Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Donnerstag, den 16. Februar 1826

Ich ging diesen Abend um sieben Uhr zu Goethe, den ich in seinem Zimmer alleine fand. Ich setzte mich zu ihm an den Tisch, indem ich ihm die Nachricht brachte, daß ich gestern, bei seiner Durchreise nach Petersburg, den Herzog von Wellington im Gasthofe gesehen.

»Nun,« sagte Goethe belebt, »wie war er? Erzählen Sie mir von ihm. Sieht er aus wie sein Porträt?«

»Ja,« sagte ich »aber besser, besonderer! Wenn man einen Blick in sein Gesicht getan hat, so sind alle seine Porträts vernichtet. Und man braucht ihn nur ein einziges Mal anzusehen, um ihn nie wieder zu vergessen, ein solcher Eindruck geht von ihm aus. Sein Auge ist braun und vom heitersten Glanze, man fühlt die Wirkung seines Blickes. Sein Mund ist sprechend, auch wenn er geschlossen ist. Er sieht aus wie einer, der vieles gedacht und das Größte gelebt hat, und der nun die Welt mit großer Heiterkeit und Ruhe behandelt und den nichts mehr anficht. Hart und zäh erschien er mir wie eine damaszener Klinge.

Er ist seinem Aussehen nach, hoch in den Funfzigen, von grader Haltung, schlank, nicht sehr groß und eher etwas mager als stark. Ich sah ihn, wie er in den Wagen steigen und wieder abfahren wollte. Sein Gruß, wie er durch die Reihen der Menschen ging und mit sehr weniger Verneigung den Finger an den Hut legte, hatte etwas ungemein Freundliches.«

Goethe hörte meiner Beschreibung mit sichtbarem Interesse zu. »Da haben Sie einen Helden mehr gesehen,« sagte er, »und das will immer etwas heißen.«

Wir kamen auf Napoleon, und ich bedauerte, daß ich den nicht gesehen. »Freilich,« sagte Goethe, »das war auch der Mühe wert. – Dieses Kompendium der Welt!« – »Er sah wohl nach etwas aus?« fragte ich. – »Er war es,« antwortete Goethe, »und man sah ihm an, daß er es war; das war alles.«

Ich hatte für Goethe ein sehr merkwürdiges Gedicht mitgebracht, wovon ich ihm einige Abende vorher schon erzählt hatte, ein Gedicht von ihm selbst, dessen er sich jedoch nicht mehr erinnerte, so tief lag es in der Zeit zurück. Zu Anfang des Jahres 1766 in den ›Sichtbaren‹, einer damals in Frankfurt erschienenen Zeitschrift, abgedruckt, war es durch einen alten Diener Goethes mit nach Weimar gebracht worden, durch dessen Nachkommen es in meine Hände gelangt war. Ohne Zweifel das älteste aller von Goethe bekannten Gedichte. Es hatte die Höllenfahrt Christi zum Gegenstand, wobei es mir merkwürdig war, wie dem sehr jungen Verfasser die religiösen Vorstellungsarten so geläufig gewesen. Der Gesinnung nach konnte das Gedicht von Klopstock herkommen, allein in der Ausführung war es ganz anderer Natur; es war stärker, freier und leichter und hatte eine größere Energie, einen besseren Zug. Außerordentliche Glut erinnerte an eine kräftig brausende Jugend. Beim Mangel an Stoff drehte es sich in sich selbst herum und war länger geworden als billig.

Ich legte Goethen das ganze vergilbte, kaum noch zusammenhängende Zeitungsblatt vor, und da er es mit Augen sah, erinnerte er sich des Gedichts wieder. »Es ist möglich,« sagte er, »daß das Fräulein von Klettenberg mich dazu veranlaßt hat; es steht in der Überschrift: auf Verlangen entworfen, und ich wüßte nicht, wer von meinen Freunden einen solchen Gegenstand anders hätte verlangen können. Es fehlte mir damals an Stoff, und ich war glücklich, wenn ich nur etwas hatte, das ich besingen konnte. Noch dieser Tage fiel mir ein Gedicht aus jener Zeit in die Hände, das ich in englischer Sprache geschrieben und worin ich mich über den Mangel an poetischen Gegenständen beklage. Wir Deutschen sind auch wirklich schlimm daran: unsere Urgeschichte liegt zu sehr im Dunkel, und die spätere hat aus Mangel eines einzigen Regentenhauses kein allgemeines nationales Interesse. Klopstock versuchte sich am Hermann, allein der Gegenstand liegt zu entfernt, niemand hat dazu ein Verhältnis, niemand weiß, was er damit machen soll, und seine Darstellung ist daher ohne Wirkung und Popularität geblieben. Ich tat einen glücklichen Griff mit meinem ›Götz von Berlichingen‹; das war doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch, und es war schon etwas damit zu machen.

Beim ›Werther‹ und ›Faust‹ mußte ich dagegen wieder in meinen eigenen Busen greifen, denn das Überlieferte war nicht weit her. Das Teufels- und Hexenwesen machte ich nur einmal; ich war froh, mein nordisches Erbteil verzehrt zu haben, und wandte mich zu den Tischen der Griechen. Hätte ich aber so deutlich wie jetzt gewußt, wie viel Vortreffliches seit Jahrhunderten und Jahrtausenden da ist, ich hätte keine Zeile geschrieben, sondern etwas anderes getan.«


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