Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Zwölfter Teil.

Erstes Kapitel.

Bakel

Doktor Herbin, ein Herr in den höheren Jahren, ein freundlicher Herr mit äußerst geistreichem Gesicht und einem überaus gutmütigen Zug im Antlitz, aber einem sehr tiefen, scharfen Blicke, hatte zu den ersten seines Berufes gehört, die an Stelle der früher üblichen schrecklichen Zwangsmittel Milde und Wohlwollen in der Behandlung von Geisteskranken übten und, von besonders schweren Fällen abgesehen, Ketten, Prügel, Duschen und einsame Haft verwarfen. Unterstützt wurde er hierbei durch eine von Natur wohlklingende Stimme, die, wenn er mit einem Irren sich unterhielt, sogar einen Anflug von Zartheit bekam und außerordentlich beruhigend wirkte.

Der Doktor führte Frau Morel und Luisen, Frau Georges mit ihrem Sohn Germain und ihrer Schwiegertochter Lachtaube in die Anstalt. Der Hof bildete ein längliches Parallelogramm, war mit Bäumen bepflanzt und mit Bänken ausgestattet. An jeder Seite zog sich eine schmucke Galerie hin, auf die sich luftige Zellen öffneten. Etwa fünfzig Männer, sämtlich die gleiche graue Kleidung tragend, gingen darin umher, in reger Unterhaltung miteinander begriffen. Zuweilen setzten sie sich auch auf eine Bank und gafften dann stumm in die Sonne.

Die Vorstellung, die man sich gemeinhin von Geisteskranken und ihrem Aussehen macht, entspricht nur selten der Wirklichkeit, sondern steht in der Regel in einem bedeutenden Kontraste dazu, und eine recht lange Beobachtung gehört oft dazu, um auf manchem Gesicht eines Geisteskranken sichere Spuren von Wahnsinn zu erkennen.

Kaum wurde Doktor Herbin im Hofe sichtbar, als ihm viele von den Irren entgegeneilten und mit einem wahrhaft rührenden Ausdruck von Vertrauen und Dankbarkeit die Hände entgegenstreckten . . . Er grüßte jeden einzelnen auf das freundlichste und sagte herzlich: »Guten Tag, liebe Kinder, guten Tag!«

Ein paar von ihnen standen zu weit entfernt, um die Hand des Doktors zu erreichen, und reichten sie dafür der einen oder andern der in seiner Begleitung befindlichen Personen, zumeist Germain, der ihnen dann zurief: »Guten Tag, guten Tag, meine Lieben! Hoffentlich geht's recht nach Wunsch?« Und diese Freundlichkeit Germains schien diesen Unglücklichen außerordentlich wohl zu tun.

Frau Georges fragte Doktor Herbin: »Sind das denn alles Irrsinnige, Herr?« – »Jawohl, meine liebe Frau, und sogar im Grunde genommen die gefährlichsten der ganzen Anstalt! Tags über läßt man sie zusammen, nachts aber werden sie in die Zellen eingesperrt, die Sie an der Mauer entlang offen stehen sehen.«

»Werden diese Menschen regelmäßig oder nur sporadisch von Tobsucht befallen?« fragte Frau Georges. – »In der Regel sind sie am tobsüchtigsten, wenn sie eingeliefert werden,« antwortete der Doktor, »und es vergeht immer eine Zeit, bis sie durch die Pflege und Behandlung, wie durch den Anblick von Unglücksgefährten sich beruhigen. Die gleiche Milde, die ihnen gegenüber geübt wird, macht sie allmählich sanft, so daß die Krisen, die in der ersten Zeit noch immer ziemlich häufig zu erscheinen pflegen, immer seltener auftreten. Der Mann, der auf der Bank Ihnen gegenüber sitzt, ist einer unsrer schlimmsten Kranken.«

Es war eine Art von Herkules im Alter von annähernd vierzig Jahren, mit einem höchst intelligenten Ausdruck im Gesicht, langem schwarzen Haar, galliger Hautfärbung und einer auffallend breiten Stirn. Er stand auf, trat gravitätisch zu Doktor Herbin heran und sagte in tatsächlich verbindlichem Tone:

