Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Vorrede

Diese Sammlung von Unterhaltungen und Gesprächen mit Goethe ist größtenteils aus dem mir inwohnenden Naturtriebe entstanden, irgendein Erlebtes, das mir wert oder merkwürdig erscheint, durch schriftliche Auffassung mir anzueignen.

Zudem war ich immerfort der Belehrung bedürftig, sowohl als ich zuerst mit jenem außerordentlichen Manne zusammentraf, als auch nachdem ich bereits jahrelang mit ihm gelebt hatte, und ich ergriff gerne den Inhalt seiner Worte und notierte ihn mir, um ihn für mein ferneres Leben zu besitzen.

Wenn ich aber die reiche Fülle seiner Äußerungen bedenke, die während eines Zeitraumes von neun Jahren mich beglückten, und nun das Wenige betrachte, das mir davon schriftlich aufzufassen gelungen ist, so komme ich mir vor wie ein Kind, das den erquicklichen Frühlingsregen in offenen Händen aufzufangen bemüht ist, dem aber das meiste durch die Finger läuft.

Doch wie man zu sagen pflegt, daß Bücher ihre Schicksale haben, und wie dieses Wort ebensowohl auf ihr Entstehen als auf ihr späteres Hinaustreten in die weite und breite Welt anzuwenden ist, so dürfte es auch von der Entstehung des gegenwärtigen Buches gelten. Monate vergingen oft, wo die Gestirne ungünstig standen, und wo Unbefinden, Geschäfte und mancherlei Bemühungen um die tägliche Existenz keine Zeile aufkommen ließen; dann aber traten wieder günstige Sterne ein, und es vereinigten sich Wohlsein, Muße und Lust zu schreiben, um wieder einen erfreulichen Schritt vorwärts zu tun. Und dann, wo tritt bei einem längeren Zusammenleben nicht mitunter einige Gleichgültigkeit ein, und wo wäre derjenige, der die Gegenwart immer so zu schätzen wüßte, wie sie es verdiente!

Dieses alles erwähne ich besonders aus dem Grunde, um die manchen bedeutenden Lücken zu entschuldigen, die der Leser finden wird, im Fall er etwa so geneigt sein sollte, das Datum zu verfolgen. In solche Lücken fällt manches unterlassene Gute sowie besonders manches günstige Wort, was Goethe über seine weitverbreiteten Freunde sowie über die Werke dieses oder jenes lebenden deutschen Autors gesagt hat, während sich anderes ähnlicher Art notiert findet. Doch wie gesagt: Bücher haben ihre Schicksale schon während sie entstehen.

Übrigens erkenne ich dasjenige, was in diesen Bänden mir gelungen ist zu meinem Eigentum zu machen, und was ich gewissermaßen als den Schmuck meines Lebens zu betrachten habe, mit innigem Dank gegen eine höhere Fügung; ja ich habe sogar eine gewisse Zuversicht, daß auch die Welt mir diese Mitteilung danken werde.

Ich halte dafür, daß diese Gespräche für Leben, Kunst und Wissenschaft nicht allein manche Aufklärung und manche unschätzbare Lehre enthalten, sondern daß diese unmittelbaren Skizzen nach dem Leben auch ganz besonders dazu beitragen werden, das Bild zu vollenden, was man von Goethe aus seinen mannigfaltigen Werken bereits in sich tragen mag.

Weit entfernt aber bin ich auch wiederum, zu glauben, daß hiemit nun der ganze innere Goethe gezeichnet sei. Man kann diesen außerordentlichen Geist und Menschen mit Recht einem vielseitigen Diamanten vergleichen, der nach jeder Richtung hin eine andere Farbe spiegelt. Und wie er nun in verschiedenen Verhältnissen und zu verschiedenen Personen ein anderer war, so kann ich auch in meinem Falle nur in ganz bescheidenem Sinne sagen: dies ist mein Goethe.

