Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Mittwoch, den 20. Oktober 1830*

Ein Stündchen bei Goethe, um mit ihm im Auftrag der Frau Großherzogin wegen eines silbernen Wappenschildes Rücksprache zu nehmen, das der Prinz der hiesigen Armbrustschützengesellschaft verehren soll, deren Mitglied er geworden.

Unsere Unterhaltung wendete sich bald auf andere Dinge, und Goethe bat mich, ihm meine Meinung über die Saint-Simonisten zu sagen.

»Die Hauptrichtung ihrer Lehre«, erwiderte ich, »scheint dahin zu gehen, daß jeder für das Glück des Ganzen arbeiten solle, als unerläßliche Bedingung seines eigenen Glückes.«

»Ich dächte,« erwiderte Goethe, »jeder müsse bei sich selber anfangen und zunächst sein eigenes Glück machen, woraus denn zuletzt das Glück des Ganzen unfehlbar entstehen wird. Übrigens erscheint jene Lehre mir durchaus unpraktisch und unausführbar. Sie widerspricht aller Natur, aller Erfahrung und allem Gang der Dinge seit Jahrtausenden. Wenn jeder nur als einzelner seine Pflicht tut und jeder nur in dem Kreise seines nächsten Berufes brav und tüchtig ist, so wird es um das Wohl des Ganzen gut stehen. Ich habe in meinem Beruf als Schriftsteller nie gefragt: was will die große Masse, und wie nütze ich dem Ganzen? sondern ich habe immer nur dahin getrachtet, mich selbst einsichtiger und besser zu machen, den Gehalt meiner eigenen Persönlichkeit zu steigern, und dann immer nur auszusprechen, was ich als gut und wahr erkannt hatte. Dieses hat freilich, wie ich nicht leugnen will, in einem großen Kreise gewirkt und genützt; aber dies war nicht Zweck, sondern ganz notwendige Folge, wie sie bei allen Wirkungen natürlicher Kräfte stattfindet. Hätte ich als Schriftsteller die Wünsche des großen Haufens mir zum Ziel machen und diese zu befriedigen trachten wollen, so hätte ich ihnen Histörchen erzählen und sie zum besten haben müssen, wie der selige Kotzebue getan.«

»Dagegen ist nichts zu sagen«, erwiderte ich. »Es gibt aber nicht bloß ein Glück, was ich als einzelnes Individuum, sondern auch ein solches, was ich als Staatsbürger und Mitglied einer großen Gesamtheit genieße. Wenn man nun die Erreichung des möglichsten Glückes für ein ganzes Volk nicht zum Prinzip macht, von welcher Basis soll da die Gesetzgebung ausgehen!«

»Wenn Sie dahinaus wollen,« erwiderte Goethe, »so habe ich freilich gar nichts einzuwenden. In solchem Fall könnten aber nur sehr wenige Auserwählte von Ihrem Prinzip Gebrauch machen. Es wäre nur ein Rezept für Fürsten und Gesetzgeber; wiewohl es mir auch da scheinen will, als ob die Gesetze mehr trachten müßten, die Masse der Übel zu vermindern, als sich anmaßen zu wollen, die Masse des Glückes herbeizuführen.«

»Beides«, entgegnete ich, »würde wohl ziemlich auf eins hinauskommen. Schlechte Wege erscheinen mir z. B. als ein großes Übel. Wenn nun der Fürst in seinem Staate, bis auf die letzte Dorfgemeinde, gute Wege einführt, so ist nicht bloß ein großes Übel gehoben, sondern zugleich für sein Volk ein großes Glück erreicht. Ferner ist eine langsame Justiz ein großes Unglück. Wenn aber der Fürst durch Anordnung eines öffentlichen mündlichen Verfahrens seinem Volke eine rasche Justiz gewährt, so ist abermals nicht bloß ein großes Übel beseitigt, sondern abermals ein großes Glück da.«

»Aus diesem Tone«, fiel Goethe ein, »wollte ich Euch noch ganz andere Lieder pfeifen. Aber wir wollen noch einige Übel unangedeutet lassen, damit der Menschheit etwas bleibe, woran sie ihre Kräfte ferner entwickele. Meine Hauptlehre aber ist vorläufig diese: der Vater sorge für sein Haus, der Handwerker für seine Kunden, der Geistliche für gegenseitige Liebe, und die Polizei störe die Freude nicht!«


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