Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Sonntag, den 4. Januar 1824

Heute nach Tische ging Goethe mit mir das Portefeuille von Raffael durch. Er beschäftigt sich mit Raffael sehr oft, um sich immerfort im Verkehr mit dem Besten zu erhalten und sich immerfort zu üben, die Gedanken eines hohen Menschen nachzudenken. Dabei macht es ihm Freude, mich in ähnliche Dinge einzuführen.

Hernach sprachen wir über den ›Divan‹, besonders über das ›Buch des Unmuts‹, worin manches ausgeschüttet, was er gegen seine Feinde auf dem Herzen hatte.

»Ich habe mich übrigens sehr mäßig gehalten,« fügte er hinzu; »wenn ich alles hätte aussprechen wollen, was mich wurmte und mir zu schaffen machte, so hätten die wenigen Seiten wohl zu einem ganzen Bande anwachsen können.

Man war im Grunde nie mit mir zufrieden und wollte mich immer anders, als es Gott gefallen hatte mich zu machen. Auch war man selten mit dem zufrieden, was ich hervorbrachte. Wenn ich mich Jahr und Tag mit ganzer Seele abgemüht hatte, der Welt mit einem neuen Werke etwas zuliebe zu tun, so verlangte sie, daß ich mich noch obendrein bei ihr bedanken sollte, daß sie es nur erträglich fand. Lobte man mich, so sollte ich das nicht in freudigem Selbstgefühl als einen schuldigen Tribut hinnehmen, sondern man erwartete von mir irgendeine ablehnende bescheidene Phrase, worin ich demütig den völligen Unwert meiner Person und meines Werkes an den Tag lege. Das aber widerstrebte meiner Natur, und ich hätte müssen ein elender Lump sein, wenn ich so hätte heucheln und lügen wollen. Da ich nun aber stark genug war, mich in ganzer Wahrheit so zu zeigen, wie ich fühlte, so galt ich für stolz und gelte noch so bis auf den heutigen Tag.

In religiösen Dingen, in wissenschaftlichen und politischen, überall machte es mir zu schaffen, daß ich nicht heuchelte, und daß ich den Mut hatte, mich auszusprechen wie ich empfand.

Ich glaubte an Gott und die Natur und an den Sieg des Edlen über das Schlechte; aber das war den frommen Seelen nicht genug, ich sollte auch glauben, daß Drei Eins sei und Eins Drei; das aber widerstrebte dem Wahrheitsgefühl meiner Seele; auch sah ich nicht ein, daß mir damit auch nur im mindesten wäre geholfen gewesen.

Ferner bekam es mir schlecht, daß ich einsah, die Newtonische Lehre vom Licht und der Farbe sei ein Irrtum, und daß ich den Mut hatte, dem allgemeinen Credo zu widersprechen. Ich erkannte das Licht in seiner Reinheit und Wahrheit, und ich hielt es meines Amtes, dafür zu streiten. Jene Partei aber trachtete in allem Ernst, das Licht zu verfinstern, denn sie behauptete: das Schattige sei ein Teil des Lichtes. Es klingt absurd, wenn ich es so ausspreche, aber doch ist es so. Denn man sagte: die Farben, welche doch ein Schattiges und Durchschattetes sind, seien das Licht selber, oder, was auf eins hinauskommt, sie seien des Lichtes bald so und bald so gebrochene Strahlen

Goethe schwieg, während auf seinem bedeutenden Gesicht ein ironisches Lächeln verbreitet war. Er fuhr fort:

»Und nun gar in politischen Dingen! Was ich da für Not und was ich da zu leiden gehabt, mag ich gar nicht sagen. Kennen Sie meine ›Aufgeregten‹?«

»Erst gestern«, erwiderte ich, »habe ich wegen der neuen Ausgabe Ihrer Werke das Stück gelesen und von Herzen bedauert, daß es unvollendet geblieben. Aber wie es auch ist, so wird sich jeder Wohldenkende zu Ihrer Gesinnung bekennen.«

»Ich schrieb es zur Zeit der Französischen Revolution,« fuhr Goethe fort, »und man kann es gewissermaßen als mein politisches Glaubensbekenntnis jener Zeit ansehen. Als Repräsentanten des Adels hatte ich die Gräfin hingestellt und mit den Worten, die ich ihr in den Mund gelegt, ausgesprochen, wie der Adel eigentlich denken soll. Die Gräfin kommt soeben aus Paris zurück, sie ist dort Zeuge der revolutionären Vorgänge gewesen und hat daraus für sich selbst keine schlechte Lehre gezogen. Sie hat sich überzeugt, daß das Volk wohl zu drücken, aber nicht zu unterdrücken ist, und daß die revolutionären Aufstände der unteren Klassen eine Folge der Ungerechtigkeiten der Großen sind. Jede Handlung, die mir unbillig scheint, sagt sie, will ich künftig streng vermeiden, auch werde ich über solche Handlungen anderer, in der Gesellschaft und bei Hofe, meine Meinung laut sagen. Zu keiner Ungerechtigkeit will ich mehr schweigen, und wenn ich auch unter dem Namen einer Demokratin verschrieen werden sollte.

