Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Sonntag, den 15. Juli 1827

Ich ging diesen Abend nach acht Uhr zu Goethe, den ich soeben aus seinem Garten zurückgekehrt fand. »Sehen Sie nur, was da liegt!« sagte er; »ein Roman in drei Bänden, und zwar von wem? von Manzoni!« Ich betrachtete die Bücher, die sehr schön eingebunden waren und eine Inschrift an Goethe enthielten. »Manzoni ist fleißig«, sagte ich. – »Ja, das regt sich«, sagte Goethe. – »Ich kenne nichts von Manzoni,« sagte ich, »als seine Ode auf Napoleon, die ich dieser Tage in Ihrer Übersetzung abermals gelesen und im hohen Grade bewundert habe. Jede Strophe ist ein Bild!« – »Sie haben recht,« sagte Goethe, »die Ode ist vortrefflich. Aber finden Sie, daß in Deutschland einer davon redet? Es ist so gut, als ob sie gar nicht da wäre, und doch ist sie das beste Gedicht, was über diesen Gegenstand gemacht worden.«

Goethe fuhr fort, die englischen Zeitungen zu lesen, in welcher Beschäftigung ich ihn beim Hereintreten gefunden. Ich nahm einen Band von Carlyles Übersetzung deutscher Romane in die Hände, und zwar den Teil, welcher Musäus und Fouqué enthielt. Der mit unserer Literatur sehr vertraute Engländer hatte den übersetzten Werken selbst immer eine Einleitung, das Leben und eine Kritik des Dichters enthaltend, vorangehen lassen. Ich las die Einleitung zu Fouqué und konnte zu meiner Freude die Bemerkung machen, daß das Leben mit Geist und vieler Gründlichkeit geschrieben und der kritische Standpunkt, aus welchem dieser beliebte Schriftsteller zu betrachten, mit großem Verstand und vieler ruhiger, milder Einsicht in poetische Verdienste bezeichnet war. Bald vergleicht der geistreiche Engländer unsern Fouqué mit der Stimme eines Sängers, die zwar keinen großen Umfang habe und nur wenige Töne enthalte, aber die wenigen gut und vom schönsten Wohlklange. Dann, um seine Meinung ferner auszudrücken, nimmt er ein Gleichnis aus kirchlichen Verhältnissen her, indem er sagt, daß Fouqué an der poetischen Kirche zwar nicht die Stelle eines Bischofs oder eines andern Geistlichen vom ersten Range bekleide, vielmehr mit den Funktionen eines Kaplans sich begnüge, in diesem mittleren Amte aber sich sehr wohl ausnehme.

Während ich dieses gelesen, hatte Goethe sich in seine hinteren Zimmer zurückgezogen. Er sendete mir seinen Bedienten mit der Einladung, ein wenig nachzukommen, welches ich tat. »Setzen Sie sich noch ein wenig zu mir,« sagte er, »daß wir noch einige Worte miteinander reden. Da ist auch eine Übersetzung des Sophokles angekommen, sie lieset sich gut und scheint sehr brav zu sein; ich will sie doch einmal mit Solger vergleichen. Nun, was sagen Sie zu Carlyle?« Ich erzählte ihm, was ich über Fouqué gelesen. »Ist das nicht sehr artig?« sagte Goethe – »Ja, überm Meere gibt es auch gescheite Leute, die uns kennen und zu würdigen wissen.

Indessen« , fuhr Goethe fort, »fehlt es in anderen Fächern uns Deutschen auch nicht an guten Köpfen. Ich habe in den ›Berliner Jahrbüchern‹ die Rezension eines Historikers über Schlosser gelesen, die sehr groß ist. Sie ist Heinrich Leo unterschrieben, von welchem ich noch nichts gehört habe und nach welchem wir uns doch erkundigen müssen. Er steht höher als die Franzosen, welches in geschichtlicher Hinsicht doch etwas heißen will. Jene haften zu sehr am Realen und können das Ideelle nicht zu Kopf bringen, dieses aber besitzt der Deutsche in ganzer Freiheit. Über das indische Kastenwesen hat er die trefflichsten Ansichten. Man spricht immer viel von Aristokratie und Demokratie, die Sache ist ganz einfach diese: In der Jugend, wo wir nichts besitzen oder doch den ruhigen Besitz nicht zu schätzen wissen, sind wir Demokraten; sind wir aber in einem langen Leben zu Eigentum gekommen, so wünschen wir dieses nicht allein gesichert, sondern wir wünschen auch, daß unsere Kinder und Enkel das Erworbene ruhig genießen mögen. Deshalb sind wir im Alter immer Aristokraten ohne Ausnahme, wenn wir auch in der Jugend uns zu anderen Gesinnungen hinneigten. Leo spricht über diesen Punkt mit großem Geiste.

Im ästhetischen Fach sieht es freilich bei uns am schwächsten aus, und wir können lange warten, bis wir auf einen Mann wie Carlyle stoßen. Es ist aber sehr artig, daß wir jetzt, bei dem engen Verkehr zwischen Franzosen, Engländern und Deutschen, in den Fall kommen, uns einander zu korrigieren. Das ist der große Nutzen, der bei einer Weltliteratur herauskommt und der sich immer mehr zeigen wird. Carlyle hat das Leben von Schiller geschrieben und ihn überhaupt so beurteilt, wie ihn nicht leicht ein Deutscher beurteilen wird. Dagegen sind wir über Shakespeare und Byron im klaren und wissen deren Verdienste vielleicht besser zu schätzen als die Engländer selber.«


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