Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Sonntag, den 5. April 1829

Goethe erzählte mir, daß er vor Tisch nach Belvedere gefahren sei, um Coudrays neue Treppe im Schloß in Augenschein zu nehmen, die er vortrefflich gefunden. Auch sagte er mir, daß ein großer versteinerter Klotz angekommen, den er mir zeigen wolle.

»Solche versteinerte Stämme«, sagte er, »finden sich unter dem einundfunfzigsten Grade ganz herum bis nach Amerika, wie ein Erdgürtel. Man muß immer mehr erstaunen. Von der früheren Organisation der Erde hat man gar keinen Begriff, und ich kann es Herrn von Buch nicht verdenken, wenn er die Menschen endoktriniert, um seine Hypothesen zu verbreiten. Er weiß nichts, aber niemand weiß mehr, und da ist es denn am Ende einerlei, was gelehrt wird, wenn es nur einigermaßen einen Anschein von Vernunft hat.«

Von Zelter grüßte mich Goethe, welches mir Freude machte. Dann sprachen wir von seiner italienischen Reise, und er sagte mir, daß er in einem seiner Briefe aus Italien ein Lied gefunden, das er mir zeigen wolle. Er bat mich, ihm ein Paket Schriften zu reichen. das mir gegenüber auf dem Pulte lag. Ich gab es ihm, es waren seine Briefe aus Italien; er suchte das Gedicht und las:

Cupido, loser, eigensinniger Knabe!
Du batst mich um Quartier auf einige Stunden.
Wie viele Tag' und Nächte bist du geblieben!
Und bist nun herrisch und Meister im Hause geworden.

Von meinem breiten Lager bin ich vertrieben;
Nun sitz ich an der Erde, Nächte gequälet.
Dein Mutwill schüret Flamm' auf Flamme des Herdes,
Verbrennet den Vorrat des Winters und senget mich Armen.

Du hast mir mein Gerät verstellt und verschoben.
Ich such und bin wie blind und irre geworden;
Du lärmst so ungeschickt; ich fürchte, das Seelchen
Entflieht, um dir zu entfliehn, und räumet die Hütte.

Ich freute mich sehr über dies Gedicht, das mir vollkommen neu erschien. »Es kann Ihnen nicht fremd sein,« sagte Goethe, »denn es steht in der ›Claudina von Villa-Bella‹, wo es der Rugantino singt. Ich habe es jedoch dort zerstückelt, so daß man darüber hinauslieset und niemand merkt, was es heißen will. Ich dächte aber, es wäre gut. Es drückt den Zustand artig aus und bleibt hübsch im Gleichnis; es ist in Art der Anakreontischen. Eigentlich hätten wir dieses Lied und ähnliche andere aus meinen Opern unter den ›Gedichten‹ wieder sollen abdrucken lassen, damit der Komponist doch die Lieder beisammen hätte.« Ich fand dieses gut und vernünftig und merkte es mir für die Folge.

Goethe hatte das Gedicht sehr schön gelesen – ich brachte es nicht wieder aus dem Sinne, und auch ihm schien es ferner im Kopfe zu liegen. Die letzten Verse:

Du lärmst so ungeschickt; ich fürchte, das Seelchen
Entflieht, um dir zu entfliehn, und räumet die Hütte –

sprach er noch mitunter wie im Traume vor sich hin.

Er erzählte mir sodann von einem neuerschienenen Buch über Napoleon, das von einem Jugendbekannten des Helden verfaßt sei und worin man die merkwürdigsten Aufschlüsse erhalte. »Das Buch«, sagte er, »ist ganz nüchtern, ohne Enthusiasmus geschrieben, aber man sieht dabei, welchen großartigen Charakter das Wahre hat, wenn es einer zu sagen wagt.«

Auch von einem Trauerspiele eines jungen Dichters erzählte mir Goethe. »Es ist ein pathologisches Produkt«, sagte er; »die Säfte sind Teilen überflüssig zugeleitet, die sie nicht haben wollen, und andern, die sie bedurft hätten, sind sie entzogen. Das Sujet war gut, sehr gut, aber die Szenen, die ich erwartete, waren nicht da, und andere, die ich nicht erwartete, waren mit Fleiß und Liebe behandelt. Ich dächte, das wäre pathologisch oder auch romantisch, wenn Sie nach unserer neuen Theorie lieber wollen.«

Wir waren darauf noch eine Weile heiter beisammen, und Goethe bewirtete mich zuletzt noch mit vielem Honig, auch mit einigen Datteln, die ich mitnahm.


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