»Herr Doktor! Jetzt muß aber endlich einmal mir das Recht eingeräumt werden, den Blinden zu führen und zu unterhalten. Ich muß Ihnen zu meinem Leidwesen sagen, daß ich es für eine unverzeihliche Ungerechtigkeit halte, den armen Menschen um meine Unterhaltung zu bringen,« – dabei trat auf sein Gesicht ein Zug boshafter Verächtlichkeit – »und ihn statt dessen dem albernen Geschwätze eines blödsinnigen Subjektes zu überlassen . . . Was kann denn solch armer Teufel verstehen von irgend einer Wissenschaft? Und mir können Sie doch nicht absprechen, daß ich gewissermaßen in allen Sätteln gerecht bin! Wer kann zum Beispiel außer mir hier sprechen von Isothermen und rechtwinkligen Flächen? Wer kann ihm begreiflich machen, daß die Gleichungen mit partiellen Differenzen ihrer Kompliziertheit wegen sich gemeinhin nicht einrichten lassen? Ha! Ich hätte ihm nolens volens bewiesen, daß konjugierte Flächen notwendig isotherm sein müssen, und hätte mit ihm zusammen Untersuchungen darüber angestellt, welche Flächen ein dreifach isothermes System bilden können . . . Wenn ich mich nicht sehr irre,« rief der Geisteskranke heftig nach Atem ringend, so schnell hatte er gesprochen, »so halten Sie, was ich Ihnen sage, für blödes Geschwätz, wie es Ihnen von anderen meiner Kategorie auch aufgetischt wird, ich aber,« – und dabei ballte er die Fäuste – »ich frage Sie, Mann, ob es nicht gleichbedeutend ist mit gemeinem Mord, dem Aermsten unter uns Armen meine Unterhaltung zu entziehen?«

»Meinen Sie ja nicht, liebe Frau,« bemerkte leise der Doktor zu Frau Georges, »daß man es hier mit bloßen Hirngespinsten eines Geisteskranken zu tun habe! O nein! Der Mann diskutiert sehr oft über die verwickeltsten Fragen der Geometrie und Astronomie, zudem mit einem Scharfsinne, der dem hervorragendsten Gelehrten nur Ehre machen würde . . . Der Schatz von Kenntnissen, über den er gebietet, ist geradezu unermeßlich. So spricht er alle lebenden Sprachen. Er gehört zu den Märtyrern der Menschheit, die von dem Drange beseelt sind, alles Wissen zu beherrschen, und lebt in dem Wahne, daß es kein Gebiet gebe, in das der menschliche Geist sich nicht einarbeiten könne, und daß man ihn hier nur eingesperrt halte, weil er imstande sei, die Leuchte der Wissenschaft überall auf dem Erdballe zu entzünden! Da das aber von der Polizei nicht erlaubt werden könne, werde er hier in Gewahrsam gehalten, denn die Polizei müsse im Interesse des Staatslebens dafür Sorge tragen, daß die Menschheit wieder in die Finsternis tiefster Unwissenheit zurücksinke.«

Hierauf richtete der Doktor das Wort an den Irren, der mit respektvoller Gespanntheit auf eine Antwort aus seinem Munde zu warten schien . . .

»Mein lieber Herr Charles, Ihre Forderung erscheint mir durchaus gerechtfertigt, und was ich tun kann, sie zu erfüllen, soll gern und gewiß geschehen . . . Der arme Blinde, der, glaube ich, wohl stumm, nicht aber taub ist, fände sicher großes Vergnügen an der Unterhaltung mit einem Manne von Ihrer Gelehrsamkeit. Wie gesagt, ich werde nicht vergessen, Ihnen, wo ich irgend kann, gerecht zu werden.«

Worauf der Irre wieder sagte: »Sie stehen nach wie vor aber auf dem Standpunkte, der Welt dadurch, daß Sie mich hier festhalten, alle humanitären Kenntnisse zu entziehen, die ich mir angeeignet, mit meinem ganzen Sein und Wesen verschmolzen habe.« Dabei sah man, wie er immer wärmer wurde, und wie er immer heftiger zu gestikulieren anfing . . .

»Keine künstliche Aufregung, mein lieber Herr Charles,« erwiderte der Doktor Herbin, »die Welt hat zum Glück noch nicht bemerkt, was ihr fehlt, aber sobald sie ihre Forderungen stellt, werden wir uns sogleich an die Befriedigung derselben machen. Ein Mann von Ihrem Wissen und Ihren Fähigkeiten kann jederzeit große Dienste leisten . . .«

»Ich bin aber,« rief er zähneknirschend, »für die Wissenschaft, was für die physische Welt die Arche Noahs war,« – und nach diesen Worten maß er den Doktor mit grimmigem Blicke. – »Das weiß ich wohl, mein lieber Freund,« sagte der Doktor. – »Sie wollen das Licht unter den Scheffel stellen!« rief er, die Fäuste ballend; »aber ich will Sie zermalmen wie Glas!« Und sein Gesicht wurde puterrot, und die Adern schwollen ihm wie Stricke an.

