Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Erster Teil

Einleitung

Der Autor gibt Nachricht über seine Person und Herkunft
und die Entstehung seines Verhältnisses zu Goethe.

Als der Zuletztgeborne einer zweiten Ehe habe ich meine Eltern eigentlich nur gekannt, wie sie schon im vorgerückten Alter standen, und bin zwischen beiden gewissermaßen einsam aufgewachsen. Aus meines Vaters erster Ehe lebten zwei Söhne, wovon der eine, nach verschiedenen Seereisen als Matrose, in fernen Weltteilen in Gefangenschaft geraten und verschollen war, der andere aber, nach mehrmaligem Aufenthalt zum Walfisch- und Seehunde-Fang in Grönland, nach Hamburg zurückgekehrt war und dort in mäßigen Umständen lebte. Aus meines Vaters zweiter Ehe waren vor mir zwei Schwestern aufgewachsen, die, als ich mein zwölftes Jahr erreicht, bereits das väterliche Haus verlassen hatten und teils im Orte, teils in Hamburg dienten.

Die Hauptquelle des Unterhaltes unserer kleinen Familie war eine Kuh, die uns nicht allein zu unserm täglichen Bedarf mit Milch versah, sondern von der wir auch jährlich ein Kalb mästen und außerdem zu gewissen Zeiten für einige Groschen Milch verkaufen konnten. Ferner besaßen wir einen Acker Land, der uns die nötigen Gemüsearten für das Bedürfnis des Jahres gewinnen ließ. Korn zu Brot indes und Mehl für die Küche mußten wir kaufen.

Meine Mutter hatte eine besondere Geschicklichkeit im Wollspinnen; auch schnitt und nähete sie die bürgerlichen Mützen der Frauenzimmer zu besonderer Zufriedenheit, welches ihr denn beides zur Quelle einiges Erwerbes gereichte.

Meines Vaters eigentliches Geschäft dagegen war der Betrieb eines kleinen Handels, der nach den verschiedenen Jahreszeiten variierte und ihn veranlaßte, häufig von Haus abwesend zu sein und in der Umgegend viel zu Fuße umherzuschweifen. Im Sommer sah man ihn, mit einem leichten hölzernen Schränkchen auf dem Rücken, in der Heidegegend von Dorf zu Dorf wandern und mit Band, Zwirn und Seide hausieren gehen. Zugleich kaufte er hier wollene Strümpfe und Beiderwand (ein aus der braunen Wolle der Heideschnucken und leinenem Garn gewebtes Zeug), das er denn auf dem jenseitigen Elbufer, in den Vierlanden, gleichfalls hausierend wieder absetzte. Im Winter trieb er einen Handel mit rohen Schreibfedern und ungebleichter Leinewand, die er in den Dörfern der Heide- und Marschgegend aufkaufte und mit Schiffsgelegenheit nach Hamburg brachte. In allen Fällen jedoch mußte sein Gewinn sehr gering sein, denn wir lebten immer in einiger Armut.

Soll ich nun von meiner kindlichen Tätigkeit reden, so war sie gleichfalls nach den Jahreszeiten verschieden. Mit dem anbrechenden Frühling und sowie die Gewässer der gewöhnlichen Elbüberschwemmungen verlaufen waren, ging ich täglich, um das an den Binnendeichen und sonstigen Erhöhungen angespülte Schilf zu sammeln und als eine beliebte Streu für unsere Kuh anzuhäufen. Wenn sodann auf der weitausgedehnten Weidefläche das erste Grün hervorkeimte, verlebte ich in Gemeinschaft mit anderen Knaben lange Tage im Hüten der Kühe. Während des Sommers war ich tätig in Bestellung unseres Ackers; auch schleppte ich für das Bedürfnis des Herdes das ganze Jahr hindurch aus der kaum eine Stunde entfernten Waldung trockenes Holz herbei. Zur Zeit der Kornernte sah man mich wochenlang in den Feldern mit Ährenlesen beschäftigt, und später, wenn die Herbstwinde die Bäume schüttelten, sammelte ich Eicheln, die ich metzenweise an wohlhabendere Einwohner, um ihre Gänse damit zu füttern, verkaufte. Sowie ich aber genugsam herangewachsen war, begleitete ich meinen Vater auf seinen Wanderungen von Dorf zu Dorf und half einen Bündel tragen. Diese Zeit gehört zu den liebsten Erinnerungen meiner Jugend.

