Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Montag, den 1. Oktober 1827

Im Theater ›Das Bild‹ von Houwald. Ich sah zwei Akte und ging dann zu Goethe, der mir die zweite Szene seines neuen ›Faust‹ vorlas.

»Ich habe in dem Kaiser«, sagte er, »einen Fürsten darzustellen gesucht, der alle möglichen Eigenschaften hat, sein Land zu verlieren, welches ihm denn auch später wirklich gelingt.

Das Wohl des Reichs und seiner Untertanen macht ihm keine Sorge; er denkt nur an sich und wie er sich von Tag zu Tag mit etwas Neuem amüsiere. Das Land ist ohne Recht und Gerechtigkeit, der Richter selber mitschuldig und auf der Seite der Verbrecher, die unerhörtesten Frevel geschehen ungehindert und ungestraft. Das Heer ist ohne Sold, ohne Disziplin und streift raubend umher, um sich seinen Sold selber zu verschaffen und sich selber zu helfen, wie es kann. Die Staatskasse ist ohne Geld und ohne Hoffnung weiterer Zuflüsse. Im eigenen Haushalte des Kaisers sieht es nicht besser aus: es fehlt in Küche und Keller. Der Marschall, der von Tag zu Tag nicht mehr Rat zu schaffen weiß, ist bereits in den Händen wuchernder Juden, denen alles verpfändet ist, so daß auf den kaiserlichen Tisch vorweggegessenes Brot kommt.

Der Staatsrat will Sr. Majestät über alle diese Gebrechen Vorstellungen tun und ihre Abhülfe beraten; allein der gnädigste Herr ist sehr ungeneigt, solchen unangenehmen Dingen sein hohes Ohr zu leihen; er möchte sich lieber amüsieren. Hier ist nun das wahre Element für Mephisto, der den bisherigen Narren schnell beseitigt und als neuer Narr und Ratgeber sogleich an der Seite des Kaisers ist.«

Goethe las die Szene und das Zwischen-Gemurmel der Menge ganz vortrefflich, und ich hatte einen sehr guten Abend.


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