüber! Wahrscheinlich heißt's bloß immer so, damit keiner Lust zum Mausen bekommt. Warte, Kujon! Das stecke ich der Eule!«

Morel trat auf die beiden Männer zu und drohte ihnen, wenn sie nicht gleich wieder gingen, mit der Wache. – Die beiden lachten hell auf. Dann sagte Malicorne: »Wache? Na, mein guter Herr, das kommt uns zu, nicht aber Euch, damit zu drohen . . . Seht doch her, was wir Euch hier zu präsentieren haben. Bezahlt mal das Wechselchen, sonst marschiert Ihr mit nach Clichy, versteht Ihr?«

Morel fuhr entsetzt auf . . . »Was? Ich ins Gefängnis?« rief er, »wer läßt mich denn einstecken? Ich habe nichts verbrochen.« – »Aber bezahlt habt Ihr dem Gläubiger nicht, was Ihr ihm schuldig seid!« sagte Bourdin. »hier habt Ihr das gerichtliche Urteil! Dem Notar sollt Ihr bei Vorzeigung dieses 1300 Franks nebst Zinsen vom Verfalltage ab und den durch die Klage entstandenen Kosten zahlen, widrigenfalls Ihr ins Schuldgefängnis wandert. Da steht's, Urteil vom 13. September dieses Jahres, wider Euch gefällt vom Pariser Handelsgericht und bestätigt vom Appellgericht.«

»Und Luise? Luise?« rief Morel, fast von Sinnen, »wo ist sie? Ist sie denn aus Ferrands Hause? Sonst ließe er mich doch nicht ins Gefängnis führen! Jesus! Was mag aus unserm Kinde geworden sein?« – »Na, marsch, wenn Ihr nicht bezahlen könnt!« rief Malicorne grob, »aus diesem Loche sehnt sich jeder, der noch riechen kann! Hier ist's ja wie verpestet!«

Morel hörte kein Wort von dem, was gesprochen wurde; plötzlich aber trat ein Ausdruck heller Freude auf sein Gesicht . . . »O, gewiß hat Luise dem Notar den Dienst aufgekündigt. Nun, so kann ich leichten Herzens ins Gefängnis wandern! Aber,« setzte er hinzu, »wer wird meine Frau und meine Kinder ernähren? Im Gefängnis werde ich doch keine Steine schleifen dürfen. Man wird denken, ich sei wegen liederlichen Wandels eingesperrt worden . . . Will denn dieser Mensch den Tod der Meinigen? Will er unser aller Tod?«

Der Schlag, der Morel drohte, war so schrecklich, so unvermutet, daß ihn die Kräfte zu verlassen drohten. Er saß bleich, mit stierem Blicke, auf seinem Schemel, ließ die Arme hängen, den Kopf auf die Brust gesenkt, ganz in sich zusammengesunken . . . »Na, wird's nun bald?« rief Malicorne, Morel an der Achsel packend, und suchte ihn zur Tür hin zu drängen. Die Kinder fingen an zu schreien, die Frau warf sich vor den beiden Männern auf die Knie, und die blöde Großmutter winselte in ihrem Winkel wie ein Hund . . . Da sollte eine schaurige Episode die Szene noch schauriger machen . . . »Mutter, Mutter!« rief das älteste der Mädchen, das bei ihrem kranken Schwesterchen auf dem Strohsacke kauerte, »unsre Adele starrt mich in einem fort an, und mir kommt's ganz so vor, als ob sie gar nicht mehr atmete!«

Das Schwesterchen, das an der Schwindsucht litt, war sanft entschlafen, ohne einen Laut der Klage, das Auge auf die Mutter gerichtet. Morel fuhr aus seinem Stumpfsinn auf, war mit einem Satze neben dem Strohsacke und hob sein vierjähriges Kind in die Höhe . . . Es war tot. Kälte und Hunger hatten sein Ende beschleunigt. Die schwächlichen Glieder waren schon kalt und starr.


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