Der Doktor blickte den Irren ruhig, scharf und unverwandt an; er gab seiner Stimme jenen schmeichelnden Klang, von dem schon weiter oben die Rede war, und sagte: »O, mein lieber Herr Charles, wir wissen doch alle, daß Sie der größte Gelehrte der Zeit, der vergangenen, wie der gegenwärtigen sind.« – »Und werde es auch bleiben für alle kommenden Zeiten,« rief stolz der Irre. – Der Doktor trat nun zu ihm und klopfte ihm kordial auf die Achsel . . . »Ach, er bleibt doch immer der liebenswürdige Schwätzer, der einen nie ausreden läßt . . . sollte man nicht glauben, ich kennte die Bewunderung nicht, die Sie einflößen und verdienen? . . . Kommen Sie, kommen Sie, mein lieber Charles, wir wollen den Blinden aufsuchen!«

»Doktor, Sie sind ein Kapitalsmensch,« rief der Irre, ihn unter den Arm fassend, »Sie sollen sehen, was man ihn anhören läßt, während ich ihm so schöne Dinge sagen könnte!« Und vollkommen beruhigt, ging er zufrieden vor dem Doktor her. – »Nun, das muß man sagen,« bemerkte Germain, näher zu seiner Mutter und Frau tretend, denen er Angst anzusehen gemeint hatte, als der Irre gar so heftig sprach und gestikulierte, »ich hatte selbst Bange, daß den Irren ein Anfall heimsuchen möchte . . .«

»Früher würden bei dem ersten heftigen Wort,« sagte der Doktor, »der ersten zornigen Gebärde solches Kranken die Aufseher über ihn hergefallen sein, ihn gebunden, geschlagen, mit Wasser überschüttet haben – eine der grausamsten Qualen, die man erdenken kann. Stellen Sie sich die Wirkung solcher Behandlung auf einen kräftigen und reizbaren Menschen vor! Er wäre in einen der schlimmsten Wutanfälle geraten, die den stärksten Zwangsmitteln spotten, immer heftiger und endlich unheilbar werden, während, wie Sie sehen, wenn man dieses momentane Aufbrausen nicht gleich unterdrückt, wenn man ihm mittels der außerordentlichen Beweglichkeit des Geistes, die man bei vielen Geisteskranken bemerkt, eine andere Richtung gibt, das augenblickliche Aufwallen so schnell verschwindet, wie es eintritt.«

»Und wer ist der Blinde, von dem er spricht? Ist er auch nur ein Wahnbild seines Geistes?« fragte Frau Georges.

»Nein, im Gegenteil, mit diesem Menschen verhält es sich höchst eigentümlich,« berichtete Doktor Herbin, »man hat ihn in einer Diebshöhle auf den Elysäischen Feldern aufgefunden, als man dort eine Bande von Spitzbuben und Mördern aufgriff. Er lag in einem Keller neben einem abscheulichen Weibe, das bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet war, an einer Kette . . .«

»Aber das sind ja ganz gräßliche Dinge!« rief Frau Georges.

»Der Mann selbst ist ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und zwar durch Vitriol, mit dem er sich das Gesicht verbrannt haben muß. Seit er in der Anstalt ist, hat er noch kein einziges Wort gesprochen. Ob er wirklich stumm ist oder sich nur stumm stellt, habe ich noch nicht ermitteln können. Seltsamerweise ist er von Krämpfen – er leidet daran – immer nur nachts, oder wenn ich abwesend war, heimgesucht worden. Auf keine Frage, die an ihn gestellt wird, gibt er Antwort; darum ist es nicht möglich, über seine Lage etwas zu erfahren. Es scheint, als resultieren die Anfälle, unter denen er leidet, aus irgend einer Anwandlung von Wut, deren Ursachen sich indessen nicht feststellen lassen, da er eben auf nichts antwortet . . . Die anderen Geisteskranken erweisen ihm alle erdenkliche Aufmerksamkeit, führen ihn spazieren und unterhalten ihn, soweit sie es eben können.«

Eben wollte der Doktor in einen Nebengang biegen, als der Mann, von dem er sprach, ihm gegenübertrat. Alle Anwesenden wichen unwillkürlich vor dem schrecklichen Anblicke, den der Mann bot, zurück.

Der Mann war nicht wahnsinnig, simulierte aber Wahnsinn und Stummheit. Denn er hatte die Eule durchaus nicht in einem Anfalle von Wahnsinn umgebracht, sondern nur unter dem Einfluß eines jener hitzigen Fieber, von denen er zeitweilig, wie einmal auch in Bouqueval, befallen wurde.