Unter solchen Zuständen und Beschäftigungen, während welcher ich auch periodenweise die Schule besuchte und notdürftig lesen und schreiben lernte, erreichte ich mein vierzehntes Jahr, und man wird gestehen, daß von hier bis zu einem vertrauten Verhältnis mit Goethe ein großer Schritt und überall wenig Anschein war. Auch wußte ich nicht, daß es in der Welt Dinge gebe wie Poesie und schöne Künste, und konnte also auch ein dunkeles Verlangen und Streben nach solchen Dingen glücklicherweise in mir nicht stattfinden.

Man hat gesagt, die Tiere werden durch ihre Organe belehrt; und so möchte man vom Menschen sagen, daß er oft durch etwas, was er ganz zufällig tut, über das belehrt werde, was etwa Höheres in ihm schlummert. Ein solches ereignete sich mit mir, und da es, obgleich an sich unbedeutend, meinem ganzen Leben eine andere Wendung gab, so hat es sich mir als etwas Unvergeßliches eingeprägt.

Ich saß eines Abends bei angezündeter Lampe mit beiden Eltern am Tische. Mein Vater war von Hamburg zurückgekommen und erzählte von dem Verlauf und Fortgang seines Handels. Da er gern rauchte, so hatte er sich ein Paket Tabak mitgebracht, das vor mir auf dem Tische lag und als Wappen ein Pferd hatte. Dieses Pferd erschien mir als ein sehr gutes Bild, und da ich zugleich Feder und Tinte und ein Stückchen Papier zur Hand hatte, so bemächtigte sich meiner ein unwiderstehlicher Trieb, es nachzuzeichnen. Mein Vater fuhr fort von Hamburg zu erzählen, während ich, von den Eltern unbemerkt, mich ganz vertiefte im Zeichnen des Pferdes. Als ich fertig war, kam es mir vor, als sei meine Nachbildung dem Vorbilde vollkommen ähnlich, und ich genoß ein mir bisher unbekanntes Glück. Ich zeigte meinen Eltern, was ich gemacht hatte, die nicht umhin konnten mich zu rühmen und sich darüber zu wundern. Die Nacht verbrachte ich in freudiger Aufregung halb schlaflos, ich dachte beständig an mein gezeichnetes Pferd und erwartete mit Ungeduld den Morgen, um es wieder vor Augen zu nehmen und mich wieder daran zu erfreuen.

Von dieser Zeit an verließ mich der einmal erwachte Trieb der sinnlichen Nachbildung nicht wieder. Da es aber in meinem Orte an aller weiteren Hülfe in solchen Dingen fehlte, so war ich schon sehr glücklich, als unser Nachbar, ein Töpfer, mir ein paar Hefte mit Konturen gab, welche ihm bei Bemalung seiner Teller und Schüsseln als Vorbild dienten.

Diese Umrisse zeichnete ich mit Feder und Tinte auf das sorgfältigste nach, und so entstanden zwei Hefte, die bald von Hand zu Hand gingen und auch an die erste Person des Ortes, an den Oberamtmann Meyer, gelangten. Er ließ mich rufen, beschenkte mich und lobte mich auf die liebevollste Weise. Er fragte mich, ob ich Lust habe ein Maler zu werden; er wolle mich in solchem Fall, wenn ich konfirmiert sei, zu einem geschickten Meister nach Hamburg senden. Ich sagte, daß ich wohl Lust habe und daß ich es mit meinen Eltern überlegen wolle.

Diese aber, beide aus dem Bauernstande und in einem Orte lebend, wo größtenteils nichts anderes als Ackerbau und Viehzucht getrieben wurde, dachten sich unter einem Maler nichts weiter als einen Türen- und Häuseranstreicher. Sie widerriefen es mir daher auf das sorglichste, indem sie anführten, daß es nicht allein ein sehr schmutziges, sondern zugleich ein sehr gefährliches Handwerk sei, wobei man Hals und Beine brechen könne, welches sich, zumal in Hamburg bei den sieben Stockwerk hohen Häusern, sehr oft ereigne. Da nun meine eigenen Begriffe von einem Maler gleichfalls nicht höherer Art waren, so verging mir die Lust zu diesem Metier und ich schlug das Anerbieten des guten Oberamtmannes aus dem Sinne.

