Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Elftes Kapitel.

Murph und Rudolf.

Im Hofe, wohin sich Rudolf nun begab, traf er den Hünen, der ihn tags vorher in der Verkleidung eines Kohlenträgers bis zur Kaschemme begleitet und dort von Toms und Sarahs Ankunft unterrichtet hatte. Der Mann hieß Murph und mochte in seinem fünfzigsten Lebensjahre stehen. Er hatte eine Glatze, nur an den beiden Schläfen zeigten sich noch ein paar blonde Haarbüschel, mit silbergrauen Härchen vermischt. Sein breites, ziemlich rotes Gesicht war bis auf den kurzen Backenbart von fast rötlicher Farbe glatt rasiert. Er war ziemlich beleibt, aber trotz Alter und Korpulenz noch recht rüstig und gewandt. Aus dem etwas phlegmatischen Gesicht ließ sich Wohlwollen und Entschlossenheit lesen. Murph war Engländer, als solcher aber ein echter Gentleman.

Als Rudolf in den Hof trat, schob Murph eben in die Tasche eines kleinen Reisewagens ein paar blank geputzte Pistolen. – »Wem willst du denn mit den Dingern zu Leibe?« fragte Rudolf. – »Ueberlassen Sie das mir, gnädiger Herr«, versetzte Murph grillig, vom Kutschtritt steigend; »setzen Sie Ihre Angelegenheiten in Ordnung; ich tue es mit den meinigen.« – »Zu wann hast du die Pferde bestellt?« – »Für den Abend, wie Sie befahlen.« – »Heut morgen bist du angekommen?« – »Um acht Uhr. Frau Georges hatte genügend Zeit zu den nötigen Vorbereitungen.« – »Du bist schlechter Laune? Hast du Ursuche, dich über mich zu beklagen?« – »Ich dächte, übergenug Ursache, gnädiger Herr. Es war bis jetzt kein Kinderspiel, und der Tag wird nicht ausbleiben, an welchem Ihnen ernste Gefahr droht, an welchem Ihr Leben bedroht wird . . . Müssen Sie es denn durchaus aufs Spiel setzen? Gestern abend erst wieder, um diesen Rotarm auszukundschaften, – dem ich den Teufel auf den Hals wünsche – in dieser abscheulichen Gasse von Alt-Paris, hätte wenig gefehlt, so . . .« –

»Oho! Du zweifelst doch nicht etwa an meinem Mute und an meiner Leibeskraft?« – »An keinem von beiden, haben Sie doch wenigstens an hundertmal bewiesen, daß davon keine Rede sein kann! Crabb in Ramsgate hat Ihnen ja das Boxen aus dem FF beigebracht, Lacour in Paris das Stock-, und Bertrand, der berühmteste Fechtlehrer, das Hiebfechten, Lacour der Kuriosität halber auch noch das Rotwelsch oder die Gaunersprache. Sie waren ja in allem bald so weit, daß Sie Ihre Lehrmeister aus dem Felde schlugen. Sie haben Muskeln von Stahl, treffen die Schwalbe im Fluge . . . das ist alles richtig . . .«

Rudolf hatte mit Behagen zugehört, wie Murph sich über ihn und seine Eigenschaften ausließ, und fragte jetzt mit Lächeln: »Na, also! Weshalb bangt es dir um mich?« – »Ich wittere einen törichten Streich von Ihnen, Herr.« – »Ei, was du sagst! Na, heraus mit der Sprache, und nicht geniert!« – »Gnädiger Herr, Ihr neuer Schützling . . .« – »Was hast du wider ihn? Kannst du mir das bißchen Freude nicht gönnen, ein unglückliches Wesen an diesen ruhigen Ort hier zu bringen, wo sie unter Obhut der wackern Frau Georges von allem Herzeleid genesen wird?« – »Nun, was soll ich reden? Sie tun doch, was Ihnen beliebt!« – Ich tue, was mir recht dünkt,« versetzte Rudolf mit deutlichen Anzeichen von Ungeduld; »und möchte mir ausbitten, hierüber kein Wort weiter zu verlieren!« – »Ich wüßte nicht, daß Sie jemals nötig gehabt hätten, mir den Mund zu verbieten, gnädiger Herr«, versetzte Murph mit Selbstbewußtsein, »aber hoffentlich wirds auch nie notwendig werden, daß Sie mir befehlen müssen, den Mund aufzutun.« – »Murph!« rief Rudolf mit steigendem Unwillen. – »Mein gnädiger Herr!« – »Ich vertrage, wie du weißt, keinen Widerspruch, Murph!« – »Und doch kommt es mir zu, gnädiger Herr, Widerspruch zu erheben!« – »Wenn ich dich meines Vertrauens würdigte, Murph«, erwiderte Rudolf mit einem Stolz im Gesicht, der sich unmöglich in Worte kleiden läßt, »so geschah es nur unter der Bedingung, daß du niemals vergäßest, in welcher Stellung du dich bei mir befindest!«