Und dieses Wort dürfte nicht bloß davon gelten, wie er sich mir darbot, sondern besonders auch davon, wie ich ihn auf zufassen und wiederzugeben fähig war. Es geht in solchen Fällen eine Spiegelung vor, und es ist sehr selten, daß bei dem Durchgange durch ein anderes Individuum nichts Eigentümliches verloren gehe und nichts Fremdartiges sich heimische. Die körperlichen Bildnisse Goethes von Rauch, Dawe, Stieler und David sind alle in hohem Grade wahr, und doch tragen sie alle mehr oder weniger das Gepräge der Individualität, die sie hervorbrachte. Und wie nun ein solches schon von körperlichen Dingen zu sagen ist, um wie viel mehr wird es von flüchtigen, untastbaren Dingen des Geistes gelten! Wie dem nun aber in meinem Falle auch sei, so werden alle diejenigen, denen aus geistiger Macht oder aus persönlichem Umgange mit Goethe ein Urteil dieses Gegenstandes zusteht, mein Streben nach möglichstes Treue hoffentlich nicht verkennen.

Nach diesen größtenteils die Auffassung des Gegenstandes betreffenden Andeutungen bleibt mir über des Werkes Inhalt selber noch folgendes zu sagen.

Dasjenige, was man das Wahre nennt, selbst in betreff eines einzigen Gegenstandes, ist keineswegs etwas Kleines, Enges, Beschränktes; vielmehr ist es, wenn auch etwas Einfaches, doch zugleich etwas Umfangreiches, das, gleich den mannigfaltigen Offenbarungen eines weit- und tiefgreifenden Naturgesetzes, nicht so leicht zu sagen ist. Es ist nicht abzutun durch Spruch, auch nicht durch Spruch und Spruch, auch nicht durch Spruch und Widerspruch, sondern man gelangt durch alles dieses zusammen erst zu Approximationen, geschweige zum Ziele selber.

So, um nur ein Beispiel anzuführen, tragen Goethes einzelne Äußerungen über Poesie oft den Schein der Einseitigkeit und oft sogar den Schein offenbarer Widersprüche. Bald legt er alles Gewicht auf den Stoff, welchen die Welt gibt, bald alles auf das Innere des Dichters; bald soll alles Heil im Gegenstande liegen, bald alles in der Behandlung; bald soll es von einer vollendeten Form kommen, bald, mit Vernachlässigung aller Form, alles vom Geiste.

Alle diese Aus- und Widersprüche aber sind sämtlich einzelne Seiten des Wahren und bezeichnen zusammen das Wesen und führen zur Annäherung der Wahrheit selber, und ich habe mich daher sowohl in diesen als ähnlichen Fällen wohl gehütet, dergleichen scheinbare Widersprüche, wie sie durch verschiedenartige Anlässe und den Verlauf ungleicher Jahre und Stunden hervorgerufen worden, bei dieser Herausgabe zu unterdrücken. Ich vertraue dabei auf die Einsicht und Übersicht des gebildeten Lesers, der sich durch etwas Einzelnes nicht irren lassen, sondern das Ganze im Auge halten und alles gehörig zurechtlegen und vereinigen werde.

Ebenso wird man vielleicht auf manches stoßen, was beim ersten Anblick den Schein des Unbedeutenden hat. Sollte man aber tiefer blickend bemerken, daß solche unbedeutende Anlässe oft Träger von etwas Bedeutendem sind, auch oft etwas Spätervorkommendes begründen, oder auch dazu beitragen irgendeinen kleinen Zug zur Charakterzeichnung hinzuzutun, so dürften sie, als eine Art von Notwendigkeit, wo nicht geheiliget, doch entschuldiget werden.

Und somit sage ich nun diesem lange gehegten Buche zu seinem Hinaustritt in die Welt das beste Lebewohl, und wünsche ihm das Glück, angenehm zu sein und mancherlei Gutes anzuregen und zu verbreiten.

Weimar, den 31. Oktober 1835.


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