Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Sonntag, den 13. Februar 1831

Bei Goethe zu Tisch. Er erzählt mir, daß er im vierten Akt des ›Faust‹ fortfahre und daß ihm jetzt der Anfang so gelungen, wie er es gewünscht. »Das, was geschehen sollte,« sagte er, »hatte ich, wie Sie wissen, längst; allein mit dem Wie war ich noch nicht ganz zufrieden, und da ist es mir nun lieb, daß mir gute Gedanken gekommen sind. Ich werde nun diese ganze Lücke, von der Helena bis zum fertigen fünften Akt, durcherfinden und in einem ausführlichen Schema niederschreiben, damit ich sodann mit völligem Behagen und Sicherheit ausführen und an den Stellen arbeiten kann, die mich zunächst anmuten. Dieser Akt bekommt wieder einen ganz eigenen Charakter, so daß er, wie eine für sich bestehende kleine Welt, das übrige nicht berührt und nur durch einen leisen Bezug zu dem Vorhergehenden und Folgenden sich dem Ganzen anschließt.«

»Er wird also«, sagte ich, »völlig im Charakter des übrigen sein; denn im Grunde sind doch der Auerbachsche Keller, die Hexenküche, der Blocksberg, der Reichstag, die Maskerade, das Papiergeld, das Laboratorium, die Klassische Walpurgisnacht, die Helena, lauter für sich bestehende kleine Weltenkreise, die, in sich abgeschlossen, wohl aufeinander wirken, aber doch einander wenig angehen. Dem Dichter liegt daran, eine mannigfaltige Welt auszusprechen, und er benutzt die Fabel eines berühmten Helden bloß als eine Art von durchgehender Schnur, um darauf aneinander zu reihen, was er Lust hat. Es ist mit der ›Odyssee‹ und dem ›Gil-Blas‹ auch nicht anders.«

»Sie haben vollkommen recht,« sagte Goethe; »auch kommt es bei einer solchen Komposition bloß darauf an, daß die einzelnen Massen bedeutend und klar seien, während es als ein Ganzes immer inkommensurabel bleibt, aber eben deswegen, gleich einem unaufgelösten Problem, die Menschen zu wiederholter Betrachtung immer wieder anlockt.«

Ich erzählte sodann von dem Brief eines jungen Militärs, dem ich, nebst anderen Freunden, geraten hatte, in ausländische Dienste zu gehen, und der nun, da er die fremden Zustände nicht nach seinem Sinne gefunden, auf alle diejenigen schilt, die ihm geraten.

»Es ist mit dem Ratgeben ein eigenes Ding,« sagte Goethe, »und wenn man eine Weile in der Welt gesehen hat, wie die gescheitesten Dinge mißlingen und das Absurdeste oft zu einem glücklichen Ziele führt, so kommt man wohl davon zurück, jemanden einen Rat erteilen zu wollen. Im Grunde ist es auch von dem, der einen Rat verlangt, eine Beschränktheit, und von dem, der ihn gibt, eine Anmaßung. Man sollte nur Rat geben in Dingen, in denen man selber mitwirken will. Bittet mich ein anderer um guten Rat, so sage ich wohl, daß ich bereit sei, ihn zu geben, jedoch nur mit dem Beding, daß er versprechen wolle, nicht danach zu handeln.«

Das Gespräch lenkte sich auf das Neue Testament, indem ich erzählte, daß ich die Stelle nachgelesen, wo Christus auf dem Meere wandelt und Petrus ihm entgegengeht. »Wenn man die Evangelisten lange nicht gelesen,« sagte ich, »so erstaunt man immer wieder über die sittliche Großheit der Figuren. Man findet in den hohen Anforderungen an unsere moralische Willenskraft auch eine Art von kategorischem Imperativ.«

»Besonders«, sagte Goethe, »finden Sie den kategorischen Imperativ des Glaubens, welches sodann Mahomet noch weiter getrieben hat.«

»Übrigens«, sagte ich, »sind die Evangelisten, wenn man sie näher ansieht, voller Abweichungen und Widersprüche, und die Bücher müssen wunderliche Schicksale gehabt haben, ehe sie so beisammen gebracht sind, wie wir sie nun haben.«

» Es ist ein Meer auszutrinken,« sagte Goethe, »wenn man sich in eine historische und kritische Untersuchung dieserhalb einläßt. Man tut immer besser, sich ohne weiteres an das zu halten, was wirklich da ist, und sich davon anzueignen, was man für seine sittliche Kultur und Stärkung gebrauchen kann. Übrigens ist es hübsch, sich die Lokalität deutlich zu machen, und da kann ich Ihnen nichts Besseres empfehlen, als das herrliche Buch von Röhr über Palästina. Der verstorbene Großherzog hatte über dieses Buch eine solche Freude, daß er es zweimal kaufte, indem er das erste Exemplar, nachdem er es gelesen, der Bibliothek schenkte und das andere für sich behielt, um es immer in seiner Nähe zu haben.«