In dem Diebsnest in den Elysäischen Feldern war er mit festgenommen worden, aber aus seinem Fieberanfalle erst in der Polizeiwachtstube, wohin man ihn einstweilen gebracht hatte, erwacht, und als er die Leute um sich her reden hörte, er sei ein von Tobsucht befallener Narr, zu dem Entschlusse gelangt, diese Rolle weiter zu spielen und sich stumm zu stellen, um nicht in die Gefahr zu geraten, sich durch Reden zu gefährden, falls an seinem Wahnsinne gezweifelt werden sollte . . .

Die List war ihm gelungen. Man hatte ihn nach Bicêtre gebracht. Dort simulierte er von Zeit zu Zeit Wutanfalle, aber um sich der Kontrolle des Oberarztes zu entziehen, fast immer nur nachts, und wußte es gemeinhin auch so einzurichten, daß die Anfälle niemals so lange dauerten, bis der in der Anstalt anwesende Arzt seine Zelle erreicht haben konnte. Seine Genossen hätten, auch wenn ihnen bekannt gewesen wäre, wo er sich aufhielte – was indessen nicht der Fall war – keinen Vorteil daraus gezogen, wenn sie ihn verraten hätten. Es war mithin schwer, den Nachweis seiner Identität zu führen, zumal er überhaupt in Paris nur eine sehr geringe Zahl von Genossen hatte – und so trug er sich mit der Hoffnung, in Bicêtre vorläufig nicht gestört zu werden.

Seit seine körperliche Unfähigkeit seinen schlimmen Gelüsten einen Hemmschuh anlegte, hatte die Freiheit für ihn kaum noch Reiz. Während des gezwungenen Aufenthalts in Rotarms Keller hatte übrigens die Reue bereits den Weg zu dem Herzen dieses Verbrechers gefunden, und oft waren ihm in seiner Einsamkeit und Abgeschiedenheit die Gespenster der von ihm ermordeten Menschen erschienen.

Dem Räuber, der noch in der Vollkraft des Mannesalters stand und ohne Zweifel noch viele Jahre vor sich hatte, der körperlich ein Riese war und auch seinen Verstand noch ungetrübt besaß, blieb also, wenn er sich vor Entdeckung schützen wollte, die ihn aufs Blutgerüst bringen mußte, nichts anderes übrig, als Wahnsinn und Stummheit weiter zu simulieren, denn nur dann war ihm die Möglichkeit, in Bicêtre zu bleiben, gesichert. Aber es fiel ihm außerordentlich schwer, seine Rolle weiter zu spielen, denn gegen die Wildheit seines Temperaments war er gar oft ohnmächtig.

Jetzt saß er auf einer Bank, mit den Ellenbogen auf die Knie gestützt. Seinen häßlichen großen Kopf bedeckte ein Wald von grauem Haar. Dem Gesichte fehlten die Augen, aber schrecklicher noch wirkten die beiden Löcher, die die völlig zerfressene Nase ersetzten, und die beiden schmalen Linien, die statt der Lippen den Mund abzeichneten . . .

»O, Mutter, Mutter, sieh doch!« sagte Germain zu Frau Georges, »dieser Mensch muß doch entsetzlich elend sein!« – »Ja, mein lieber Sohn,« antwortete Frau Georges, »ein solcher Anblick muß einem das Herz zusammenschnüren.«

Aber kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als Bakel bis in sein innerstes Mark erbebte. Sein zerfressenes Gesicht erbleichte unter den Narben. Rasch erhob er sich und drehte das Gesicht nach der Seite, wo Germains Mutter stand, so daß diese einen Aufschrei nicht unterdrücken konnte, obgleich sie keine Ahnung davon hatte, wer dieser Unglückliche sein mochte. Bakel hatte die Stimme seiner Frau erkannt, und die Worte, die eben aus ihrem Munde gefallen waren, hatten ihm verraten, daß sie mit ihrem Sohne sprach!

»Mutter,« fragte Germain, »was ist dir denn auf einmal?«

»Nichts, nichts, mein Sohn,« antwortete sie, »mich hat bloß die jähe Bewegung erschreckt, die dieser Mann auf der Bank dort machte . . . Und dann ist's auch der grausame Ausdruck in seinem Gesicht, der mich ängstigt . . . Ach, Herr, Doktor,« wandte sie sich zum Doktor Herbin, »verzeihen Sie mir diese plötzliche Schwäche! Es tut mir fast leid, der Anwandlung von Neugierde nachgegeben zu haben . . . Ich hätte meinen Sohn lieber nicht begleiten sollen.«