Indessen war nun einmal die Aufmerksamkeit höherer Personen auf mich gefallen; man behielt mich im Auge und suchte mich auf manche Weise zu heben. Man ließ mich an dem Privatunterricht der wenigen vornehmen Kinder teilnehmen, ich lernte Französisch und etwas Latein und Musik; zugleich versah man mich mit besserer Kleidung, und der würdige Superintendent Parisius hielt es nicht zu gering, mir einen Platz an seinem eigenen Tische zu geben.

Von nun an war mir die Schule lieb geworden; ich suchte so günstige Umstände so lange fortzusetzen als möglich, und meine Eltern gaben es daher auch gern zu, daß ich erst in meinem sechzehnten Jahre konfirmiert wurde.

Nun aber entstand die Frage, was aus mir werden solle. Wäre es nach meinen Wünschen gegangen, so hätte man mich zur Verfolgung wissenschaftlicher Studien auf ein Gymnasium geschickt; allein hieran war nicht zu denken, denn es fehlte dazu nicht allein an allen Mitteln, sondern die gebieterische Not meiner Umstände verlangte auch, mich sehr bald in einer Lage zu sehen, wo ich nicht allein für mich selber zu sorgen, sondern auch meinen dürftigen alten Eltern einigermaßen zu Hülfe zu kommen imstande wäre.

Eine solche Lage eröffnete sich mir gleich nach meiner Konfirmation, indem ein dortiger Justizbeamter mir das Anerbieten machte, mich zum Schreiben und anderen kleinen Dienstverrichtungen zu sich zu nehmen, worein ich mit Freuden willigte. Ich hatte während der letzten anderthalb Jahre meines fleißigen Schulbesuchs es dahin gebracht, nicht allein eine gute Hand zu erlangen, sondern mich auch in Abfassung schriftlicher Aufsätze vielfältig zu üben, so daß ich mich denn für eine solche Stelle sehr wohl qualifiziert halten konnte. Dieses Verhältnis, wobei ich auch kleine Advokaturgeschäfte trieb und nicht selten in den Fall kam, nach hergebrachten Formen beides, Klageschrift und Urteil, abzufassen, dauerte zwei Jahre, nämlich bis 1810, wo das hannöverische Amt Winsen an der Luhe aufgelöst und, im Departement der Niederelbe begriffen, dem französischen Kaiserreiche einverleibt wurde.

Ich erhielt nun eine Anstellung im Bureau der Direktion der direkten Steuern zu Lüneburg; und als diese im nächsten Jahre gleichfalls aufgelöst wurde, kam ich in das Bureau der Unterpräfektur zu Ülzen. Hier arbeitete ich bis gegen Ende des Jahres 1812, wo der Präfekt, Herr von Düring, mich beförderte und als Mairiesekretär zu Bevensen anstellte. Diesen Posten bekleidete ich bis zum Frühling des Jahres 1813, wo die herannahenden Kosaken uns zur Befreiung von der französischen Herrschaft Hoffnung machten.

Ich nahm meinen Abschied und ging in meine Heimat, mit keinem anderen Plan und Gedanken, als mich sobald wie möglich den Reihen der vaterländischen Krieger anzuschließen, die sich im stillen hier und dort anfingen zu bilden. Dieses vollführte ich und trat gegen Ende des Sommers mit Büchse und Holster als Freiwilliger in das Kielmannseggesche Jägerkorps und machte mit diesem in der Kompagnie des Kapitän Knop den Feldzug des Winters 1813 und 1814 durch Mecklenburg, Holstein und vor Hamburg gegen den Marschall Davoust. Darauf marschierten wir über den Rhein gegen den General Maison und zogen im Sommer viel hin und her in dem fruchtbaren Flandern und Brabant.

