Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Sonntag, den 12. April 1829

Goethe las mir seine Antwort an den König von Bayern. Er hatte sich dargestellt wie einen, der persönlich die Stufen der Villa hinaufgeht und sich in des Königs unmittelbarer Nähe mündlich äußert. »Es mag schwer sein,« sagte ich, »das richtige Verhältnis zu treffen, wie man sich in solchen Fällen zu halten habe.«

»Wer wie ich«, antwortete Goethe, »sein ganzes Leben hindurch mit hohen Personen zu verkehren gehabt, für den ist es nicht schwer. Das einzige dabei ist, daß man sich nicht durchaus menschlich gehen lasse, vielmehr sich stets innerhalb einer gewissen Konvenienz halte.«

Goethe sprach darauf von der Redaktion seines ›Zweiten Aufenthaltes in Rom‹, die ihn jetzt beschäftiget.

»Bei den Briefen,« sagte er, »die ich in jener Periode geschrieben, sehe ich recht deutlich, wie man in jedem Lebensalter gewisse Avantagen und Desavantagen, in Vergleich zu früheren oder späteren Jahren hat. So war ich in meinem vierzigsten Jahre über einige Dinge vollkommen so klar und gescheit als jetzt und in manchen Hinsichten sogar besser, aber doch besitze ich jetzt in meinem achtzigsten Vorteile, die ich mit jenen nicht vertauschen möchte.«

»Während Sie dieses reden,« sagte ich, »steht mir die Metamorphose der Pflanze vor Augen, und ich begreife sehr wohl, daß man aus der Periode der Blüte nicht in die der grünen Blätter, und aus der des Samens und der Früchte nicht in die des Blütenstandes zurücktreten möchte.«

»Ihr Gleichnis«, sagte Goethe, »drückt meine Meinung vollkommen aus. Denken Sie sich ein recht ausgezacktes Blatt,« fuhr er lachend fort, »ob es aus dem Zustande der freiesten Entwickelung in die dumpfe Beschränktheit der Kotyledone zurückmöchte? Und nun ist es sehr artig, daß wir sogar eine Pflanze haben, die als Symbol des höchsten Alters gelten kann, indem sie, über die Periode der Blüte und der Frucht hinaus, ohne weitere Produktion noch munter fortwächst.

Das Schlimme ist,« fuhr Goethe fort, »daß man im Leben so viel durch falsche Tendenzen ist gehindert worden und daß man nie eine solche Tendenz erkannt, als bis man sich bereits schon frei gemacht.«

»Woran aber«, sagte ich, »soll man sehen und wissen, daß eine Tendenz eine falsche sei?«

»Die falsche Tendenz«, antwortete Goethe, »ist nicht produktiv, und wenn sie es ist, so ist das Hervorgebrachte von keinem Wert. Dieses an andern gewahr zu werden, ist nicht so gar schwer, aber an sich selber, ist ein eigenes Ding und will eine große Freiheit des Geistes. Und selbst das Erkennen hilft nicht immer; man zaudert und zweifelt und kann sich nicht entschließen, so wie es schwer hält, sich von einem geliebten Mädchen loszumachen, von deren Untreue man längst wiederholte Beweise hat. Ich sage dieses, indem ich bedenke, wie viele Jahre es gebrauchte, bis ich einsah, daß meine Tendenz zur bildenden Kunst eine falsche sei, und wie viele andere, nachdem ich es erkannt, mich davon loszumachen.«

»Aber doch«, sagte ich, »hat Ihnen diese Tendenz so vielen Vorteil gebracht, daß man sie kaum eine falsche nennen möchte.«

»Ich habe an Einsicht gewonnen,« sagte Goethe, »weshalb ich mich auch darüber beruhigen kann. Und das ist der Vorteil, den wir aus jeder falschen Tendenz ziehen. Wer mit unzulänglichem Talent sich in der Musik bemühet, wird freilich nie ein Meister werden, aber er wird dabei lernen, dasjenige zu erkennen und zu schätzen, was der Meister gemacht hat. Trotz aller meiner Bestrebungen bin ich freilich kein Künstler geworden, aber indem ich mich in allen Teilen der Kunst versuchte, habe ich gelernt, von jedem Strich Rechenschaft zu geben und das Verdienstliche vom Mangelhaften zu unterscheiden. Dieses ist kein kleiner Gewinn, so wie denn selten eine falsche Tendenz ohne Gewinn bleibt. So z. B. waren die Kreuzzüge zur Befreiung des Heiligen Grabes offenbar eine falsche Tendenz; aber sie hat das Gute gehabt, daß dadurch die Türken immerfort geschwächt und gehindert worden sind, sich zu Herren von Europa zu machen.«

Wir sprachen noch über verschiedene Dinge, und Goethe erzählte sodann von einem Werk über Peter den Großen von Ségur, das ihm interessant sei und ihm manchen Aufschluß gegeben. »Die Lage von Petersburg«, sagte er, »ist ganz unverzeihlich, um so mehr wenn man bedenkt, daß gleich in der Nähe der Boden sich hebt, und daß der Kaiser die eigentliche Stadt ganz von aller Wassersnot hätte freihalten können, wenn er mit ihr ein wenig höher hinaufgegangen wäre und bloß den Hafen in der Niederung gelassen hätte. Ein alter Schiffer machte ihm auch Gegenvorstellungen und sagte ihm voraus, daß die Population alle siebenzig Jahre ersaufen würde. Es stand auch ein alter Baum da mit verschiedenen Spuren eines hohen Wasserstandes. Aber es war alles umsonst, der Kaiser blieb bei seiner Grille, und den Baum ließ er umhauen, damit er nicht gegen ihn zeugen möchte.

Sie werden gestehen, daß in diesem Verfahren eines so großen Charakters durchaus etwas Problematisches liege. Aber wissen Sie, wie ich es mir erkläre? Der Mensch kann seine Jugendeindrücke nicht los werden, und dieses geht so weit, daß selbst mangelhafte Dinge, woran er sich in solchen Jahren gewöhnt und in deren Umgebung er jene glückliche Zeit gelebt hat, ihm auch später in dem Grade lieb und wert bleiben, daß er darüber wie verblendet ist und er das Fehlerhafte daran nicht einsieht. So wollte denn Peter der Große das liebe Amsterdam seiner Jugend in einer Hauptstadt am Ausflusse der Newa wiederholen; so wie die Holländer immer versucht worden sind, in ihren entfernten Besitzungen ein neues Amsterdam wiederholt zu gründen.«


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