»Aber, Mutter, wie kann es dich alterieren, was ein dir völlig fremder Mensch hier treibt?«

»Aber, Germain,« sagte jetzt seine Frau, unsere liebe Freundin Lachtaube, »zum zweiten Male setzen wir keinen Fuß wieder hierher, nicht wahr?« –

»O, du bist auch ein so kleiner Hasenfuß!« sagte Germain zu ihr, »nicht so, Herr Doktor?«

»Nun, mein lieber Herr,« antwortete der Doktor, »ich muß bekennen, daß es mich auch erschreckt hat, das Gesicht dieses Mannes, als ich es zum ersten Male sah . . . Und ich habe doch schon manches Elend gesehen!« – Darauf wandte er sich zu Bakel: »Nun, lieber Mann, wie geht es Ihnen denn heute?«

Bakel blieb stumm. – der Doktor klopfte ihm leicht auf die Achsel . . . »O, Mann, hören Sie mich denn wirklich nicht?« fragte er. – Bakel gab wiederum keine Antwort, sondern ließ den Kopf sinken. Nach einer Weile perlte aus seinen Augen eine dicke Träne.

»Sehen Sie,« sagte der Doktor zu seinen Begleitern, »der Mann weint . . .«

»Der arme Mensch!« rief Germain mitleidig aus.

Bakel überrieselte es kalt. Jetzt hatte er deutlich die Stimme seines Sohnes gehört . . . und sein Sohn hatte Mitleid mit ihm! Sein Sohn beklagte ihn!

»Was ist Ihnen, lieber Mann?« fragte der Doktor wieder; »bedrückt Sie irgend ein Kummer?« – Aber auch jetzt gab Bakel keine Antwort, sondern verhüllte nur das Gesicht mit beiden Händen. – »Wir werden schwerlich etwas von ihm erfahren,« sagte der Doktor. –

»O, dringen Sie nicht weiter in ihn,« bat Germain. »Lassen Sie den Schleier über seinem Jammer.«

Den Schulmeister überlief ein Schauder, denn wieder vernahm er die Stimme seines Sohnes, wieder hörte er, daß sein Sohn seinem Mitleid über ihn Ausdruck gab.

Der Arzt fragte ihn, was mit ihm sei, was ihn denn schmerze; aber Bakel gab keine Antwort, sondern schlug beide Hände vor das Gesicht. Der peinliche Eindruck, den die Szene auf Frau Georges machte, entging dem Arzte nicht. Er wandte sich zu ihr mit den Worten: »Recht gut, daß wir nun zu Morel, dem Steinschneider, kommen. Trügt mich nicht alle Hoffnung, so werden Sie sich dort erleichtert fühlen. Morels Anblick wird Ihnen wohltun, der seiner ehrsamen Frau und seiner wirklich sehr hübschen Tochter nicht minder.«

Darauf entfernte sich der Arzt mit den in seiner Begleitung befindlichen Personen, und Bakel blieb mit sich allein . . . Mit tiefer Verzweiflung erfüllte ihn die Gewißheit, daß er von nun ab weder die Stimme seiner Frau, noch die seines Sohnes wieder hören werde; wohl hatte ihn einen Moment die Lust beschlichen, sich zu erkennen zu geben, da er aber recht wohl wußte, daß er beiden nur gerechten Abscheu einflößen konnte, daß es über beide nur Schimpf und Schande brachte, wenn sein wirklicher Name bekannt würde, hätte er lieber tausendfältigen Tod erlitten, als sich offenbaren mögen, und unwillkürlich gedachte er der Worte, die Rudolf zu ihm gesprochen hatte, bevor er die grausige Strafe an ihm vollzog:

»Jedes Wort, das du sprachst, ist eine Gotteslästerung – hinfort aber soll kein anderes Wort über deine Lippen kommen als Gebet . . . Weil du dich stark gefühlt, bist du kühn und grausam gewesen; hinfort wirst du sanft und demütig sein, aber der Tag wird kommen, da du deine Opfer beweinen wirst. Den Verstand, den dir Gott gegeben, hast du gemißbraucht, du hast ihn erniedrigt zu einem verbrecherischen Instinkt, aus einem Geschöpfe Gottes hast du dich zur Bestie gemacht; und doch hast du nicht einmal geachtet, was Bestien achten, weder dein Weibchen, noch dein Junges! Aber nach langer Buße für dein Verbrechen wirst du Gott anflehen in deinem letzten Gebete, dir ein letztes Glück, eine letzte Gnade zu gewähren: den Tod zwischen deinem Weibe und deinem Sohne!«

Mit einem wilden Aufschrei brach der Unglückliche zusammen.


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