Johann Peter Eckermann
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Johann Peter Eckermann

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Freitag, den 5. März 1830*

Eine nahe Verwandte der Jugendgeliebten Goethes, Fräulein von Türkheim, war einige Zeit in Weimar. Ich drückte heute gegen Goethe mein Bedauern über ihre Abreise aus. »Sie ist so jung«, sagte ich, »und zeigt eine so erhabene Gesinnung und einen so reifen Geist, wie man ihn bei solchem Alter selten findet. Ihr Erscheinen hat überhaupt in Weimar großen Eindruck gemacht. Wäre sie länger geblieben, sie hätte für manchen gefährlich werden können.«

»Wie sehr tut es mir leid,« erwiderte Goethe, »daß ich sie nicht öfter gesehen und daß ich anfänglich immer verschoben habe sie einzuladen, um mich ungestört mit ihr zu unterhalten und die geliebten Züge ihrer Verwandten in ihr wieder aufzusuchen.

Der vierte Band von ›Wahrheit und Dichtung‹,« fuhr er fort, »wo Sie die jugendliche Glücks- und Leidensgeschichte meiner Liebe zu Lili erzählt finden werden, ist seit einiger Zeit vollendet. Ich hätte ihn längst früher geschrieben und herausgegeben, wenn mich nicht gewisse zarte Rücksichten gehindert hätten, und zwar nicht Rücksichten gegen mich selber, sondern gegen die damals noch lebende Geliebte. Ich wäre stolz gewesen, es der ganzen Welt zu sagen, wie sehr ich sie geliebt; und ich glaube, sie wäre nicht errötet zu gestehen, daß meine Neigung erwidert wurde. Aber hatte ich das Recht, es öffentlich zu sagen ohne ihre Zustimmung? Ich hatte immer die Absicht, sie darum zu bitten; doch zögerte ich damit hin, bis es denn endlich nicht mehr nötig war.

Indem Sie«, fuhr Goethe fort, »mit solchem Anteil über das liebenswürdige junge Mädchen reden, das uns jetzt verläßt, erwecken Sie in mir alle meine alten Erinnerungen. Ich sehe die reizende Lili wieder in aller Lebendigkeit vor mir, und es ist mir, als fühlte ich wieder den Hauch ihrer beglückenden Nähe. Sie war in der Tat die erste, die ich tief und wahrhaft liebte. Auch kann ich sagen, daß sie die letzte gewesen; denn alle kleinen Neigungen, die mich in der Folge meines Lebens berührten, waren, mit jener verglichen, nur leicht und oberflächlich.

Ich bin«, fuhr Goethe fort, »meinem eigentlichen Glücke nie so nahe gewesen, als in der Zeit jener Liebe zu Lili. Die Hindernisse, die uns auseinander hielten, waren im Grunde nicht unübersteiglich, – und doch ging sie mir verloren.

Meine Neigung zu ihr hatte etwas so Delikates und etwas so Eigentümliches, daß es jetzt in Darstellung jener schmerzlich-glücklichen Epoche auf meinen Stil Einfluß gehabt hat. Wenn Sie künftig den vierten Band von ›Wahrheit und Dichtung‹ lesen, so werden Sie finden, daß jene Liebe etwas ganz anderes ist, als eine Liebe in Romanen.«

»Dasselbige«, erwiderte ich, »könnte man auch von Ihrer Liebe zu Gretchen und Friederike sagen. Die Darstellung von beiden ist gleichfalls so neu und originell, wie die Romanschreiber dergleichen nicht erfinden und ausdenken. Es scheint dieses von der großen Wahrhaftigkeit des Erzählers herzurühren, der das Erlebte nicht zu bemänteln gesucht, um es zu größerem Vorteil erscheinen zu lassen, und der jede empfindsam Phrase vermieden, wo schon die einfache Darlegung der Ereignisse genügte.

Auch ist die Liebe selbst«, fügte ich hinzu, »sich niemals gleich; sie ist stets original und modifiziert sich stets nach dem Charakter und der Persönlichkeit derjenigen, die wir lieben.«

»Sie haben vollkommen recht,« erwiderte Goethe; »denn nicht bloß wir sind die Liebe, sondern es ist auch das uns anreizende liebe Objekt. Und dann, was nicht zu vergessen, kommt als ein mächtiges Drittes noch das Dämonische hinzu, das jede Leidenschaft zu begleiten pflegt und das in der Liebe sein eigentliches Element findet. In meinem Verhältnis zu Lili war es besonders wirksam; es gab meinem ganzen Leben eine andere Richtung, und ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß meine Herkunft nach Weimar und mein jetziges Hiersein davon eine unmittelbare Folge war.«


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