Ich wunderte mich über des Großherzogs Teilnahme an solchen Dingen. »Darin«, sagte Goethe, »war er groß. Er hatte Interesse für alles, wenn es einigermaßen bedeutend war, es mochte nun in ein Fach schlagen, in welches es wollte. Er war immer vorschreitend, und was in der Zeit irgend an guten neuen Erfindungen und Einrichtungen hervortrat, suchte er bei sich einheimisch zu machen. Wenn etwas mißlang, so war davon weiter nicht die Rede. Ich dachte oft, wie ich dies oder jenes Verfehlte bei ihm entschuldigen wollte, allein er ignorierte jedes Mißlingen auf die heiterste Weise und ging immer sogleich wieder auf etwas Neues los. Es war dieses eine eigene Größe seines Wesens, und zwar nicht durch Bildung gewonnen, sondern angeboren.«

Zum Nachtisch betrachteten wir einige Kupfer nach neuesten Meistern, besonders im landschaftlichen Fach, wobei mit Freuden bemerkt wurde, daß daran nichts Falsches wahrzunehmen. »Es ist seit Jahrhunderten so viel Gutes in der Welt,« sagte Goethe, »daß man sich billig nicht wundern sollte. wenn es wirkt und wieder Gutes hervorruft.«

»Es ist nur das Üble,« sagte ich, »daß es so viele falsche Lehren gibt, und daß ein junges Talent nicht weiß, welchem Heiligen es sich widmen soll.«

»Davon haben wir Proben,« sagte Goethe »wir haben ganze Generationen an falschen Maximen verloren gehen und leiden sehen, und haben selber darunter gelitten. Und nun in unsern Tagen die Leichtigkeit, jeden Irrtum durch den Druck sogleich allgemein predigen zu können! Mag ein solcher Kunstrichter nach einigen Jahren auch besser denken, und mag er auch seine bessere Überzeugung öffentlich verbreiten, seine Irrlehre hat doch unterdes gewirkt und wird auch künftig gleich einem Schlingkraut neben dem Guten immer fortwirken. Mein Trost ist nur, daß ein wirklich großes Talent nicht irrezuleiten und nicht zu verderben ist.«

Wir betrachteten die Kupfer weiter. »Es sind wirklich gute Sachen,« sagte Goethe; »Sie sehen reine hübsche Talente, die was gelernt und die sich Geschmack und Kunst in bedeutendem Grade angeeignet haben. Allein doch fehlet diesen Bildern allen etwas, und zwar: das Männliche. – Merken Sie sich dieses Wort, und unterstreichen Sie es. Es fehlt den Bildern eine gewisse zudringliche Kraft, die in früheren Jahrhunderten sich überall aussprach und die dem jetzigen fehlt, und zwar nicht bloß in Werken der Malerei, sondern auch in allen übrigen Künsten. Es lebt ein schwächeres Geschlecht, von dem sich nicht sagen läßt, ob es so ist durch die Zeugung oder durch eine schwächere Erziehung und Nahrung.«

»Man sieht aber dabei,« sagte ich, »wie viel in den Künsten auf eine große Persönlichkeit ankommt, die freilich in früheren Jahrhunderten besonders zu Hause war. Wenn man in Venedig vor den Werken von Tizian und Paul Veronese steht, so empfindet man den gewaltigen Geist dieser Männer in ihrem ersten Aperçu von dem Gegenstande, wie in der letzten Ausführung. Ihr großes energisches Empfinden hat die Glieder des ganzen Bildes durchdrungen, und diese höhere Gewalt der künstlerischen Persönlichkeit dehnet unser eigenes Wesen aus und erhebt uns über uns selbst, wenn wir solche Werke betrachten. Dieser männliche Geist, von dem Sie sagen, findet sich auch ganz besonders in den Rubensschen Landschaften. Es sind freilich auch nur Bäume, Erdboden, Wasser, Felsen und Wolken, allein seine kräftige Gesinnung ist in die Formen gefahren, und so sehen wir zwar immer die bekannte Natur, allein wir sehen sie von der Gewalt des Künstlers durchdrungen und nach seinem Sinne von neuem hervorgebracht.«

»Allerdings«, sagte Goethe, »ist in der Kunst und Poesie die Persönlichkeit alles; allein doch hat es unter den Kritikern und Kunstrichtern der neuesten Zeit schwache Personnagen gegeben, die dieses nicht zugestehen und die eine große Persönlichkeit, bei einem Werke der Poesie oder Kunst, nur als eine Art von geringer Zugabe wollten betrachtet wissen.

Aber freilich, um eine große Persönlichkeit zu empfinden und zu ehren, muß man auch wiederum selber etwas sein. Alle, die dem Euripides das Erhabene abgesprochen, waren arme Heringe und einer solchen Erhebung nicht fähig; oder sie waren unverschämte Scharlatane, die durch Anmaßlichkeit in den Augen einer schwachen Welt mehr aus sich machen wollten und auch wirklich machten, als sie waren.«


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