»Ich gehe in mein fünfzigstes Jahr, Herr«, versetzte Murph, »und bin immer Gentleman gewesen. So dürfen Sie denn doch nicht mit mir sprechen!« – »Still!« – »Gnädiger Herr! Einen braven Menschen zwingen, an Dienste zu erinnern, die er geleistet hat, verträgt sich nicht mit Würde.« – »Dienste? Dienste, die du mir geleistet? Bezahle ich dich nicht höchst anständig? Habe ich jemals etwas umsonst verlangt?«

Rudolf hatte mit seinen harten Worten nicht die Demütigung verbinden wollen, die Murph zum Lohndiener herabwürdigte; leider faßte aber dieser die Worte nicht anders auf. Er wurde rot vor Zorn, preßte mit schmerzlichem Unwillen beide Fäuste gegen die Stirn, heftete die Augen auf Rudolf, dessen edles Antlitz von Hochmut verunstaltet wurde, unterdrückte mit aller Gewalt einen tiefen Seufzer und blickte Rudolf mit einem Ausdruck von innigem Mitleid an . . . »Gnädiger Herr«, sagte er mit bewegter Stimme, »kommen Sie wieder zu sich! Um solche Worte gegen mich zu äußern, müssen Sie entweder schrecklich aufgeregt oder Ihres vollen Verstandes nicht mächtig gewesen sein.«

Rudolfs Jähzorn stieg auf den höchsten Grad. Seine Augen flammten, aus seinen Lippen wich alle Farbe; die Faust zum Schlage erhebend, trat er auf Murph zu, der um einen Schritt zurückwich und erregt, fast wider seinen Willen, rief: »Gnädigster Herr! Bleiben Sie eingedenk des 13. Januars!« – Es war ein faszinierender Eindruck, den diese Worte auf Rudolf machten. Die Muskeln seines Gesichts spannten sich ab; unverwandt starrte er Murph an; dann ließ er das Haupt sinken und sagte leise, aber tief ergriffen: »Herr, Herr! Sie sind – grausam – und ich – ich habe geglaubt – und Sie – Sie auch!« Es war ihm nicht möglich, weiter zu sprechen, die Stimme versagte ihm. Auf eine Steinbank sinkend, schlug er beide Hände vor das Gesicht . . .

»O, mein guter, guter Herr!« sprach Murph trostlos, »verzeihen Sie Ihrem alten, getreuen Murph! Ich habe die Worte ja bloß gesprochen, um Sie vor einer Handlung des Jähzorns zu bewahren. Es hat mich weder Zorn dazu gebracht, noch habe ich einen Vorwurf damit erheben wollen. Es ist geschehen wider meinen Willen, aus reinem Mitleid! Aber es war unrecht von mir, mich so weit reizen zu lassen. Darum bitte ich Sie um Verzeihung. Aber wer sollte Ihren Charakter kennen, wenn nicht ich? Habe ich doch keinen Schritt von Ihrer Seite getan seit Ihrer Kindheit! Verzeihen Sie mir, gnädiger Herr, daß ich an jenen grausigen Tag erinnerte . . . O, welche Buße haben Sie sich dafür selbst auferlegt!«