Hier, vor den großen Gemälden der Niederländer ging mir eine neue Welt auf; ich verbrachte ganze Tage in Kirchen und Museen. Es waren im Grunde die ersten Gemälde, die mir in meinem Leben vor Augen gekommen waren. Ich sah nun, was es heißen wolle, ein Maler zu sein; ich sah die gekrönten, glücklichen Fortschritte der Schüler, und ich hätte weinen mögen, daß es mir versagt worden, eine ähnliche Bahn zu gehen. Doch entschloß ich mich auf der Stelle; ich machte in Tournay die Bekanntschaft eines jungen Künstlers, ich verschaffte mir schwarze Kreide und einen Bogen Zeichenpapier vom größten Format und setzte mich sogleich vor ein Bild, um es zu kopieren. Große Begierde zur Sache ersetzte hiebei, was mir an Übung und Anleitung fehlte, und so brachte ich die Konture der Figuren glücklich zustande; ich fing auch an, von der linken Seite herein das Ganze auszuschattieren, als eine Marschordre eine so glückliche Beschäftigung unterbrach. Ich eilte, die Abstufung von Schatten und Licht in dem nicht ausgeführten Teile mit einzelnen Buchstaben anzudeuten, in Hoffnung, daß es mir in ruhigen Stunden gelingen würde, es auf diese Weise zu vollenden. Ich rollte mein Bild zusammen und tat es in einen Köcher, den ich, neben meiner Büchse auf dem Rücken hängend, den langen Marsch von Tournay nach Hameln trug.

Hier ward das Jägerkorps im Herbst des Jahres 1814 aufgelöst. Ich ging in meine Heimat; mein Vater war tot, meine Mutter noch am Leben und bei meiner ältesten Schwester wohnend, die sich indes verheiratet und das elterliche Haus angenommen hatte. Ich fing nun sogleich an mein Zeichnen fortzusetzen; ich vollendete zunächst jenes aus Brabant mitgebrachte Bild, und als es mir darauf ferner an passenden Mustern fehlte, so hielt ich mich an die kleinen Rambergischen Kupfer, die ich mit schwarzer Kreide ins Große ausführte. Hiebei merkte ich jedoch sehr bald den Mangel gehöriger Vorstudien und Kenntnisse. Ich hatte so wenig Begriffe von der Anatomie des Menschen wie der Tiere; nicht mehr wußte ich von Behandlung der verschiedenen Baumarten und Gründe, und es kostete mich daher unsägliche Mühe, ehe ich auf meine Weise etwas herausbrachte, das ungefähr so aussah.

Ich begriff daher sehr bald, daß, wenn ich ein Künstler werden wolle, ich es ein wenig anders anzufangen hätte, und daß das fernere Suchen und Tasten auf eigenem Wege ein durchaus verlorenes Bemühen sei. Zu einem tüchtigen Meister zu gehen und ganz von vorne anzufangen, das war mein Plan.

Was nun den Meister betraf, so lag in meinen Gedanken kein anderer als Ramberg in Hannover; auch dachte ich in dieser Stadt mich um so eher halten zu können, als ein geliebter Jugendfreund dort in glücklichen Umständen lebte, von dessen Treue ich mir jede Stütze versprechen durfte und dessen Einladungen sich wiederholten.

Ich säumte daher auch nicht lange und schnürte meinen Bündel und machte mitten im Winter 1815 den fast vierzigstündigen Weg durch die öde Heide bei tiefem Schnee einsam zu Fuß, und erreichte in einigen Tagen glücklich Hannover.

Ich verfehlte nicht, alsobald zu Ramberg zu gehen und ihm meine Wünsche vorzutragen. Nach den vorgelegten Proben schien er an meinem Talent nicht zu zweifeln; doch machte er mir bemerklich, daß die Kunst nach Brot gehe, daß die Überwindung des Technischen viel Zeit verlange, und daß die Aussicht, der Kunst zugleich die äußere Existenz zu verdanken, sehr ferne sei. Indessen zeigte er sich sehr bereit, mir seinerseits alle Hülfe zu schenken; er suchte sogleich aus der Masse seiner Zeichnungen einige passende Blätter mit Teilen des menschlichen Körpers hervor, die er mir zum Nachzeichnen mitgab.


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