Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Montag, den 23. Juli 1827

Als ich diesen Abend gegen acht Uhr in Goethes Hause anfragte, hörte ich, er sei noch nicht vom Garten zurückgekehrt. Ich ging ihm daher entgegen und fand ihn im Park auf einer Bank unter kühlen Linden sitzen, seinen Enkel Wolfgang an seiner Seite.

Goethe schien sich meiner Annäherung zu freuen und winkte mir, neben ihm Platz zu nehmen. Wir hatten kaum die ersten flüchtigen Reden des Zusammentreffens abgetan, als das Gespräch sich wieder auf Manzoni wendete.

»Ich sagte Ihnen doch neulich,« begann Goethe, »daß unserm Dichter in diesem Roman der Historiker zugute käme, jetzt aber im dritten Bande finde ich, daß der Historiker dem Poeten einen bösen Streich spielt, indem Herr Manzoni mit einem Mal den Rock des Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter Historiker dasteht. Und zwar geschieht dieses bei einer Beschreibung von Krieg, Hungersnot und Pestilenz, welche Dinge schon an sich widerwärtiger Art sind und die nun durch das umständliche Detail einer trockenen chronikenhaften Schilderung unerträglich werden. Der deutsche Übersetzer muß diesen Fehler zu vermeiden suchen, er muß die Beschreibung des Kriegs und der Hungersnot um einen guten Teil, und die der Pest um zwei Dritteil zusammenschmelzen, so daß nur so viel übrig bleibt, als nötig ist, um die handelnden Personen darin zu verflechten. Hätte Manzoni einen ratgebenden Freund zur Seite gehabt, er hätte diesen Fehler sehr leicht vermeiden können. Aber er hatte als Historiker zu großen Respekt vor der Realität. Dies macht ihm schon bei seinen dramatischen Werken zu schaffen, wo er sich jedoch dadurch hilft, daß er den überflüssigen geschichtlichen Stoff als Noten beigibt. In diesem Falle aber hat er sich nicht so zu helfen gewußt und sich von dem historischen Vorrat nicht trennen können. Dies ist sehr merkwürdig. Doch sobald die Personen des Romans wieder auftreten, steht der Poet in voller Glorie wieder da und nötigt uns wieder zu der gewohnten Bewunderung.

Wir standen auf und lenkten unsere Schritte dem Hause zu.

»Man sollte kaum begreifen,« fuhr Goethe fort, »wie ein Dichter wie Manzoni, der eine so bewunderungswürdige Komposition zu machen versteht, nur einen Augenblick gegen die Poesie hat fehlen können. Doch die Sache ist einfach; sie ist diese.

Manzoni ist ein geborener Poet, so wie Schiller einer war. Doch unsere Zeit ist so schlecht, daß dem Dichter im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet. Um sich nun aufzuerbauen, griff Schiller zu zwei großen Dingen: zu Philosophie und Geschichte; Manzoni zur Geschichte allein. Schillers ›Wallenstein‹ ist so groß, daß in seiner Art zum zweiten Mal nicht etwas Ähnliches vorhanden ist; aber Sie werden finden, daß eben diese beiden gewaltigen Hülfen, die Geschichte und Philosophie, dem Werke an verschiedenen Teilen im Wege sind und seinen reinen poetischen Sukzeß hindern. So leidet Manzoni durch ein Übergewicht der Geschichte.«

»Euer Exzellenz«, sagte ich, »sprechen große Dinge aus, und ich bin glücklich, Ihnen zuzuhören.« – »Manzoni«, sagte Goethe, »hilft uns zu guten Gedanken.« Er wollte in Äußerung seiner Betrachtungen fortfahren, als der Kanzler an der Pforte von Goethes Hausgarten uns entgegentrat und so das Gespräch unterbrochen wurde. Er gesellte sich als ein Willkommener zu uns, und wir begleiteten Goethe die kleine Treppe hinauf durch das Büstenzimmer in den länglichen Saal, wo die Rouleaus niedergelassen waren und auf dem Tische am Fenster zwei Lichter brannten. Wir setzten uns um den Tisch, wo dann zwischen Goethe und dem Kanzler Gegenstände anderer Art verhandelt wurden.


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