Ich dächte,« fuhr Goethe fort, »diese Gesinnung wäre durchaus respektabel. Sie war damals die meinige und ist es noch jetzt. Zum Lohne dafür aber belegte man mich mit allerlei Titeln, die ich nicht wiederholen mag.«

»Man braucht nur den ›Egmont‹ zu lesen,« versetzte ich, »um zu erfahren, wie Sie denken. Ich kenne kein deutsches Stück, wo der Freiheit des Volkes mehr das Wort geredet würde als in diesem.«

»Man beliebt einmal«, erwiderte Goethe, »mich nicht so sehen zu wollen, wie ich bin, und wendet die Blicke von allem hinweg, was mich in meinem wahren Lichte zeigen könnte. Dagegen hat Schiller, der, unter uns, weit mehr ein Aristokrat war als ich, der aber weit mehr bedachte, was er sagte, als ich, das merkwürdige Glück, als besonderer Freund des Volkes zu gelten. Ich gönne es ihm von Herzen und tröste mich damit, daß es anderen vor mir nicht besser gegangen.

Es ist wahr, ich konnte kein Freund der Französischen Revolution sein, denn ihre Greuel standen mir zu nahe und empörten mich täglich und stündlich, während ihre wohltätigen Folgen damals noch nicht zu ersehen waren. Auch konnte ich nicht gleichgültig dabei sein, daß man in Deutschland künstlicher Weise ähnliche Szenen herbeizuführen trachtete, die in Frankreich Folge einer großen Notwendigkeit waren.

Ebensowenig aber war ich ein Freund herrischer Willkür. Auch war ich vollkommen überzeugt, daß irgendeine große Revolution nie Schuld des Volkes ist, sondern der Regierung. Revolutionen sind ganz unmöglich, sobald die Regierungen fortwährend gerecht und fortwährend wach sind, so daß sie ihnen durch zeitgemäße Verbesserungen entgegenkommen und sich nicht so lange sträuben, bis das Notwendige von unten her erzwungen wird.

Weil ich nun aber die Revolutionen haßte, so nannte man mich einen Freund des Bestehenden. Das ist aber ein sehr zweideutiger Titel, den ich mir verbitten möchte. Wenn das Bestehende alles vortrefflich, gut und gerecht wäre, so hätte ich gar nichts dawider. Da aber neben vielem Guten zugleich viel Schlechtes, Ungerechtes und Unvollkommenes besteht, so heißt ein Freund des Bestehenden oft nicht viel weniger als ein Freund des Veralteten und Schlechten.

Die Zeit aber ist in ewigem Fortschreiten begriffen, und die menschlichen Dinge haben alle funfzig Jahre eine andere Gestalt, so daß eine Einrichtung, die im Jahre 1800 eine Vollkommenheit war, schon im Jahre 1850 vielleicht ein Gebrechen ist.

Und wiederum ist für eine Nation nur das gut, was aus ihrem eigenen Kern und ihrem eigenen allgemeinen Bedürfnis hervorgegangen, ohne Nachäffung einer anderen. Denn was dem einen Volk auf einer gewissen Altersstufe eine wohltätige Nahrung sein kann, erweist sich vielleicht für ein anderes als ein Gift. Alle Versuche, irgendeine ausländische Neuerung einzuführen, wozu das Bedürfnis nicht im tiefen Kern der eigenen Nation wurzelt, sind daher töricht und alle beabsichtigten Revolutionen solcher Art ohne Erfolg; denn sie sind ohne Gott, der sich von solchen Pfuschereien zurückhält. Ist aber ein wirkliches Bedürfnis zu einer großen Reform in einem Volke vorhanden, so ist Gott mit ihm und sie gelingt. Er war sichtbar mit Christus und seinen ersten Anhängern, denn die Erscheinung der neuen Lehre der Liebe war den Völkern ein Bedürfnis; er war ebenso sichtbar mit Luthern, denn die Reinigung jener durch Pfaffenwesen verunstalteten Lehre war es nicht weniger. Beide genannten großen Kräfte aber waren nicht Freunde des Bestehenden; vielmehr waren beide lebhaft durchdrungen, daß der alte Sauerteig ausgekehrt werden müsse, und daß es nicht ferner im Unwahren, Ungerechten und Mangelhaften so fortgehen und bleiben könne.«


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