Rudolf richtete das Haupt wieder in die Höhe. Leichenblaß, sagte er mit milder, tiefbetrübter Stimme: »Genug, alter Freund, genug! Laß mich dir danken dafür, daß du meinen Jähzorn mit diesem einzigen Worte abkühltest! Erspare es mir, mich wegen meiner häßlichen Reden zu entschuldigen! Du weißt, der Weg vom Herzen bis zu den Lippen ist weit. Ich war ein Narr. Reden wir nicht weiter über den Fall!« – Nach einer Pause setzte er hinzu: »Murph, wie mir scheint, ist dir nicht recht, was ich für das arme Mädchen getan habe?« – »Gnädiger Herr, ich war im Unrecht.« – »Nein, ich sehe ein, der Schein war wider mich. Aber da mein ganzes Leben offen vor dir liegt wie ein Buch, und da du mir bei der Aufgabe, die ich mir gesetzt habe, treu und mutig zur Seite stehst, so ist es von mir Pflicht oder, wenn du das lieber hörst, Gebot der Dankbarkeit, dich zu überzeugen, daß mich nicht Leichtsinn bestimmt, dem armen Kinde zu helfen.«

»Daß Sie Ihre Güte an Unwürdige verschwenden, gnädiger Herr, habe ich nicht gemeint . . .« – »Laß dir sagen, alter Freund! Frau Georges und das arme Mädchen, das ich ihr heute zugeführt habe, sind von zwei verschiedenen Punkten ausgegangen, um in den gleichen Abgrund des Unglücks zu stürzen. Die eine war reich, glücklich, geehrt, geliebt, geschmückt mit allen Tugenden und Vorzügen des Weibes und mußte ihr Leben gebrandmarkt, vernichtet sehen durch den heuchlerischen Bösewicht, an den verblendete Eltern sie ketteten. Mit Freuden sage ich es, daß ohne mein Dazwischentreten diese ärmste aller Frauen in Not und Elend umgekommen wäre, weil sie sich schämte, jemandes Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und wer sie unterstützte, der ehrte Gott! . . . Und entdeckte ich nicht auch vor einer Stunde in dem Gemüte dieses braven Mädchens Schätze von Anmut, Herzensgüte und Züchtigkeit? Ja, mein alter, braver Murph! Bis zu Tränen gerührt war ich, als ich das Herz des lieben Kindes so hell und rein vor mir sah! Und dabei zeiht man mich der Blasiertheit, der Härte, der Unbeugsamkeit? Nein, nein! Dank sei dem lieben Gott, daß mir noch immer ein Herz im Busen schlägt! Weißt du auch, daß dies arme Wesen von einer Mutter geboren wurde, die zu den reichsten Familien des Landes gehört, und daß diese Mutter es verleugnet, es von sich gestoßen, dem Elend, der Schande überliefert hat, um ihren Fehltritt zu verdecken? um diese Frucht ihrer verbotenen Liebe aus der Welt zu tilgen, ohne einen Mord an dem Kinde zu begehen, dem sie das Leben gegeben? . . . O, wenn es mir gelingt, diese Frau zu finden! Sie soll es schrecklich büßen, was sie an dem armen Wesen gesündigt hat! Nie habe ich solchen schrecklichen Haß im Herzen gefühlt, wie gegen sie, Murph! Und doch kenne ich sie nicht! habe sie nie mit einem Blicke gesehen. Aber du weißt, Murph, wie süß manche Rache für mich ist! welche Wonne mir Schmerzen zuweilen bereiten, wie ich dürste nach gewissen Tränen!«

Murph, im tiefsten Herzen betrübt über den grimmigen, fast teuflischen Ausdruck, der sich auf Rudolfs Gesicht malte, als er diese Worte sprach, erwiderte: »O, gnädiger Herr, ich weiß es, daß wer Ihr Mitleid, Ihre Teilnahme verdiente, von Ihnen oft gesagt hat: ›Er ist ein Engel!‹ während all die anderen, die Ihre Verachtung, Ihren Zorn, Ihren Haß auf sich luden, verzweifelt ausriefen: ›Er ist der lebendige Teufel!‹ und Ihnen geflucht haben in Ewigkeit!«



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